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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gerhard Schröder Der Trotzkopf
Warum ist Gerhard Schröder nur so stur? Die Antwort ist wohl recht simpel: Weil er schon immer so war – und sein Trotz seine Karriere über Jahrzehnte begünstigte.
Am Abend des 19. November 2005 steht Gerhard Schröder vor dem Rathaus seiner Heimatstadt Hannover und hat Tränen in den Augen. Vor ihm steht das Stabmusikkorps der Bundeswehr und intoniert Frank Sinatras "I did it my way" in der Blechbläservariante, hinter ihm haben sich 600 geladene Ehrengäste versammelt, darunter auch seine 92-jährige Mutter Erika Vosseler.
Mit dem Großen Zapfenstreich wird der damals 61-Jährige in den Polit-Ruhestand verabschiedet. Kein Song hätte für seine Bilanz passender sein können. Gerhard Schröder, Sohn einer Kriegerwitwe, der in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, hat sich wider aller Wahrscheinlichkeiten nach oben gekämpft.
Sieben Jahre lang hat der Mann, der die Hochschulreife auf dem zweiten Bildungsweg nach der Lehre zum Einzelhandelskaufmann machte, die Republik regiert. Hat dem wichtigsten Verbündeten beim Irakkrieg getrotzt, in Brioni-Anzügen posiert, mit seiner Agenda 2010 zum Preis der Spaltung seiner eigenen Partei das Land reformiert und auch sonst stets das gemacht, was er für richtig hielt – und nicht das, was von ihm erwartet wurde.
Sein Weg eben. An diesem Abend ahnt niemand, dass Schröder und das Sinatra-Motto die SPD fast 17 Jahre später in eine ihrer schwierigsten Bredouillen bringen werden und dazu beitragen, dass die Reputation Deutschlands in der Welt massiv Schaden nimmt.
Es sei, so sagt es jemand, der ihn lange kennt, nicht zuletzt seine Trotzigkeit, die ihn einst erfolgreich gemacht habe – und die ihn nun ins Abseits führe.
Die Niedersachsen-Jahre
"So ist er eben." Es sind nur vier Worte, aber sie beschreiben Gerhard Schröders Erfolgsgeheimnis recht gut. 1986 verwenden die Journalisten vom "Spiegel" die spätere "Kanzler-Formel" als Schlagzeile. Vom Kanzleramt trennt Schröder damals noch weit mehr als nur der Zaun der Bonner Regierungszentrale, an dem er als junger Bundestagsabgeordneter gerüttelt hat. Mitte der 80er-Jahre hat Schröder es noch nicht einmal in die niedersächsische Staatskanzlei geschafft. Dass er dort 1990 einziehen würde, traut ihm niemand zu. Ihm, der 1986 die Landtagswahl gegen die CDU verliert.
Doch wenn eine Eigenschaft Gerhard Schröder, der in seiner Jugend mit dem Spitznamen "Acker" bedacht wurde, auszeichnet, dann ist es Beharrlichkeit, die ins Negative gewendet eben zu Sturheit und Trotz werden kann. Schröder verzichtet nach der Wahlschlappe auf sein Mandat im Bundestag – und macht fortan Landespolitik. Immer das Ziel vor Augen, doch noch Niedersachsens Landesvater zu werden.
Wie Schröder das Projekt vorantreibt, sorgt teils für Irritationen. Bei den Grünen, den natürlichen Verbündeten für einen Machtwechsel in Hannover, aber auch bei den eigenen Genossen. Ein Sozialdemokrat, der sich in der Wahlwerbung als Tennisspieler präsentiert, ist dann doch ein wenig abseits der reinen Lehre. In Lehrte, nicht weit der Landeshauptstadt, verzichten die Parteifreunde gar darauf, Schröders Wahlplakate anzubringen.
Sozialdemokratischer Pragmatismus
Den Geschmähten schert es offensichtlich wenig, zumal ihm der Erfolg recht gab. 1990 holt die SPD den Wahlsieg in Niedersachsen, koaliert mit den Grünen, denen Schröder 1986 noch misstraut hat. Nun haben wiederum die Grünen ihre liebe Not mit Schröder, der den von ihm angestrebten "sozialdemokratischen Pragmatismus" allzu pragmatisch auslegt. Waffenexporte? Für Schröder kein Unding, der Asylkompromiss mit der Union ebenso nicht. Aber auch die eigenen Genossen schont Schröder nicht. So sorgt sein rigider Sparkurs im Land für Aufregung.
Kritik hin- und anzunehmen, ist Schröders Sache eher nicht. "Reifeprüfung. Reformpolitik am Ende des Jahrhunderts" lautet der Titel seines 1993 veröffentlichten Buches. "Hier soll erzählt werden aus der politischen Praxis und von den Erfahrungen, die einer macht, der sich in politischen Konstellationen versucht, an die wir vor zehn Jahren nicht im Traum gedacht hätten", zitiert das sozialdemokratische Urgestein Erhard Eppler in einer Besprechung für den "Spiegel" daraus.
Als "Träumer" versteht sich Schröder allerdings bis heute aller Wahrscheinlichkeit eher weniger. Das Image als "Macher" scheint da eher zu passen, als Raufbold, der keinen Konflikt scheut.
So deichselt er auch auf Ebene der Bundespartei seinen Aufstieg. 1995 schasst Parteichef Rudolf Scharping ihn als wirtschaftspolitischen Sprecher. Doch bereits drei Jahre später ist Schröder wieder obenauf. Er hat die niedersächsische Landtagswahl im Frühjahr 1998 zur Volksabstimmung über den SPD-Kanzlerkandidaten ausgerufen. Als er die absolute Mehrheit holt, bleibt seinem Rivalen Oskar Lafontaine nichts anderes übrig, als zurückzustecken. Schröder wird Spitzenkandidat und führt die SPD zum besten Ergebnis seit den Zeiten von Willy Brandt.
"So ist er eben", schrieb 1986 der "Spiegel". Und so bleibt Schröder auch im Bundeskanzleramt nach 1998.
Die Kanzlerjahre
Schröders Kanzlerschaft ist in mehrfacher Hinsicht eine Zeitenwende. Nach 16 Jahren "ewigem Kanzler" Helmut Kohl übernimmt am 27. Oktober 1998 nicht nur wieder ein Sozialdemokrat das Steuer, sondern das auch noch in der ersten Koalition mit den Grünen auf Bundesebene.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 versichert Schröder den USA die "uneingeschränkte Solidarität" Deutschlands. Als die US-Regierung kurz danach mit ihrem "Krieg gegen den Terror" in Afghanistan beginnt, stellt der Kanzler im Bundestag die Vertrauensfrage, um mit größtmöglicher Mehrheit erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik deutsche Soldaten in einen Kampfeinsatz außerhalb des Nato-Gebiets zu schicken.
Es ist nicht die erste Nagelprobe für Rot-Grün: Schon kurz nach Beginn ihrer Amtszeit haben Schröder und sein grüner Außenminister Joschka Fischer einer deutschen Beteiligung an einem Nato-Einsatz im Kosovo zugestimmt und damit mit dem bisherigen (und im Koalitionsvertrag noch einmal betonten) Kurs der deutschen Außenpolitik als Friedenspolitik gebrochen. Noch so eine Zeitenwende, die die Grünen beinahe zerlegt.
Als Sturheit richtig war
2003 – im Jahr nach seiner knappen Wiederwahl – verweigert sich Schröder hingegen einer Beteilung an einem US-geführten Krieg gegen den Irak, woraufhin der amerikanische Präsident George W. Bush den europäischen Kontinent in "altes" und "neues Europa" zu spalten versucht.
Der Kanzler hält trotz des massiven Drucks aus Washington an seiner Weigerung fest, schmiedet eine Allianz mit Frankreichs Präsident Jacques Chirac und mit Wladimir Putin. Er hat dabei die Mehrheit der Deutschen, die gegen eine Kriegsbeteiligung ist, auf seiner Seite. Es ist ein Moment, in der sich die Sturheit des Kanzlers auszahlt.
Nicht so eindeutig fällt die Bewertung bei einem anderen Projekt aus, das Schröder stur gegen Widerstände durchsetzt: Mit seinen tiefgreifenden Sozialreformen, der Agenda 2010, spaltet er nicht nur das Land, sondern auch die eigene Partei. Diesen "Verrat" haben ihm viele Genossinnen und Genossen bis heute nicht verziehen. Auch wenn sich Deutschland, das zu Beginn von Schröders Amtszeit noch als "kranker Mann Europas" gegolten hat, anschließend wieder zur führenden Wirtschaftsmacht entwickelt.
Schröder selbst muss wegen der massiven Proteste gegen das Herzstück der Agenda, Hartz IV, 2005 erneut die Vertrauensfrage stellen. Als die SPD die Landtagswahl in NRW verliert, ist der Raufbold wieder da: Schröder will es nun wissen und provoziert vorgezogene Bundestagswahlen. Die Union unter Angela Merkel gilt als haushoher Favorit, doch Schröder führt einen fulminanten Wahlkampf. Am Ende liegen CDU/CSU nur noch knapp vor der SPD.
Er hat es mal wieder allen gezeigt. Noch am Wahlabend trumpft Schröder in der ihm eigenen Art auf. Er werde Kanzler bleiben, verkündet er großmäulig in der "Elefantenrunde" im TV und höhnt in Richtung Merkel: "Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel bei dieser Sachlage einginge, indem sie sagt, sie möchte Bundeskanzlerin werden? Man muss die Kirche doch mal im Dorf lassen."
Es ist ein lupenreiner Schröder-Moment mit ganz viel Sinatra-Mantra und Trotzigkeit.
Die Putin-Jahre
Und heute? Würde zumindest die SPD gerne so tun, als sei er gar kein Altkanzler mehr. "Gerhard Schröder agiert seit vielen Jahren schon als Geschäftsmann und wir sollten damit aufhören, ihn als Elder Statesmen, als Altkanzler wahrzunehmen", sagte SPD-Chefin Saskia Esken am Montag. "Er verdient sein Geld mit der Arbeit für russische Staatsunternehmen."
Und in der Tat verlor Schröder keine Zeit. Nur 17 Tage, nachdem er aus dem Kanzleramt ausgeschieden war, rief ihn Anfang Dezember 2005 Wladimir Putin auf seinem Handy an. So hat Schröder es der "New York Times" für den Text erzählt, der am Wochenende so viel Wirbel auslöste. Putin habe ihn gefragt, ob er nicht Aufsichtsratschef der Betreibergesellschaft von Nord Stream werden wolle. Mehrheitseigner: der russische Staatskonzern Gazprom. "Haben Sie Angst, für uns zu arbeiten?", soll Putin gefragt haben.
Hatte er nicht, was schon damals besonders FDP und Grüne kritisierten. Schröder wies das in Schröder-Manier als "Aufgeregtheiten" und "kleinkariert" zurück. Der Inzwischen-Altkanzler blieb also: trotzig.
Mit 250.000 Euro entlohnt
Dabei gab es natürlich durchaus gute Gründe für die Kritik. Immerhin hatte Schröder das 7,4-Milliarden-Euro-Projekt noch im Kanzleramt mit Putin federführend ausgehandelt. Nur um sich dann für den Aufsichtsratsposten mit 250.000 Euro im Jahr entlohnen zu lassen. Vorwürfe, er habe das Projekt als Kanzler interessengeleitet unterstützt, wies Schröder als "falsch und ehrenrührig" zurück.
Im Endeffekt aber ließen Schröder die internationalen Widerstände, die es damals gegen das gesamte Projekt unter anderem von Polen gab, genau so kalt wie die deutsche Kritik.
Das gilt auch für die weiteren Posten in Putins Energieimperium, die Schröder in der Folge ansammelte. Inzwischen ist er auch Präsident des Verwaltungsrats der Nord Stream 2 AG und Aufsichtsratschef beim ebenfalls staatlichen russischen Energiekonzern Rosneft. Ob er nun auch noch in den Aufsichtsrat von Gazprom selbst geht, lässt Schröder bislang offen.
Wirklich überraschend wäre das nicht, auch wenn der Aufschrei wieder riesig wäre. Doch den Konflikt hat Gerhard Schröder ja noch nie gescheut. Im Zweifel aus Prinzip. Aus Trotz. Er fühlte sich immer dann am stärksten, wenn irgendwie alle gegen ihn waren.
- Eigene Recherchen
- New York Times: The Former Chancellor Who Became Putin's Man in Germany
- Spiegel: "Das bin alles ich"
- Spiegel: So ist er eben
- Spiegel: Macher und Mäkler
- Spiegel: "Mutiges 'political animal'"
- Spiegel: "Ich wollte hier Ministerpräsident werden"