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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Scholz auf Münchner Sicherheitskonferenz Plötzlich ist er der Antreiber
Scholz, der Zauderer? Das war mal. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz tritt der deutsche Kanzler als Einpeitscher Europas auf – und fällt nur kurz in seine alte Rolle zurück.
Vielleicht hatte er es einfach satt, immer als der große Zauderer dargestellt zu werden, der wichtige Entscheidungen in Europa verzögert und der Ukraine viel zu lange die benötigten Waffen vorenthält.
Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Olaf Scholz (SPD) zunehmend überzeugt davon ist, dass mit Putins Russland auf kurze Sicht kein Frieden zu machen ist. Dass der Kremlchef weiter auf Krieg setzt, um seine Ziele zu erreichen, und die Ukraine als Staat zerstören wird, wenn man ihn nicht stoppt.
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Die Rede des deutschen Bundeskanzlers auf der Münchner Sicherheitskonferenz am Samstag machte das überdeutlich. Scholz stellt gleich zu Beginn klar: Trotz enormer Verluste lasse sich Russlands Präsident nicht von seinem "imperialistischen Großmachtdenken" abbringen.
"Die Bedrohung durch Russland ist real", sagte Scholz auf dem jährlich stattfindenden internationalen Treffen für Sicherheitspolitik. "Darum muss unsere Abschreckung glaubwürdig sein – und glaubwürdig bleiben."
"Tun wir genug?"
Scholz kommt schnell zu der Frage, die sich in München alle stellen, die sich mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine beschäftigen: "Tun wir genug, um Putin zu signalisieren: We're in for the long haul" ("Wir bleiben bis zum Ende da"), fragt der Kanzler auf Englisch (gemeint war nicht nur Deutschland, sondern der gesamte Westen).
Denn der Ukraine-Krieg hat sich zu einem gefährlichen Wettlauf mit der Zeit entwickelt: Kremlchef Putin hat auf Kriegswirtschaft umgestellt und spekuliert auf die nachlassende Hilfe des Westens. Vor allem der Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus im November könnte die US-Hilfe dramatisch verringern und die Nato spalten.
Umso höher ist der Druck auf Europa, den drohenden Ausfall der Amerikaner auszugleichen und Moskau zu signalisieren: Auch mit einem möglichen US-Präsidenten Trump wird der Westen weiter hinter Kiew stehen.
An wen sich die Kanzlerrede richtet
Dass es dazu aus seiner Sicht keine Alternative gibt, verdeutlicht der deutsche Kanzler mit einem düsteren Zukunftsszenario: Ein russischer Sieg würde das Ende der Ukraine als "freier und demokratischer Staat" bedeuten sowie die "Zerstörung der europäischen Friedensordnung", so Scholz. Zudem wäre es eine Ermutigung an alle Autokraten weltweit, ihre Konflikte mit Gewalt zu lösen.
"Der politische und finanzielle Preis, den wir dann zu zahlen hätten, wäre um ein Vielfaches höher als alle Kosten unserer Unterstützung heute und in Zukunft", so der Kanzler weiter.
Es wirkt, als spräche Scholz vor allem zu den Zweiflern in Deutschland, die Umfragen zufolge immer mehr werden und weitere Waffenlieferungen infrage stellen. Doch der Kanzler hat an diesem verregneten Samstagmorgen in München vor der versammelten Sicherheitselite des Westens einen anderen Adressaten, beziehungsweise gleich mehrere: die europäischen Partner und Verbündeten, die aus seiner Sicht zu wenig für die Ukraine tun.
Wachsender Frust über die Verbündeten
Schon vor Wochen hat Scholz die Europäer dazu aufgerufen, mehr für die Ukraine zu tun, hatte sogar darauf gedrängt, dass sie ihre konkrete Hilfe offenlegen. Scholz, der strenge Klassenlehrer, der die Hausaufgaben der anderen Regierungschefs überprüft.
Bei seinem Auftritt in München arbeitete er weiter an dieser Führungsrolle. Damit es auch alle verstehen, rechnet der Kanzler noch mal vor, wie Deutschland bei der Ukraine-Hilfe vorangeht: Rund 28 Milliarden Euro haben die bereits geleistete und geplante Militärhilfe Deutschlands für die Ukraine bisher betragen. "Ich wünsche mir sehr, [...] dass ähnliche Entscheidungen in allen europäischen Hauptstädten getroffen werden", mahnt der Kanzler.
Scholz verweist zudem auf die USA, die pro Jahr etwas mehr als 20 Milliarden Dollar an Militärhilfe für die Ukraine ausgegeben hätten, bei einem Bruttoinlandsprodukt von 28 Billionen Dollar. "Eine vergleichbare Anstrengung muss doch das Mindeste sein, was auch jedes europäische Land unternimmt."
"Das Mindeste"? Eine bemerkenswert deutliche Formulierung, an der man den wachsenden Frust des Kanzlers darüber heraushören kann, dass einige europäische Partner deutlich unter ihren Möglichkeiten bleiben angesichts dessen, was Scholz die "größte Sicherheitsbedrohung auf unserem Kontinent" nennt.
Die offiziellen Zahlen unterstützen die Kanzlerschelte an die europäischen Freunde: Laut dem "Ukraine Support Tracker" des Kieler Instituts für Weltwirtschaft haben zahlreiche Länder ihre Militärhilfe massiv verringert. Während die USA rund 0,2 Prozent ihrer Wirtschaftskraft in Waffenlieferungen für Kiew investiert haben und Deutschland bei 0,45 Prozent liegt, kommen Frankreich, Spanien oder Italien nicht mal auf ein Zehntel des deutschen Anteils.
Nur manchmal scheint der alte Scholz noch durch
Der Kanzler setzt in seiner Rede noch weitere Punkte, die er bei seinen Auftritten der vergangenen Wochen immer wieder betont hat und die zu Scholz' neuer Rolle passen – als "Leader in Europa" (Selenskyj) die glaubwürdige Abschreckung zu organisieren. So bekräftigte er das Versprechen, zwei Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung in die Verteidigung zu investieren, und zwar "in den 20er-, den 30er-Jahren und darüber hinaus". Auch die bedeutende Rolle der Rüstungsindustrie für die Herstellung europäischer Sicherheit betonte er.
Doch der alte Scholz war nicht komplett verschwunden. Hin und wieder schien er durch, etwa als er bei der anschließenden Diskussion von der Moderatorin gefragt wurde, warum er trotz des großen deutschen Engagements weiterhin keine Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefere ("Komische Frage"). Oder als er die Frage eines ukrainischen Abgeordneten abblockte, der nach dem Nato-Beitritt seines Landes fragte ("Nicht sinnvoll, weiter in die Details einzusteigen").
Kanzleramt schneidet Pistorius aus Foto
Ansonsten schien der Kanzler seine neu gefundene Rolle als Antreiber zu genießen und politisch auszukosten: Der Kanzler sprach selbstbewusst und souverän, und plötzlich wie einer, der es sich leisten kann, ganz Europa an seine nicht gemachten Versprechungen zu erinnern.
Ob die zunehmend dramatische Lage auf dem ukrainischen Schlachtfeld oder neue geheimdienstliche Erkenntnisse über Putins fehlenden Verhandlungswillen zu seinem neuen Selbstverständnis geführt haben, weiß nur der Kanzler selbst. Womöglich spielten auch die alarmierenden Umfragewerte für Scholz eine nicht ganz unbedeutende Rolle.
Dass der Kanzler sich im Klaren ist, dass er im wichtigen Wahljahr 2024 etwas aufzuholen hat, zeigt auch ein interessantes Detail: Auf dem Foto über die neue Sicherheitsvereinbarung mit der Ukraine (hier lesen Sie mehr dazu), das tags zuvor vom Kanzlerprofil auf X gepostet wurde, wurde interessanterweise Boris Pistorius abgeschnitten. Der Ruhm dieser als "historisch" bezeichneten Abmachung sollte wohl ganz auf das Konto des Kanzlers gehen – und nicht auf das des Umfragekönigs Pistorius, den manche schon als "Ersatz-Kanzler" sehen.
Scholz ist offenbar überzeugt, dass er trotz steigender Kriegsmüdigkeit in der deutschen Öffentlichkeit mit einer entschlossenen Haltung in der Ukraine-Frage punkten kann. Ob das klappt, wird sich zeigen.
- Eigene Beobachtungen auf der Münchner Sicherheitskonferenz
- ifw-kiel.de: Ukraine Support Tracker
- X-Profil des Bundeskanzlers