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Tagesanbruch: Brexit-Drama in Großbritannien – Zeit für ein zweites Referendum


Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 29.01.2019Lesedauer: 7 Min.
Brexit-Gegner vor dem Parlament in London.Vergrößern des Bildes
Brexit-Gegner vor dem Parlament in London. (Quelle: Alastair Grant/ap)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Bundestagsabgeordneter, Parlamentarischer Geschäftsführer, Fraktionsvorsitzender, Chef des Bundeskanzleramts, CDU-Vorsitzender, Innenminister, Finanzminister: Wolfgang Schäuble hat eine eindrucksvolle politische Karriere gemacht und stets Freude an Formulierungen gefunden, die seine Zuhörer erst beim zweiten Hinhören verstehen ließen, was er meinte. Dann aber traf seine Kritik oft umso schonungsloser. In seinem heutigen Amt als Bundestagspräsident äußert sich Schäuble nur noch selten und dann meist verklausuliert zur Tagespolitik, was dem überparteilichen Amt angemessen, aber trotzdem schade ist.

Umso mehr habe ich mich gestern Abend gefreut, als ich Schäuble auf einer Veranstaltung der "Wirtschaftswoche" lauschen durfte. Der 76-Jährige brauchte sich gar nicht erst in Schwung zu reden. Auch die Interviewfragen des Gastgebers brauchte er eigentlich nicht. Er redete sofort drauflos, und er tat dies in altbekannter Schäublehaftigkeit. So hörte ich Sätze eines hellwachen Geistes, der Deutschlands Position in der Welt mit Sorge, aber ohne Fatalismus betrachtet. Eines Denkers, den die zunehmende Radikalisierung in unserer Gesellschaft beunruhigt, und der überzeugt ist, dass jeder Bürger seinen Teil dazu beitragen sollte, den demokratischen Prozess immer wieder aufs Neue zu beleben. Eines erfahrenen Staatsmannes, der fordert, dass die verantwortlichen Politiker die anstehenden Probleme entschlossener anpacken müssen. Die wichtigsten Zitate habe ich für Sie mitgeschrieben:

Schäuble auf die Frage, warum sich die deutsche Politik mit beherzten Reformen so schwer tue: "Wir waren in Deutschland relativ lange erfolgreich. Erfolg macht immer müde."

Zur Dieseldebatte: "Wenn wir das Thema so weiterbetreiben, befördert das die Politikverdrossenheit. Die Politik zu beschimpfen, greift aber viel zu kurz." … "Wir haben die Fähigkeit verloren, Menschenverstand in praktischen Dingen einzubringen. Das sehen wir zum Beispiel an den Messstellen in Innenstädten: Die sind mit deutscher Perfektion aufgestellt …" (Gefolgt von einem vielsagenden Schweigen.)

Zur demokratischen Bürgerkultur in Deutschland: "Wenn wir uns zur Anlieger-Demokratie entwickeln – wenn also jedem alles Wurst ist, was ihn nicht unmittelbar betrifft – dann wird das nicht gut gehen." … "Wir müssen in der öffentlichen Debatte wieder das Gefühl dafür gewinnen, was wirklich wichtig ist. Wir brauchen Mut, Zuversicht, aber auch mehr Gelassenheit!" … "Wenn wir nur noch in sozialen Netzwerken diskutieren, findet das, was man eigentlich für eine Demokratie braucht, nicht mehr statt: der öffentliche Diskurs. Wie wollen Sie eine Gesellschaft organisieren, in der die Menschen nur noch virtuelle Debatten führen?"

Zur Digitalisierung: "Die deutsche Infrastruktur, auch die digitale, ist ein riesiges Problem. Da müssen wir dringend schneller vorankommen!" … "Wir müssen noch mehr in Bildung, besonders in digitale Bildung investieren. Da liegt unsere Zukunft!"

Zum Brexit: "Dass Großbritannien die EU verlassen will, ist unter jeglichem denkbarem Umstand ein großer Verlust für Europa. Die Briten sind uns näher als manche mediterranen Länder." … "Ich hoffe noch immer, dass sich eine ungeordnete Situation vermeiden lässt. Der Grundgedanke eines Deals muss jetzt sein: Wir lassen die Briten erst mal in Ruhe, machen mal ein paar Jahre nichts, dann kühlen sich die Gemüter ab. Und danach schaut man sich noch mal in Ruhe Formen an, die andernorts funktionieren – wie in Norwegen und der Schweiz."

Zur Globalisierung: "Es darf nicht so sein, dass wir nur noch die Wahl zwischen dem Wirtschaftsmodell Chinas und dem des Silicon Valleys haben. Wir müssen schneller, handlungsfähiger, effizienter werden!"

Zur Sicherheitspolitik und der im Aachener Vertrag beschlossenen engeren militärischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich: "Entweder wir importieren unsere Sicherheit von den Amerikanern, von den Russen, von den Chinesen – oder wir kriegen sie jetzt eben selbst hin."

Zur Kritik an den Schülerprotesten für eine bessere Klimaschutzpolitik: "Jetzt diskutieren wir in Deutschland schon wieder darüber, dass die Schüler in ihrer Freizeit demonstrieren sollen. Das ist ja albern. Eine Demonstration, die nichts kostet, ist auch nicht so viel wert."

Selbst wenn man nicht jedem Satz zustimmt: Ginge es nach mir, dürfte Wolfgang Schäuble gern öfter frei drauflos reden.

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Wir befinden uns im Jahre 2019 nach Christus. Ganz Stuttgart ist von Baggern besetzt. Ganz Stuttgart? Nein! Ein von unbeugsamen Schwaben bevölkertes Lager hört nicht auf, den Geldverschwendern Widerstand zu leisten." So könnte die süddeutsche Variante eines Ihnen vermutlich wohlbekannten Comics beginnen. Gestern haben die Unbeugsamen ihre 450. Montagsdemonstration gegen Stuttgart 21 durchgeführt. Weil sie sich nicht damit abfinden wollen, dass das Bahnhofsprojekt völlig aus dem Ruder gelaufen ist und jeden Kosten- und Vernunftrahmen sprengt. Weil sie überzeugt sind, dass man größenwahnsinnige Politiker, kurzsichtige Bahnmanager und rücksichtslose Spekulanten nicht einfach so davonkommen lassen darf. Weil sie glauben, dass Bürger widersprechen sollten, wenn ihr Steuergeld ohne Sinn und Verstand verbuddelt wird. Weil sie darauf beharren, dass Protest ein Bürgerrecht ist. Und weil sie damit recht haben.

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WAS STEHT AN?

Falls Sie dachten, nun ist’s aber mal gut mit dem Brexit-Drama, muss ich Ihnen leider sagen: Nix ist gut, und heute wird’s noch dramatischer. Immerhin dürfte inzwischen eines klar sein: Egal, wie jemand damals beim Referendum abgestimmt hat, die Mehrheit der Briten hätte sich das Ergebnis des Trennungsprozesses vermutlich anders vorgestellt. Dass der Streit zwischen Regierung und Parlament, zwischen Premierministerin und Ministern, zwischen London und Brüssel das Land politisch lähmt, dass immer mehr Unternehmen aufs europäische Festland wegziehen, dass der Nordirland-Konflikt wieder aufflammt, dass die komplizierten Details des Trennungsvertrags Großbritannien eher zum Nach- als zum Vorteil gereichen, dass ein Staat in einer globalisierten Welt allein nun mal schwächer ist als in einem Bündnis mit anderen Ländern: All diese Erkenntnisse waren im Juni 2016 augenscheinlich den meisten Briten nicht klar.

Wie kann dieses gelähmte Land sich nun wieder aufraffen? Premierministerin Theresa May hat mit ihrem bockbeinigen Gebaren Freund und Feind verprellt. Ihr erster Brexit-Plan ist tot. Ihr zweiter Plan (der sich kaum vom ersten unterscheidet) wird vermutlich heute Nachmittag im Parlament sterben. Die überzeugten Brexit-Fans tun nichts anderes, als jedes Dialogangebot mit noch lauteren Austrittsforderungen niederzukrähen. Die parteiübergreifende Initiative einiger Parlamentarier zur Verschiebung des Austrittstermins um neun Monate könnte hingegen einen Ausweg weisen. Er böte allen politischen Kräften, die nicht ausschließlich an ihrer eigenen Profilierung, sondern an einer konstruktiven Lösung interessiert sind (also nicht Boris Johnson heißen), eine geradezu historische Gelegenheit: Sie könnten sich beruhigen, ein schönes Glas Gin Tonic trinken und nachdenken. Einen Abend, eine Woche, einen Monat lang, wenn nötig noch länger. Sie könnten sich klarmachen, worum es für ihr Land geht. Womöglich erscheinen dann die grellen Parolen der Brexiteers in einem anderen Licht.

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Ich denke, in Wahrheit geht es darum, ob Großbritannien sich in einem kraft-, einfluss- und nervenzehrenden Prozess tatsächlich vom mächtigsten Staatenbündnis der Welt abkoppeln und damit selbst der Chance berauben will, wirtschaftlich und politisch stark zu bleiben. In Wahrheit geht es um nichts weniger als um eine große Frage: Nachdem der Verhandlungsprozess mit Brüssel nun schonungslos die vielen Nachteile aufgezeigt hat, die der Brexit den Briten bescheren würde – ist die Mehrheit der Bürger immer noch davon überzeugt, dass sich der Austritt aus der EU wirklich lohnt? Es gibt nur einen Weg, um dies herauszufinden: ein zweites Referendum – mit dem entscheidenden Unterschied zum ersten, dass die meisten Menschen nun wohl sehr viel klarer vor Augen haben, was der Ausstieg bedeutet. Eine erneute Abstimmung würde den demokratischen Prozesses nicht missachten, sondern im Gegenteil die demokratische Kultur adeln. Folgenschwere Entscheidungen von historischer Tragweite kann nur treffen, wer nicht nur auf der Zunge, sondern auch im Kopf gut gerüstet ist. Noch einen Satz von Wolfgang Schäuble habe ich mir gestern notiert: "Politik ist immer Entscheiden zwischen Alternativen." Vielleicht liest ihn ja der eine oder andere dort oben auf der Insel.

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ZAHL DES TAGES

Drei Milliarden Dollar:So viel kostete der Regierungsstillstand in Washington die amerikanische Wirtschaft. Das ist mehr als die Hälfte des Betrags, den Herr Trump für seine Mauer an der Grenze zu Mexiko bräuchte. Falls die nun angesetzten Verhandlungen mit den Demokraten scheitern und es in zweieinhalb Wochen nochmals einen "Shutdown" gibt, werden die 5,7 Milliarden vielleicht noch voll. Treppenwitz der Geschichte nennt man das dann wohl.

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In Berlin stehen heute drei interessante Termine an:

Wie ist es um die Truppe bestellt? Der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels übergibt dem Bundestag seinen Jahresbericht zur Lage der Bundeswehr.

Die Organisation Transparency International stellt ihren Korruptionswahrnehmungsindex vor. Das Ranking zeigt die Entwicklung der in Politik, Verwaltung und Wirtschaft wahrgenommenen Korruption in Deutschland und 179 weiteren Staaten. So oft ich unserem Land eine Spitzenposition wünsche, diesmal verzichte ich darauf.

Forscher der Wissenschaftsakademien in Berlin, Göttingen, Leipzig und Mainz erstellen das größte digitale Lexikon der deutschen Sprache; so wollen sie den gesamten deutschen Wortschatz in Geschichte und Gegenwart dokumentieren. Heute findet die Auftaktveranstaltung statt. Wenn ich dürfte, würde ich drei meiner Lieblingswörter beisteuern: Pustekuchen, Augenschmaus und … Tagesanbruch.

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WAS LESEN?

An mehr als 30.000 Unfällen, bei denen Menschen zu Schaden kommen, sind Lkw beteiligt – pro Jahr. Das ist die erste Zahl, die man kennen sollte, wenn man die Bilder der gestrigen Polizeiaktion auf Autobahnparkplätzen in Hessen sieht: Die Beamten haben dort 1.200 Lastwagenfahrer kontrolliert. Der zweite Zahlenwert lautet: fast ein Sechstel. So viele der getesteten Brummifahrer hatten Alkohol getrunken. Der Fahrer eines Gefahrguttransporters mit Salpetersäure wurde gar mit 1,5 Promille im Blut erwischt. Wenn ich solche Zahlen lese, kommen mir Bilder von Autowracks und blinkenden Blaulichtern in den Sinn. Und dann denke ich, dass es eine gute Idee wäre, über die Einführung von Autolock-Systemen zu diskutieren. Wäre doch sinnvoll, oder?

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WAS AMÜSIERT MICH?

So, so, die Bundesregierung hat sich also zu einer klaren Haltung beim Tempolimit auf Autobahnen durchgerungen – aber wie sähe eigentlich ein Kompromiss aus, der es wirklich allen Bürgern recht macht?

Ich wünsche Ihnen einen vergnügten Tag.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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