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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ostbeauftragter Martin Dulig SPD fordert den "Vorsprung Ost"
Die Ost-SPD fordert: Die Zukunftstechnologien sollen im Osten entstehen – mit Milliarden aus dem Westen. Aber warum sollte der Westen das mitmachen? Fragen an den SPD-Ostbeauftragten Martin Dulig.
Die SPD regiert in allen sechs ostdeutschen Bundesländern mit – und muss bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen doch fürchten, in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen. Seit Jahresbeginn versucht die Partei, ein besseres Angebot für den Osten zu entwickeln. Mit einer Ostklausur in Schwante im Januar, einem Ostbeauftragten und jetzt, am Samstag, einem eigenen Ost-Konvent in Erfurt.
Dort wollen die Verbände ein "Zukunftsprogramm" verabschieden, im aktuellen Entwurf 22 Seiten voll mit Forderungen und Ideen. Vor allem für den wirtschaftlichen Aufbau der neuen Bundesländer.
Martin Dulig ist Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident in Sachsen, Spitzenkandidat für die anstehende Landtagswahl im September und koordiniert als Ostbeauftragter die neue Ost-Kampagne seiner Partei. Im Interview spricht er über die Forderungen der Ostverbände und seine Idee eines "Vorsprungs Ost".
Herr Dulig, am Samstag halten die sechs ostdeutschen Landesverbände der SPD einen Ostkonvent ab. Warum?
Martin Dulig: Die Bundespolitik ist nach wie vor sehr westdeutsch geprägt. Es wird zum Beispiel nicht gefragt, ob Gesetze und Verordnungen in Ost- und Westdeutschland in gleicher Weise wirken. Wir haben den Anspruch, das Thema Ostdeutschland neu zu adressieren, sichtbar zu machen und uns mit Selbstbewusstsein einzubringen. Es gibt unterschiedliche Strukturen, aber auch unterschiedliche Erfahrungen. Was wir einfordern, ist ehrliches Interesse für Ostdeutschland. Deshalb koordinieren wir uns selbstbewusst und lautstark als Ostverbände in der SPD.
Sie wollen auf dem Konvent auch ein Papier beschließen, das im Vorfeld erarbeitet wurde, mit vielen Forderungen und Ideen – sind das also Forderungen der Ost-SPD oder der gesamten SPD?
Wir haben als Ostverbände dieses Zukunftsprogramm erarbeitet. Die Ost-SPD hat sich in den letzten Jahren gut vernetzt. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Bundesländern, aber viele Themen betreffen uns gemeinsam und uns eint die gemeinsame Geschichte und ähnliche Mentalität. Wir müssen gemeinsam agieren, aus dem Selbstbewusstsein, dass wir etwas einzubringen haben. Uns geht es darum, das Potenzial im Osten sichtbar zu machen und nicht nur rückwärtsgewandt Unterschiede zu beschreiben.
Nur ist die Ost-SPD kein beschlussfähiger Akteur.
Wir finden auch, dass da eine Aufgabe auf die ganze SPD wartet. Wir haben den Anspruch, das Programm der SPD zu verändern. Das ist auch ein wichtiger Bestandteil der Erneuerung der Partei. Deshalb freuen wir uns sehr, dass Andrea Nahles, Olaf Scholz und Lars Klingbeil zum Ostkonvent kommen. Mit dem Programm, das wir diskutieren und beschließen werden, werden wir auch auf dem Bundesparteitag um Zustimmung werben.
Welche neuen Forderungen stehen in diesem Programm? Was will die Ost-SPD?
Die SPD war immer erfolgreich, wenn sie Innovation und Gerechtigkeit zusammengebracht hat. Das gilt auch in Ostdeutschland. Wir wollen die Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung, das hilft Ostdeutschland ganz konkret. Im Osten spielte Arbeit immer eine größere Rolle, deshalb wollen wir, dass der Rechtsanspruch auf Arbeit verknüpft wird mit dem Anspruch auf Weiterbildung …
… das sind alles Forderungen, die auch schon die Bundes-SPD vertritt. Was ist anders?
Auf der anderen Seite machen wir Vorschläge, um den Osten wirtschaftlich zu entwickeln. Auch in Ostdeutschland sind viele Unternehmen abhängig von der Automobilindustrie. Wir wollen das Mobilitätsland der Zukunft sein und dafür brauchen wir eine gezielte Förderung alternativer Technologien. Wir fordern ein europäisches Leitprojekt zur Batteriezellentechnologie in Ostdeutschland. Gleichzeitig müssen wir für andere Technologien offen sein: Ostdeutschland soll auch ein Leitprojekt zu Wasserstofftechnologien werden. Da haben wir schon wissenschaftliches Know-how, in Fraunhofer-Instituten und Unternehmen.
Was soll das sein, ein Leitprojekt? Was soll der Bund konkret tun, um Batteriezellen und Wasserstoff im Osten auszubauen?
Es wird erst dann Investitionen in Infrastruktur geben, wenn die Fahrzeugflotte groß genug ist; umgekehrt wird es nur Investitionen in Fahrzeuge mit neuen Antrieben geben, wenn die Infrastruktur existiert. Also muss jemand in Vorleistung gehen: Das sollte der Staat tun. Wasserstoff ist als Antriebstechnologie besonders für lange Strecken und damit für die Logistik interessant. Da braucht man Tankstellen, so wie man für Elektroautos Ladesäulen braucht. Wasserstoff kann aber auch Energiespeicher sein, wenn man ihn durch überschüssige Energie erzeugt. Nur ist etwa die Herstellung von Wasserstoff durch Erneuerbare Energien oft immer noch teurer als durch fossile Energieträger – diese Wirtschaftlichkeitslücken kann und muss der Staat schließen. Bei Glasfasern macht er das ja jetzt schon. Außerdem kann und muss der Staat natürlich in Forschung und Entwicklung investieren.
Haben Sie eine Vorstellung von der Größenordnung, wie viel das kosten wird?
Das hängt davon ab, was konkret gemacht wird, aber es geht schon um eine Größenordnung, die einem Leitprojekt der Bundesrepublik Deutschland angemessen ist.
Also um Ausgaben in Milliardenhöhe.
Ja.
Bei alldem geht es nicht nur um die Verarbeitung der Vergangenheit, wie etwa beim Kohleausstieg. Sondern es geht um künftige Schlüsseltechnologien: Elektromobilität, Wasserstoff, Power-to-X allgemein, künstliche Intelligenz. Warum sollten Länder wie Bayern, Baden-Württemberg, Hessen oder Niedersachsen, deren Schlüsseltechnologie "Verbrennungsmotor" wohl an Bedeutung verlieren wird, die Zukunft der deutschen Industrie gezielt im Osten aufbauen wollen?
Es stimmt, es geht nicht um Vergangenheitsbewältigung, sondern um Zukunftschancen. Wir wollen nicht mehr "Nachbau West", sondern "Vorsprung Ost". Aufgrund der Kleinteiligkeit der Wirtschaft in Ostdeutschland haben zwar viele Unternehmen keine Abteilungen für Forschung und Entwicklung, dafür haben wir viele Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Dieses Potenzial legen wir in die Waagschale. Mir geht es nicht um Abkopplung vom Westen, dort kann natürlich genauso geforscht und entwickelt werden.
Aber nicht genauso gefördert.
Wir wollen das Potenzial, das wir jetzt schon haben, nutzen, um nicht immer nur hinterherzulaufen. Wir wollen bei Zukunftsthemen die Schrittfolge vorgeben.
Auch Mieten spielen im Zukunftsprogramm eine Rolle. Dabei sind die im Osten ja überwiegend nicht so hoch wie im Westen. Wieso ist das ein Ostthema?
Wir wollen gar nicht zulassen, dass wir Münchner oder Frankfurter Mieten bekommen. Dafür muss der Staat das Grundrecht auf Wohnen verwirklichen. Kommunen sollen stärker in den Besitz von Grund und Boden kommen. Nur so können sie dafür sorgen, dass es auf dem Mietmarkt fair zugeht. Das mag ein revolutionärer Anspruch sein, aber ich halte ihn für konsequent.
Zugleich fordern Sie strengere Regeln für Mietsteigerungen.
Ja, wir müssen dieses Thema vorantreiben. Wir wollen, dass nur noch sechs Prozent der Modernisierungskosten auf die Miete umgelegt werden können und wir wollen eine Kappungsgrenze von 2 Euro pro Quadratmeter über acht Jahre. Damit gehen wir bewusst über die Vereinbarung im Koalitionsvertrag hinaus, in dem eine Umlage von acht Prozent der Modernisierungskosten und eine Kappungsgrenze von drei Euro pro Quadratmeter über sechs Jahre vorgesehen sind.
Viele der Forderungen aus dem Zukunftsprogramm betreffen Forschung, Wissenschaft, Nahverkehr, innere Sicherheit. Die SPD stellt drei Regierungschefs in Ostdeutschland, ist an allen sechs Landesregierungen beteiligt. Warum stellen Sie Forderungen auf, anstatt zu machen?
Die SPD hat viel auf den Weg gebracht, aber es geht jetzt darum, nach dem Ende des Aufbaus Ost die Transformation aktiv neu zu gestalten. Das geht nicht, wenn jedes Land allein vor sich hinarbeitet. Da braucht es einen gemeinschaftlichen Ansatz und es braucht vor allem Unterstützung des Bundes. Ostdeutschland hat immer noch eine so geringe Steuerquote, dass die Transformation aus eigener Kraft nicht zu schaffen ist.
Sie haben gesagt, es gebe Strukturunterschiede zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland, aber auch unterschiedliche Erfahrungen. Wie wollen Sie damit umgehen?
Über dem Programm steht: "Jetzt ist unsere Zeit. Aufarbeitung, Anerkennung und Aufbruch." Das Zukunftsprogramm beschreibt die Idee für das Zukunftsland Ost. Aber wir müssen gleichzeitig auch die Nachwendezeit aufarbeiten. Es ist wichtig, Unterschiede und Eigenarten ernst zu nehmen, mit Respekt aufzuarbeiten, Verletzungen zur Kenntnis zu nehmen. Ich freue mich, dass die Regierung eine Mauerfallkommission eingesetzt hat. Wir wollen aber mehr. Die Aufarbeitung muss über den Einsetzungsbeschluss hinausgehen.
Wo wir über Aufarbeitung sprechen: Zuletzt ist über eine Ostquote diskutiert worden. Die steht nicht im Programm.
Es geht nicht um eine starre Ostquote. Ostdeutsche sind immer noch unterrepräsentiert in Führungsebenen. Das muss sich ändern. Wir brauchen Ostdeutsche in Führungspositionen. Deshalb fordern wir eine Selbstverpflichtung für Unternehmen, Verwaltungen, politische Institutionen, Medien, Verbänden und Justiz, mehr Ostdeutsche in Führungsebenen zu bringen.
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Im Papier aus Schwante fand sich außerdem die Idee eines "Zukunftszentrums" in einer mittelgroßen ostdeutschen Stadt. Das war damals sehr vage, die Forderung findet sich auch in dem neuen Papier – ähnlich vage. Sind Sie weitergekommen mit den Plänen?
Die Idee halte ich für richtig und wichtig. Wir brauchen Orte, an denen wir Geschichten erzählen und an denen Geschichte erlebbar ist, auch für Kinder und Enkel. Orte, an denen man sich wiederfindet.
Das erklärt nicht, was ein "Zukunftszentrum" sein soll.
Was wir meinen, ist nicht nur ein Dokumentationszentrum, sondern auch ein Begegnungsort und ein Kongresszentrum. Das Zukunftszentrum muss ein lebendiger Ort sein, ein moderner Ort, der begreifbar macht, was passiert ist von der Wende bis zum Ankommen in Gesamtdeutschland. Man darf es nicht auf ein Museum reduzieren, wir brauchen keine staatliche Ostalgie. Es soll ein Ort sein, von dem man sagt, dass jeder einmal in seinem Leben hingefahren sein muss. Weil man dort seine Geschichte erzählen und weil man erfahren kann, wie es ist, mit Veränderungen umzugehen. Ich möchte einen modernen Bau haben, sodass man schon allein wegen des Gebäudes hinfährt. Jetzt muss der Bund sich dazu bekennen, dann müssen sich der Bund und alle Länder an ein Konzept setzen, und dann wird man das hoffentlich in fünf Jahren umsetzen können.
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