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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Grünen-Stratege Kellner "Wir wollen das Unwahrscheinliche möglich machen"
Die Corona-Krise wird den Bundestagswahlkampf prägen. Für Parteien bedeutet das ein Umdenken. Die Grünen planen eine Digitaloffensive, wie Bundesgeschäftsführer Michael Kellner im Interview erklärt – und erhöhen ihr Budget.
t-online: Herr Kellner, könnte es in diesem Jahr passieren, dass Annalena Baerbock ins Kanzleramt einzieht, ohne dass sich die Ideen der Grünen auf einem Marktplatz beweisen mussten?
Michael Kellner: Moment mal! Wer von unseren beiden Parteivorsitzenden für uns als Kanzlerkandidatin oder Kanzlerkandidat antritt, verkünden wir erst nach Ostern.
Schade. Und was ist mit den Marktplätzen?
Das ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu sagen. Was klar ist, ist dass wir uns auf den digitalen Marktplätzen beweisen müssen. Und natürlich werden wir auch mit großen Plakatkampagnen im öffentlichen Raum präsent sein. Dieser Klassiker des Wahlkampfs wird dieses Mal gerade wegen der Corona-Pandemie eine große Rolle spielen.
Ein direkter analoger Austausch von Politikern und Wählern sind Plakate aber nicht.
Nein. Und so gerne ich es anders hätte, weil die Demokratie vom direkten Austausch lebt: Ich befürchte, die großen Massenkundgebungen wird es diesmal nicht geben können, allenfalls kleinere Formate. Mehrere Tausend Leute auf einem Marktplatz, das halte ich selbst für den Spätsommer nicht für realistisch. Aber wenn das Leben in weiten Teilen digital ist, dann muss es auch der Wahlkampf werden.
Michael Kellner, 43 Jahre alt, ist seit 2013 politischer Bundesgeschäftsführer der Grünen. Ein Posten, der mit dem des Generalsekretärs in anderen Parteien vergleichbar ist. Kellner ist einer der wichtigsten Wahlkampfstrategen der Grünen.
Kommt damit für die Grünen ein weiteres Kriterium für die Entscheidung zwischen Annalena Baerbock und Robert Habeck hinzu? Wer sammelt die meisten Herzen bei Instagram? Statt: Wer kann die Marktplätze zum Jubeln bringen?
Nein. Unsere Ideen für den Wahlkampf sind unabhängig von der Person, die auf den letzten Metern für uns nach vorne geht.
Was sind dann Ihre Schlüsse aus der Corona-Lage?
Wir planen eine Digitaloffensive für den Wahlkampf. Im Vergleich zum letzten Mal werden wir den Etat für die digitale Kampagne verdoppeln. Statt 1,2 Millionen geben wir dafür jetzt 2,5 Millionen Euro aus.
Schrumpft dafür im Gegenzug das analoge Wahlkampfbudget?
Nein. Die Grünen wachsen ja, wir haben inzwischen mehr als 100.000 Mitglieder statt 60.000 wie bei der Bundestagswahl 2017. Das schlägt sich auch im Etat nieder, selbst wenn wir immer noch viel weniger Geld zur Verfügung haben als Union oder SPD.
Das heißt in Zahlen?
Unser Wahlkampfbudget bei der letzten Bundestagswahl lag bei über sechs Millionen Euro, diesmal haben wir über zehn Millionen Euro in der Kasse. Das ist für uns erfreulich viel.
Haben Sie trotzdem die Sorge, dass Sie im digitalen Wahlkampf nicht alle Menschen erreichen, die Sie gerne erreichen würden?
Natürlich wird man digital einige Menschen nicht erreichen, andere hingegen schon. Früher konnten manche nicht zur Kundgebung gehen, weil sie im Schichtdienst arbeiten oder Kinder betreuen mussten. Ideal wäre natürlich eine Mischung aus analog und digital, das wollen wir auch gerne versuchen, nur haben wir das wegen Corona nicht in der Hand. Es ist aber mitnichten so, dass man digital nur jüngere Menschen anspricht. Gerade durch die Pandemie haben auch viele Ältere den Umgang mit Videokonferenzen kennen und schätzen gelernt.
Was planen Sie konkret, um die Menschen im Netz zu erreichen?
Wir trommeln gerade ordentlich für unsere Mitmachkampagne, die #MitDir-Kampagne. Damit sprechen wir Leute an, die zwar nicht Parteimitglied sind, sich aber für grüne Ideen einsetzen wollen. Da mobilisieren wir Freiwillige digital für unsere Themen, für Klimaschutz, Europa und soziale Gerechtigkeit. Mehr als 6.000 Menschen sind schon Teil der Bewegung.
Was sollen diese Unterstützer dann genau machen? Positive Kommentare in den Foren hinterlassen?
Ja, unter anderem. Das unterscheidet sich nicht so sehr vom analogen Infostand in der Fußgängerzone. Sie sollen mit den Menschen über unsere Themen diskutieren und mit ihren Überzeugungen für grüne Ideen werben.
Wie ändert sich die Dynamik des Wahlkampfs durch die Pandemie?
Es wird ein viel kürzerer Wahlkampf als sonst, weil derzeit politisch die ganze Aufmerksamkeit zu Recht der Corona-Pandemie gilt. Normalerweise wären wir jetzt schon mittendrin im Wahlkampf, doch dieses Jahr wird er vermutlich erst im Sommer beginnen.
Zugleich dürfte die Zahl der Briefwähler stark steigen, viele Menschen werden ihre Wahlentscheidung also früher treffen. Ist das ein Problem wegen des gleichzeitig kürzeren Wahlkampfs?
Auch darauf müssen wir uns einstellen. Der Schlussspurt vor dem Wahltag wird zwar wichtig bleiben, das hat man auch in den USA gesehen. Aber seine Bedeutung nimmt ab. Stattdessen müssen wir früher und über eine längere Zeit präsent sein und schon im August um Stimmen werben. So wie ein Eichhörnchen, das über mehrere Wochen fleißig Futter für die kalte Jahreszeit sammelt.
Wie wollen Sie das machen?
Im März stellen wir unser Wahlprogramm vor, zwischen Ostern und Pfingsten werden wir dann entscheiden, ob Annalena Baerbock oder Robert Habeck für uns ganz nach vorne geht. Das wird unser Startschuss für den Wahlkampf sein. Die Sommerferien werden anders als früher diesmal vermutlich keine Atempause bieten.
Wirkt sich ein digitaler Wahlkampf auf die Themen aus, die Sie als Grüne setzen wollen?
Nein, unsere programmatische Haltung ändert sich nicht durch die Form des Wahlkampfs. Allerdings sind Hass und Hetze im digitalen Raum ein wirkliches Problem. Da mache ich mir große Sorgen. Von Angesicht zu Angesicht kann man mit Menschen besser diskutieren, selbst wenn sie ganz andere Haltungen haben.
Wie wollen Sie da gegensteuern? Auch abseits von Hass und Hetze schlicht gegen die politische Polarisierung?
Indem wir einen fairen Wahlkampf führen. Das heißt, hart in der Sache diskutieren, um die besten Argumente ringen, aber immer menschlich im Umgang bleiben. Und wir werden unsere positive Zukunftsvision nach vorne stellen. Wir sagen, was wir für Ideen haben und warum wir sie für gut halten. In den Wettbewerb "Wer krakeelt am lautesten?" werden wir nicht einsteigen.
Bei wie viel Prozent stehen die Grünen dann im Herbst nach der Bundestagswahl?
Wir sind aktuell die zweitstärkste Kraft und wollen zulegen. Wir können unser historisch bestes Ergebnis erreichen, wenn wir über unsere jetzigen Umfragen hinauswachsen. Niemand tritt an, um Zweiter zu werden. Wir wollen alles dafür tun, um das Unwahrscheinliche möglich zu machen und das Kanzleramt zu erobern.
Das heißt, Sie wollen vor der Union landen, die derzeit in Umfragen teils mit 37 Prozent weit vorn liegt?
Richtig, wir fordern die Union heraus. Ich will keinen Wahlkampf führen, in dem es nur darum geht, wer sich auf dem zweiten Platz einreihen darf. Angela Merkel wird nicht mehr antreten und wer auf sie folgt, ist noch nicht ausgemacht. Da ist noch viel Bewegung drin. Die Union hat kein Abo auf die Regierungsführung. Die Grünen sind bereit fürs Kanzleramt, weil auch die Gesellschaft bereit für etwas Neues ist.
- Gespräch mit Michael Kellner per Telefonkonferenz