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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Minister-Rücktritte Hier sitze ich und kann nicht anders
Der Druck auf Christine Lambrecht ist groß. Doch wann ein Minister wirklich zurücktreten muss, entscheidet sich im politischen Betrieb oft an Details – und am persönlichen Durchhaltewillen.
Die erste Ministerin kam der Ampelregierung nach nur vier Monaten abhanden. Und jetzt gibt es einige in Berlin, die fest mit einem zweiten schnellen Abgang rechnen. Erst musste die grüne Familienministerin Anne Spiegel im April ihren Hut nehmen, nach Wochen der Kritik an ihrem Verhalten während der Flutkatastrophe im Sommer 2021. Und nun hat sich die Opposition auf die Verteidigungsministerin eingeschossen.
Christine Lambrecht steht jetzt ebenfalls schon seit Wochen in der Kritik: Desinteresse bei der Führung ihres Hauses wirft man ihr vor, Kommunikationspannen bei der Unterstützung für die Ukraine. Und dann war da noch der Osterurlaub, bei dem ein Luftwaffen-Helikopter als Mitfluggelegenheit für den Sohn der Ministerin diente.
Am Donnerstag nutzte Oppositionschef Friedrich Merz (CDU) die Aussprache zur Regierungserklärung von Olaf Scholz, um einen rhetorischen Keil zwischen den Bundeskanzler und seine Parteifreundin Lambrecht zu treiben: "Trennen Sie sich von dieser Ministerin, so schnell wie möglich!".
Bemerkenswertes Sitzfleisch
So schnell wie möglich ist dabei eine interessante Formulierung. Lambrechts Fehler und Patzer erhalten durch den Krieg in der Ukraine und die Neuausrüstung der Bundeswehr gewiss eine besondere Dringlichkeit. Wie soll die von Scholz ausgerufene sicherheitspolitische Zeitenwende gelingen, wenn die zuständige Ministerin neben der Landes- und auch noch die Selbstverteidigung stemmen muss?
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Doch auch in derartigen Situationen, wo sich der Druck wochenlang aufgebaut hat und mit zentralen politischen Projekten der Regierung verknüpft ist, können Ministerinnen und Minister über bemerkenswertes Sitzfleisch verfügen. Das beweist der Blick auf die vergangene Bundesregierung: das vierte Kabinett unter Angela Merkel, das bis Ende 2021 amtierte.
Die Scheuer-Saga
Spricht man in Berlin darüber, wie groß ein Skandal sein kann, den ein Minister überstehen kann, fällt unweigerlich der Name Andreas Scheuer. Merkels Verkehrsminister sollte den CSU-Wahlkampfschlager einer Pkw-Maut für Ausländer umsetzen, den er selbst als Generalsekretär der Partei zuvor kräftig befeuert hatte.
Dabei führte er angesichts großer Widerstände hastige Geheimgespräche mit Mautbetreibern, die später den Steuerzahler auf eine halbe Milliarde Euro Schadensersatz verklagten. Einem Untersuchungsausschuss, der die teure Maut-Saga aufarbeitete, enthielt Scheuer Informationen vor. Mal berief er sich auf Erinnerungslücken. Mal wurden von einem Handy des Ministers Daten gelöscht. So begleiteten Scheuer in seinen beiden letzten Amtsjahren ständige Rücktrittsforderungen – doch der Mann blieb bis zuletzt im Sattel.
Etwas anders gelagert war der Fall der ehemaligen Familienministerin Franziska Giffey in der letzten Legislaturperiode. Sie galt als Person, die im Kabinett glänzte und Vorhaben mit griffigen Titeln wie "Gute Kita Gesetz" auf den Weg brachte. Eine Hoffnungsträgerin der SPD. Dann kamen Zweifel an ihrer Doktorarbeit auf. Es war für Giffey, Tochter einer Buchhalterin und eines KfZ-Meisters, ein herber Rückschlag. Die Promotion galt ihr als persönlicher Triumph.
Die Methode Giffey
Nach einer zweimaligen Prüfung der Dissertation trat Giffey von ihrem Amt zurück. Ihr Ministerium übernahm damals übrigens Christine Lambrecht. Manche sahen darin eine Flucht nach vorn – denn sie hatte eine Alternative. Bereits zuvor hatte Giffey signalisiert, sich für die SPD-Spitzenkandidatur bei der Landtagswahl in Berlin zu bewerben, heute ist sie Regierende Bürgermeisterin in der Hauptstadt.
Giffey löste das Problem auf ihre Weise: Sie versuchte mit dem Rücktritt vom Ministerposten ein sichtbares Signal der Demut zu setzen. Weil sie jedoch ihre weitere politische Karriere bereits plante, galt ihr Schritt manchen eher als taktisches Manöver und weniger als ehrliche Abbitte für Verfehlungen bei der Promotion.
Auf eine Demutsgeste verzichtete hingegen ihr Kabinettskollege Jens Spahn. Als Gesundheitsminister stand er in der Corona-Krise immer wieder unter Druck. Vor allem als im Juni 2021 nach einer "Spiegel"-Recherche der Eindruck entstand, Spahn unterscheide in Menschen erster und zweiter Klasse: Für eine Milliarde Euro wurden damals offenbar unbrauchbare Masken gekauft, Spahn plante, diese an Obdachlose, Behinderte oder Hartz-IV-Empfänger zu verteilen. SPD-Chefin Saskia Esken erklärte damals: "Mit dieser menschenunwürdigen Haltung hat man in der Politik nichts verloren." Spahn dementierte, dass die Masken minderwertig seien.
Einfach nicht aufgeben
Und er ließ sich nicht beirren, dachte nicht an einen Rücktritt. Selbst als er vorschlug, den Biontech-Impfstoff zu rationieren – was ihm massive Kritik einbrachte – war bei Spahn von Selbstkritik wenig zu sehen. Er gilt bis heute als jemand, der schlicht nicht aufgeben will. Ein Spahn-Rücktritt hätte wohl nur bevorgestanden, wenn die Kanzlerin gedroht hätte, ihn andernfalls zu entlassen. Wo Franziska Giffey sich für einen alternativen Karriereweg entschieden hatte, hielt Spahn einfach durch.
Das kann funktionieren. Doch weshalb trat in der letzten Legislaturperiode binnen vier Jahren – mit Ausnahme von Giffey – kein Minister und in der aktuellen Legislaturperiode nach vier Monaten bereits Anne Spiegel zurück?
Im Falle von Scheuer war es CSU-Parteichef Markus Söder, der seine schützende Hand über den strauchelnden Parteifreund hielt. Söder hatte kein Interesse daran, die CSU weiter zu beschädigen, also hielt er das Geschlinger mit der Maut in Berlin aus.
Beim Skandal um Jens Spahn war das Land noch in einer Art Schockzustand der Pandemie, in einer solchen Situation ausgerechnet den Gesundheitsminister zu wechseln, hätte auf manchen wie politisches Harakiri gewirkt.
Auch Christine Lambrecht könnte von zwei ähnlichen Umständen profitieren. Bundeskanzler Scholz stärkte ihr im aktuellen Schockmoment des Ukraine-Krieges zumindest demonstrativ den Rücken. Kürzlich sagte er im Interview mit t-online: "Wenn man in drei Jahren auf die Wahlperiode zurückblickt, wird es heißen: 'Sie ist die Verteidigungsministerin, die dafür gesorgt hat, dass die Bundeswehr endlich ordentlich ausgestattet ist.'"
Wie es für Lambrecht weitergeht, ist unklar. Der Druck ist zwar groß. Doch sie erklärt im Interview mit t-online auch, sie wolle Verteidigungsministerin bleiben. Zumal sie wisse, "dass der Kanzler meine Arbeit schätzt".
- Eigene Recherchen