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Afghanistaneinsatz der Bundeswehr: "Das ist ein unhaltbarer Zustand"


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Afghanistan-Einsatz
"Das nahm obskure Formen an"

InterviewVon Gerhard Spörl

27.07.2021Lesedauer: 6 Min.
Bundeswehr-Soldaten in Masar-e Scharif (Archivbild): In Deutschland könnte die öffentliche Anerkennung für ihren Einsatz größer sein, sagen Experten.Vergrößern des Bildes
Bundeswehr-Soldaten in Masar-e Scharif (Archivbild): In Deutschland könnte die öffentliche Anerkennung für ihren Einsatz größer sein, sagen Experten. (Quelle: photothek/imago-images-bilder)

Der ehemalige Wehrbeauftragte Reinhold Robbe spricht über das Verhältnis der Deutschen zur Bundeswehr und den angemessenen Umgang mit den im Afghanistaneinsatz Getöteten, Verwundeten und Traumatisierten.

Reinhold Robbe (SPD) war der erste Zivildienstleistende, der zum Wehrbeauftragten des Bundestages gewählt wurde. Zwischen 2005 und 2010 lag der Schwerpunkt seiner Aufgabe im Norden Afghanistans, wo deutsche Soldaten und Soldatinnen stationiert waren. Er ist bekannt für seinen Freimut, mit dem er Kommandeure wie Verteidigungsminister öffentlich kritisierte. Oft bemängelte Robbe, 66 Jahre alt, dass die Deutschen ihrer Geschichte wegen die Rolle der Bundeswehr in der Demokratie nicht angemessen achteten.

t-online: Herr Robbe, fast 20 Jahre waren deutsche Soldaten in Afghanistan stationiert. Hätten Sie je gedacht, dass der Einsatz so lang dauern würde?

Reinhold Robbe: Nie und nimmer! Deshalb kann ich in keiner Weise nachvollziehen, wie klammheimlich dieser Einsatz beendet werden sollte. Aus meiner Sicht muss der Afghanistaneinsatz zu einer Grundsatzdebatte über die Rolle der Bundeswehr führen. Wir brauchen außerdem eine schonungslose Aufarbeitung dieses Einsatzes. Ich werbe deshalb für eine Enquetekommission, die der neue Bundestag einsetzen sollte.

Wie oft waren Sie als Wehrbeauftragter dort und wie hat sich die Mission im Laufe der Zeit verändert?

Mehrmals im Jahr war ich dort, um von Kabul über Masar-e-Scharif, Faizabad bis Kundus mit den Soldatinnen und Soldaten zu reden. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir anfangs im offenen Fahrzeug durchs Land fuhren, was bald darauf undenkbar war.

Die Truppe war in einem fernen, fremden Land stationiert und wusste nicht, wer Freund und wer Feind war. Was machte diese absolute Unsicherheit mit ihnen?

Beispielsweise sprach ich mit jenen Soldaten, die 2002 unmittelbar nach dem Bundestagsbeschluss in Afghanistan landeten und einer amerikanischen Einheit zugeordnet wurden, allerdings keinen klaren Auftrag hatten, also im Grunde führungs- und orientierungslos waren. Das hat sich dann schnell geändert, als die Bundeswehr klare Aufträge und regionale Zuständigkeit innerhalb der alliierten ISAF-Streitkräfte übernahm. Es gab den "vernetzten Auftrag", bei dem Bundeswehr, Diplomatie und Entwicklungshilfe scheinbar gleichberechtigt nebeneinanderstanden. Deshalb waren die Soldaten für die deutsche Öffentlichkeit in erster Linie "Brückenbauer" und "Brunnenbohrer", wobei die militärische Komponente bewusst vernachlässigt wurde.

In der Heimat stritten Politiker semantisch darüber, ob es sich um einen Krieg oder nur um einen Konflikt handelte. Was sagten die Soldaten?

Vom damaligen Verteidigungsminister Franz-Josef Jung wurde den Soldatinnen und Soldaten untersagt, den Begriff "Krieg" zu verwenden. Das nahm obskure Formen an, denn je länger der Einsatz dauerte, desto mehr Taliban-Angriffe gab es auf Bundeswehrkonvois und Stützpunkte und deshalb nannten die Soldaten es "Krieg", wenn sie aus einem schweren Gefecht mit toten und verwundeten Kameraden zurückkamen. Gleich zu Beginn meiner Amtszeit als Wehrbeauftragter hatte ich deswegen eine harte Auseinandersetzung mit Minister Jung, indem ich ihn öffentlich dazu aufforderte, endlich die Wirklichkeit in Afghanistan beim Namen zu nennen. Und er daraufhin entgegnete, er würde "seine Soldaten nicht in einen Krieg schicken", deshalb verbitte er sich diese Bezeichnung.

Was haben Ihnen die Soldaten über ihre Erlebnisse und ihren Alltag erzählt?

Durch meine unangemeldeten Truppenbesuche war ich in der Lage zu sehen, was wirklich vor sich ging. Gerade bei den Mannschaftsdienstgraden war es wichtig, dass bei meinen Gesprächen keine Vorgesetzten zugegen waren. So erfuhr ich, was ich wissen musste. Das reichte von fehlenden Nachtsichtgeräten, Schutzwesten oder gepanzerten Fahrzeugen bis hin zu Beschwerden über Verstöße gegen die Prinzipien der Inneren Führung. Zum Beispiel kritisierten etwa 30 Kompaniechefs, dass der Kommandeur eines Einsatzkontingentes nicht mit ihnen direkt kommunizierte; nebenbei bemerkt hat dieser Kommandeur dann trotzdem eine beachtliche Karriere gemacht. Oft konnte ich für Abhilfe sorgen, denn ich durfte die militärische Hierarchie und Bürokratie übergehen. Dies wusste die Truppe zu schätzen, die jeweiligen Verteidigungsminister weniger.

59 deutsche Soldaten starben im Einsatz. In anderen Ländern würde man sagen: im Dienst fürs Vaterland. Denken auch die Soldaten so?

Nicht nur für 59 Soldaten und ihre Familien endete der Einsatz in einer Katastrophe. Dazu kommen Hunderte Soldaten mit schwersten Verwundungen und nicht zuletzt Tausende posttraumatisch belastete Soldatinnen und Soldaten, die für den Rest ihres Lebens gezeichnet sind. Das muss man sich vor Augen führen, wenn man versucht, sich in die Lage der Soldaten hineinzuversetzen.

Groß ist die Enttäuschung, weil die Soldatinnen und Soldaten bis heute die gesellschaftliche Anerkennung vermissen, die sie mit Fug und Recht erwarten dürfen. Für alle anderen Länder der freien westlichen Welt ist dieses Mindestmaß an Würdigung und Respekt selbstverständlich. Bei uns hingegen trifft nach wie vor das Wort vom Bundespräsidenten Horst Köhler zu, der von einem "freundlichen Desinteresse" der Deutschen am Dienst der Soldaten sprach. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Auch hier erwarte ich von einer neuen Bundesregierung endlich konkrete Vorschläge für einen anderen Umgang mit der Truppe.

Ein Verteidigungsminister sagte einmal, Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt. Hatte er recht?

Es war Peter Struck, der versuchte, diesem ebenso komplexen wie widersprüchlichen Einsatz in Afghanistan einen Sinn zu geben. Damit stellte er die Kausalität her zwischen 9/11und der militärischen Antwort auf den Terror von Osama bin Laden im Schutz der Taliban. Die Formel fand in weiten Teilen der Bundeswehr Akzeptanz. Richtig ist aber auch, dass sie mit den Misserfolgen weniger plausibel wirkte. Heute beruft sich kaum noch jemand darauf.

Im Gedächtnis bleibt natürlich Kundus. Die Taliban hatten zwei Tanklaster entführt. Ein Oberst der Bundeswehreinheit sorgte am 4. September 2009 dafür, dass zwei US-Flugzeuge Bomben darauf abwarfen. 100 Menschen starben, fast durchwegs Zivilisten, auch Kinder waren darunter – die größte Zahl an Opfern im gesamten Nato-Einsatz. Was bedeutete diese Katastrophe für die dort stationierten Soldaten?

Nach allem, was wir heute wissen, handelte der verantwortliche Oberst Georg Klein nach bestem Wissen und Gewissen. Ihm konnte kein schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden, wenngleich er selber immer wieder betonte, wie sehr ihn diese Entscheidung sein Leben lang belasten wird. Bei allen dem Oberst unterstellten Soldaten gab es Verständnis und Respekt dafür, wie der Oberst mit dieser Katastrophe umging.

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Die Gegner waren ja keine Soldaten in Uniform, sondern Taliban-Kämpfer, die sich als harmlose Zivilisten oder mit Burkas tarnten. Sie töteten insgesamt fast 3.600 westliche Soldatinnen und Soldaten und dazu mehrere Zehntausend Zivilisten. Deshalb wird Kundus von den Soldaten vollkommen anders betrachtet als von den meisten Mitteleuropäern, die vermutlich nicht genau wissen, wo Afghanistan auf der Landkarte zu finden ist.

Ganz anders fiel die Reaktion in Deutschland aus. Was lässt sich daraus in Bezug auf das Verhältnis der Öffentlichkeit zur Bundeswehr ableiten?

Es gab viele wohlfeile Kommentare, aber es gab auch seriöse Dokumentationen und einen Spielfilm zu Kundus. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Eine kritische Grundhaltung gegenüber allem Militärischen ist nicht nur nachvollziehbar aufgrund unserer Geschichte, sondern auch angemessen und richtig. Das entbindet uns aber als deutsche Zivilgesellschaft nicht von der Notwendigkeit, bewaffnete Streitkräfte als Verteidigungselement einer starken Demokratie anzuerkennen. Und die Menschen, die Gesundheit und Leben einsetzen, haben ein Mindestmaß an moralischer Unterstützung und Achtung verdient – und zwar unabhängig von der politischen Bewertung einzelner Einsätze.

Nach dem Abzug der Deutschen rücken die Taliban im Norden vor. Der Abzug des Westens bedeutet Freiheit für die Taliban zur Rückkehr an die Macht über das Land. War es so viele Milliarden Dollar und so viele Tote wert?

Diese Frage wird nach jedem Einsatz und nach jedem Krieg gestellt. Hinterher ist man immer klüger. Es gab anfangs offensichtlich vollkommen unterschiedliche Einschätzungen und Erwartungen innerhalb der Nato und der Uno. In diesen 20 Jahren hat sich Afghanistan ja auch durchaus verändert. Der Wiederaufbau ist in Teilen gelungen, Frauen spielen heute eine wichtige Rolle in der Gesellschaft, Mädchen können Schulen besuchen. Das kann sich jedoch alles schnell wieder ändern, wenn es den Taliban gelingt, die Macht an sich zu reißen, und danach sieht es leider aus. Deshalb muss die beabsichtigte Friedenserzwingung und Friedenssicherung als gescheitert betrachtet werden.

Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Wäre es nicht angemessen, das Ende des Einsatzes im Bundestag zu begehen?

Es ist sogar absolut notwendig, die Beendigung des Afghanistaneinsatzes angemessen zu würdigen, der Opfer zu gedenken und vor allem den Soldatinnen und Soldaten Dank zu sagen. Der Ort dafür ist der Bundestag, denn er entscheidet über die Einsätze die Bundeswehr, nicht die Kanzlerin. Deshalb darf der Große Zapfenstreich vor dem Reichstag nicht alles sein. Dazu muss eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages kommen, in der die Bildung der Enquetekommission beschlossen werden sollte.

Und wie gedenkt die Bundeswehr der Gefallenen?

Es gibt in einer Ecke des Verteidigungsministeriums eine Gedenkstätte für die in Einsätzen getöteten Soldatinnen und Soldaten. Ich halte den Standort dieser Gedenkstätte für falsch und habe diese Auffassung auch öffentlich vertreten. Für die gesellschaftliche Akzeptanz der Bundeswehr wäre ein prominenter und allgemein zugänglicher Standort in der Nähe des Parlaments richtig gewesen. Und dann gibt es noch den "Wald der Erinnerung" beim Einsatzführungskommando in Potsdam – ebenfalls an einem abgelegenen Ort weit außerhalb der Stadt. Dieser Wald ist den Angehörigen und Kameraden gefallener Soldaten gewidmet. Eine kritische Bestandsaufnahme des Afghanistaneinsatzes sollte deshalb Anlass sein, auch über Versäumnisse in der Erinnerungskultur der Bundeswehr nachzudenken.

Herr Robbe, danke für dieses Gespräch.

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