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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Lambrecht-Ersatz Ausgerechnet Pistorius
Dem Kanzler scheint ein Coup gelungen zu sein: Der erfahrene niedersächsische Innenminister Boris Pistorius wechselt als Verteidigungsminister nach Berlin. Doch die Personalie birgt Risiken.
Am Ende hat Olaf Scholz mal wieder alle überrascht. Der Name Boris Pistorius tauchte erst am Montagabend zum ersten Mal auf. Bis dahin hatte niemand den niedersächsischen Innenminister als Nachfolger von Christine Lambrecht auf dem Schirm. Alle dachten, ein sozialdemokratisches Schlachtross wie Arbeitsminister Hubertus Heil müsse angesichts der desolaten Lage im Berliner Bendlerblock nun ran. Oder ein ausgewiesener Experte wie General Carsten Breuer.
Auch im Kanzleramt dürfte Pistorius für den brutalen Job nicht die erste Wahl gewesen sein. Dafür dauerte es mit der Entscheidung des Kanzlers zu lange. Doch Olaf Scholz hat im niedersächsischen Innenminister zumindest jemanden gefunden, der viele wichtige Eigenschaften mitbringt: Er ist ein erfahrener Polit-Manager, verfügt über Verwaltungserfahrung, macht pragmatische Politik und ist auch noch durchsetzungsstark und loyal.
Trotz der Turbulenzen der vergangenen Tage also doch am Ende ein politischer Coup des Kanzlers? Der scheue, aber schlaue Olaf hat es mal wieder allen gezeigt? Und sich auch vom öffentlichen Druck nicht kirre machen lassen?
Ganz so einfach ist es nicht. Denn die Personalie birgt gleich mehrere Risiken. Dass das Verteidigungsministerium ein kaum zu beherrschendes Ressort ist, das noch jeden Minister früher oder später in den Wahnsinn getrieben hat, ist dabei fast schon zu vernachlässigen. Denn damit hätte jeder Nachfolger von Christine Lambrecht kämpfen müssen.
Dass Scholz eine Ministerin entlässt, dafür einen Minister beruft und so sein Versprechen eines paritätisch besetzten Kabinetts bricht, kann zumindest der Kanzler wohl verkraften. Nicht schön, aber für das derzeit wichtigste Ressort muss die Qualifikation eben mehr zählen als das Geschlecht. So kann man argumentieren.
Es gibt allerdings zwei spezifische Pistorius-Probleme, die nicht ganz ohne sind: Der 62-Jährige ist ein sehr erfolgreicher Landespolitiker, der schon häufiger für Jobs auf Bundesebene im Gespräch war. Nur zeigt die Erfahrung, dass eine beachtliche Karriere auf Landesebene nicht zwangsläufig bedeutet, dass man auch im Bund durchstartet. Dafür sind zu viele Hochgelobte gescheitert.
Hinzu kommt, dass Pistorius eine offene Flanke hat – und das auch noch an entscheidender Stelle: Er verfügt nicht über besonders viel Erfahrung in der Außen- und Sicherheitspolitik, muss in seinem künftigen Job aber von der ersten Minute an liefern.
Am Donnerstag soll er vereidigt werden, am Freitag steht gleich ein wichtiges Ukraine-Treffen mit den westlichen Verbündeten in Ramstein an. Und: Pistorius gilt bei den eh nicht gerade notorisch russlandkritischen Sozialdemokraten auch noch als eher moskaufreundlich. Vielleicht muss der Satz aber inzwischen auch lauten: Pistorius galt als moskaufreundlich ...
Ein "freundschaftlich-kritischer Umgang" mit Moskau?
Wie hältst du es mit Putin? Es ist gerade diese Frage, die selbst einige in der SPD mit gemischten Gefühlen auf Pistorius blicken lässt. Viele schätzen ihn zwar als soliden Innenminister, der als Realpolitiker immer ein Gegengewicht zum linken Flügel in der Partei war.
Allerdings gehört Pistorius eben zu jenen, die besonders lange am russlandfreundlichen Kurs festhielten. Im Bundesrat war er neben Politikern wie Michael Kretschmer (CDU), Thomas Strobl (CDU) oder Winfried Kretschmann (Grüne) Mitglied der deutsch-russischen Freundschaftsgruppe, die unter dem Vorsitz von Manuela Schwesig einmal im Jahr mit Kollegen des russischen Föderationsrats zu mehrtägigen Beratungen zusammentraf. Die Gruppe wurde im April 2022 aufgelöst.
Es ist 2018, als der damalige Außenminister Heiko Maas 2018 die Bundesregierung und auch die SPD auf eine moskaukritischere Linie bringen will. Doch Pistorius maßregelt ihn öffentlich: "Wir werden keine europäische Friedenspolitik hinbekommen ohne Russland." Er erinnert an die Ostpolitik der sozialdemokratischen Ikone Willy Brandt und betont: "Unser Selbstverständnis im Umgang miteinander muss von freundschaftlich-kritischem Umgang geprägt sein."
Was für Pistorius damals auch bedeutet, die Wirtschaftssanktionen gegen Russland abschaffen zu wollen. "Wenn man Ziele nicht erreicht, muss man sich fragen, ob die Instrumente die richtigen sind", lässt sich Pistorius zitieren.
Kurskorrektur in eigener Sache
Doch im Mai 2022, wenige Wochen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, klingt Pistorius ganz anders. Als er in Hildesheim auf der Bühne des Landesparteitags seiner SPD steht, will er, der Innenminister, eigentlich nur zu einem Antrag über das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr sprechen. Doch die paar Minuten geraten ihm fast zu einer verteidigungspolitischen Grundsatzrede. Und zu einer Kurskorrektur in eigener Sache.
Von einem "freundschaftlich-kritischen Umgang" mit Russland ist keine Rede mehr. Stattdessen spricht Pistorius vom "imperialistischen Wahn" Putins und sagt, dass er immer noch "fassungslos" sei, Monate nach Kriegsbeginn. Das Sondervermögen sei nichts, "was viele von uns besonders herbeigesehnt hätten", sagt Pistorius und meint damit natürlich auch sich selbst. "Aber es ist eben trotzdem alternativlos."
"Ich gehöre zu der Generation", sagt er schon zu Beginn, "die als junge Erwachsene den Fall der Berliner Mauer und des Warschauer Paktes bewusst erlebt und von da an in dem Glauben gelebt haben, dass das, was wir in den Zeiten des Kalten Krieges erlebt haben, was wir gefürchtet haben, wovon wir bedroht waren, nie wieder erleben würden." Nun zeige sich, dass das "eine trügerische Hoffnung war, ein trügerischer Glaube".
Er sei froh, dass die Bundeswehr nun mit der Zeitenwende "in einem anderen Licht erscheint", sagt Pistorius. Es brauche eine starke Bundeswehr, denn: "Die Welt hat sich verändert, die Bedrohungen sind andere geworden." Es gehe jetzt vor allem darum, "dass wir der Ukraine und den Menschen dort den Rücken stärken". Wer nach Deutschland komme, dem müsse jede Hilfe zukommen. "Und es ist unsere Aufgabe, der Ukraine zu helfen, diesen Krieg zu gewinnen. Weil nur dann kann überhaupt noch Frieden in Europa einkehren."
Gewinnen soll die Ukraine also. So deutlich sagt das bisher nicht einmal der Kanzler.
Schon oft kurz davor
Als Verteidigungsminister kann Pistorius jetzt immerhin direkt daran mitarbeiten, dass die Ukraine tatsächlich den Krieg gegen Russland gewinnt. Auch wenn das Amt in seiner Karriereplanung wohl noch nicht lange eine Rolle spielt. Als ministrabel im Bund galt Pistorius schon länger, allerdings für einen anderen Posten. Schon nach der Bundestagswahl 2017 war er als Bundesinnenminister im Gespräch, damals ging das Ressort an die CSU und Horst Seehofer.
2019 versuchte Pistorius erneut den Sprung auf die Bundesebene, trat gemeinsam mit der sächsischen Integrationsstaatsministerin Petra Köpping beim Mitgliederentscheid für den SPD-Parteivorsitz an. Doch die Begeisterung der Genossen hielt sich in engen Grenzen. Das Team landete auf dem vorletzten Platz.
Zu Beginn der Ampelverhandlungen im Herbst 2021 dann der nächste Versuch: Der Name Pistorius fiel erneut. Und auch immer wieder in den vergangenen Monaten, als darüber spekuliert wurde, wer auf Bundesinnenministerin Nancy Faeser folgen könnte, wenn sie als Spitzenkandidatin nach Hessen ginge. Dass Pistorius selbst sich einen Wechsel nach Berlin gut vorstellen könnte, war ein offenes Geheimnis.
Seine Berufung durch den Kanzler ist zum jetzigen Zeitpunkt trotzdem eine Überraschung – und damit ein typischer Scholz. Denn der Kanzler pfiff mal wieder auf alle Forderungen, die an ihn herangetragen wurden. Experte für Bundeswehrfragen? Ist Pistorius nicht. Erfahrung auf Bundesebene? Hat er nicht. Und am besten eine Frau? Ist er ganz offensichtlich auch nicht.
Der "rote Sheriff" hat immerhin Wehrdienst geleistet
Immerhin kommt mit Pistorius jemand an die Spitze des Verteidigungsressorts, der gedient hat. Das war's dann aber auch weitgehend. Seine militärische Expertise beschränkt sich auf den Wehrdienst vor mehr als 40 Jahren. Daran ändern auch seine zehn Jahre als Innenminister in Niedersachsen nichts. Auch wenn seine harte Linie gegen islamistische Gefährder ihm den Spitznamen "Roter Sheriff" einbrachte.
Ein Sozi, vor dem auch Konservative keine Angst haben – dafür steht die gesamte Biografie von Pistorius. Er wuchs in einem Arbeiterviertel in Osnabrück auf, machte nach dem Abitur erst eine Lehre zum Groß- und Außenhandelskaufmann, bevor er Jura studierte. Und seinen Wehrdienst verweigerte er – anders als viele Linke damals – eben nicht.
Sein politischer Durchbruch gelang Pistorius 2006, als er Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Osnabrück wurde. Nach dem Wahlsieg von SPD und Grünen bei der niedersächsischen Landtagswahl 2012 wurde er Innenminister. Und zwar einer, der nicht nur Larifari redet, sondern pragmatisch agiert. So plädierte er etwa in der Einbürgerungspolitik weiter für eine Willkommenskultur bei gleichzeitiger konsequenterer Abschiebungspraxis.
Nicht um die Probleme herumreden und notfalls auch durchgreifen – diese Entschlossenheit wird Pistorius auch in seinem neuen Job helfen.
Hochgelobt im Land heißt noch nichts
Allerdings birgt sein Jobwechsel ein weiteres, beachtliches Risiko für ihn und damit auch den Kanzler: Selbst wenn zwischen Hannover und Berlin gerade einmal rund 250 Kilometer Luftlinie liegen, wird Pistorius mit seiner Beförderung in ein deutlich raueres Universum katapultiert. Gegenüber dem brutalen Geschäft im Berliner Regierungsviertel wirken viele Landeshauptstädte fast schon wie politische Sanatorien.
Das hat nicht nur, aber viel damit zu tun, dass die Landespolitik nicht so stark im Fokus der Öffentlichkeit steht. Es gibt weniger Medienvertreter, also auch nicht so viel Berichterstattung, dadurch eine geringere Wahrnehmung – und damit auch kleinere Aufregungswellen. Ein falscher Halbsatz kann sich in Berlin dagegen schnell zum veritablen Problem auswachsen.
Hinzu kommt, dass die Behörden auf Bundesebene deutlich größer sind. So hat die Bundeswehr mehr Beschäftigte als das Land Niedersachsen insgesamt. Und da war Pistorius eigentlich nur für die Polizei verantwortlich. Der künftige Verteidigungsminister muss also deutlich mehr Menschen führen als bislang. Entsprechend sind seine künftigen Themen vielfältiger und die Probleme größer.
Und das sind nur einige all jener Gründe, warum viele erfolgreiche Landespolitiker im Bund scheitern oder nur mäßig erfolgreich sind. Dafür muss man gar nicht besonders prominente Beispiele wie den früheren SPD-Chef Kurt Beck bemühen. Es genügt ein Blick ins Ampelkabinett: Die frühere Familienministerin Anne Spiegel galt in Mainz als große Hoffnungsträgerin ihrer Partei. In Berlin war die Grünen-Politikerin derart überfordert, dass selbst ihr Rücktritt zur Posse geriet.
Und auch jene früheren Landespolitiker, die noch im Amt sind, fallen bislang nicht unbedingt durch Glanztaten auf. Entwicklungsministerin Svenja Schulze etwa, die vor ihrem Wechsel nach Berlin 2018 mehrere Jahre als SPD-Ministerin in Nordrhein-Westfalen arbeitete. Und Verkehrsminister Volker Wissing auch nicht. Zumal er in seinem Job als Verkehrsminister mehr von seiner bundespolitischen Erfahrung vor 2013 zehren dürfte als von seiner darauffolgenden Arbeit als liberaler Ressortchef in Rheinland-Pfalz.
Allerdings gibt es auch im aktuellen Kabinett ein Gegenbeispiel: Bevor es Wirtschaftsminister Robert Habeck auf die bundespolitische Bühne zog, machte er in Kiel Karriere – unter anderem als Fraktionschef der Grünen im Landtag und als Minister für Umwelt und Energiewende und stellvertretender Ministerpräsident.
Der "Rote Sheriff" Pistorius hat also durchaus die Chance, noch zum "Roten General" zu werden.
- Eigene Recherchen
- facebook.de: Rede von Boris Pistorius auf dem Landesparteitag der SPD Niedersachsen am 22. Mai 2022 (ab 3:50 h)
- Munzinger Archiv: Eintrag zu Boris Pistorius