Moskaus Wut auf die Nato "Die Gefahr besteht, dass so etwas schief geht"
Nach jahrelangem Sparen hat Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen angekündigt, die Bundeswehr aufzustocken. Ihre Pläne beruhen zumindest zum Teil auf der neuen Bedrohung der Nato durch Russland. t-online.de sprach darüber mit Karl-Heinz Kamp, Präsident der Berliner Bundesakademie für Sicherheitspolitik.
Russland sieht sich ja selbst nicht mehr als Partner, weil es große Vorbehalte gegenüber der Nato und den USA hat. Putin sieht gerade die USA als Ursache für alles Übel der Welt. Sie steht, nach russischer Lesart, dem Wiederaufstieg Russlands nur im Weg.
Mit anderen Worten: Die sorglosen Zeiten gehen tatsächlich zu Ende?
Die sorglosen Zeiten sind zu Ende und zwar deshalb, weil wir jetzt wieder in der "Artikel-5-Welt" leben, in dem die Nato den Bündnisfall regelt. Darin betreibt die Nato nicht mehr primär Krisenmanagement, sondern ist vor allem für die Verteidigung da.
Vor zwei Wochen hat die Verteidigungsministerin eine neue Cyber-Armee angekündigt. Jetzt will sie die Bundeswehr insgesamt aufstocken. Konkret gefragt: Ist das eine Reaktion darauf?
Zum Teil. Es kommen einfach so viele Sicherheitsgefährdungen zusammen, die wir vor einigen Jahren noch nicht absehen konnten: Dass der Nahe und Mittlere Osten zerfällt, dass dort Staatlichkeit erodiert, dass wir verschärfte Entwicklungen in Afrika haben, auf die wir reagieren müssen. Dazu kommt jetzt noch der gewachsene Ost-West-Konflikt. Das ist mit dem bisherigen Umfang der Streitkräfte nicht zu machen.
Die Nato verlegt 4000 Mann an die Ostgrenze, Russland reagiert darauf mit 15.000 Soldaten. Erleben wir den Beginn eines neuen militärischen Wettlaufs?
Wettlauf ist nicht ganz richtig. Russland hat nach dem Georgienkrieg 2008 angefangen, seine Streitkräfte wieder massiv aufzubauen, nachdem sie vorher verkleinert worden waren. Die Nato hat sechs Jahre lang gar nichts getan, weil man von der ursprünglichen Prämisse ausging, dass Russland ein Partner sei. Insofern, so die Annahme, wurden stärkere russische Streitkräfte zunächst nicht als Problem gesehen. Würde Frankreich morgen seine Armee verdoppeln, wäre das für Deutschland ja auch kein Problem. Seit dem Moment aber, in dem Russland militärische Macht zur Änderung von Grenzen in Europa angewandt hat – und das ist 2014 bei der Ukraine passiert – hat die Nato gemerkt, dass sie umschalten muss. Insofern ist es jetzt eher eine Nachrüstung – und zwar bisher immer eine Stufe unter dem, was Russland macht.
Moskau hat neulich geprahlt, man könne das Baltikum in drei Wochen einnehmen, wenn man wolle. Wie ist derzeit eigentlich das Kräfteverhältnis zwischen Nato und Moskau?
Der US-Präsident hat ja mal gesagt – und das hat die Russen furchtbar geärgert – dass Russland eine Regionalmacht ist. Das heißt natürlich, dass sie in einer Region, nämlich Osteuropa, sehr viel Macht hat. Was Russland gut kann: Streitkräfte in sehr kurzer Zeit aufbauen und verlegen. Das kann die Nato in dem Ausmaß nicht. Wenn Sie sich die reinen Streitkräfte-Zahlen anschauen, ist die Nato mit 3,5 Millionen Soldaten gegenüber einer Million dramatisch überlegen. Das gilt aber nur, wenn die USA ihre Streitkräfte auch nach Europa bringen können. Insofern ist die Sorge der Balten oder Polen, dass Russland eine regional begrenzte Aggression ausüben könnte, berechtigt - beispielsweise in Estland, wo die Amerikaner nicht schnell hinkommen.
Karl-Heinz Kamp ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) in Berlin. Die Akademie ist eine ressortübergreifende Weiterbildungsstätte, die dem Verteidigungsinisterium angegliedert ist. Politikwissenschaftler Kamp ist promovierte Experte für Außen- und Sicherheitspolitik.
Und im Ernstfall?
Stellen Sie sich vor, Russland annektiert 30 Quadratkilometer estnischen Territoriums. Dann stellt sich für die anderen 28 Nato-Staaten die Frage, ob sie deswegen den Dritten Weltkrieg anfangen sollen. Wenn man das nicht macht, ist die Nato allerdings am Ende, weil sie ihre Funktionslosigkeit unter Beweis gestellt hat. Wenn man aber militärisch agiert, haben wir eine zugespitzte Krise. Das war aber auch schon im Kalten Krieg so: Berlin wäre nicht zu verteidigen gewesen, wenn die Sowjetunion sich entschlossen hätte, die Stadt zu überrennen. Trotzdem blieb West-Berlin eine freie Stadt, weil wir eine glaubwürdige Abschreckung hatten. Genau das macht die Nato jetzt auch: Sie schafft Abschreckung mit dem Ziel, einen Konflikt zu vermeiden. Sie zeigt: Du gewinnst nichts – lass es besser.
Das klingt gefährlich, wenn man noch in Rechnung stellt, dass Nato-Schiffe in der Ostsee immer wieder russische Scheinangriffe melden. Stichwort: Kurzschlussreaktionen.
Die Gefahr besteht, dass so etwas schief geht. Deshalb müssen wir das administrieren. Das heißt, die Kommunikation noch sicherer machen. Wenn wirklich etwas passiert, muss man klarmachen können: "Leute, da ist ein Fehler passiert."
Welche Rolle spielt die Bundeswehr in diesem Spiel? Ist sie ein wichtiger Player?
Die Bundeswehr ist bei den Abschreckungsmaßnahmen ein sehr großer Player. Gegenüber einem potenziell aggressiven Russland ist es ein Ziel, dass wir in Osteuropa viele Nato-Streitkräfte aus verschiedenen Ländern rotierend stationieren. Dabei muss zu jedem Zeitpunkt eine größere Zahl von Soldaten vor Ort sein. In diesem Szenario hat die Bundeswehr eine herausragende Bedeutung, weil sie von den vier geplanten Bataillonen im Baltikum und Polen eines führen wird.
Halten sie von der Leyens Maßnahmen für ausreichend?
Sie sind auf jeden Fall notwendig. Deutschland macht zudem mehr, als seine Verbündeten vor zwei Jahren gedacht haben. Bei dem kommenden Nato-Gipfel in Warschau wird man sehen, dass da eine ganze Menge Dinge beschlossen werden, die dem Ziel der Nato dienen. Nämlich Rückversicherung gegenüber den Verbündeten und Abschreckung gegenüber einem potenziellen Gegner.
Die Nato sieht ja schon einen "hybriden" Krieg Moskaus gegen den Westen: Desinformationskampagnen wie im Fall der erfundenen Berliner Vergewaltigung. Können wir uns dagegen überhaupt wehren?
Es ist ja nichts Neues, dass man in einem Konflikt militärische und nicht-militärische Mittel miteinander vermischt. Ich glaube, wir waren vor allem deshalb so erschrocken, weil Russland in der Ukraine mit diesen Mitteln so überraschend erfolgreich war. Das lag aber auch daran, dass die Situation in der Ukraine ohnehin sehr schwierig für den Staat war. Hybride Bedrohungen bekämpfen Sie ja nicht nur mit dem Militär, sondern mit Presse und mit Informationskampagnen. In diesem Bereich wird es darauf ankommen, dass die Nato mit der EU zusammenarbeitet, um Staaten "resilient" gegen hybride Angriffe zu machen. Wenn also die berühmten "grünen Männchen" - also Militärs ohne Hoheitsabzeichen wie auf der Krim – beispielsweise im Baltikum auftauchen, muss es eine Polizei geben, die effizient und schnell genug nach dem Pass fragt und die Leute notfalls verhaftet. Dazu brauchen sie aber ein funktionierendes Staatswesen, das auf allen Ebenen reagieren kann.