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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Steinmeier erkundet die Provinz "Ich fand ihn immer etwas abgehoben"
Erreicht die Politik überhaupt noch die Bürger? Weil die Kluft immer größer wird, greift Bundespräsident Steinmeier zu ungewöhnlichen Mitteln. Das läuft nicht immer wie geplant.
Am zweiten Tag landet der Bundespräsident in einer Glühwein-Cocktailbar. Es ist schon dunkel, der Wind ist kalt an diesem Abend in Thüringen, also warum auch nicht? Das Staatsoberhaupt stellt sich neben einen Heizpilz und trinkt ein dampfendes Gebräu namens Glüh-Gin.
Gerade erst ist ein junger Mann auf ihn zugekommen. Er stellt sich als Lehrer vor und fragt, warum es immer noch nicht mehr Geld für Bildung gebe. Frank-Walter Steinmeier verweist auf den Föderalismus: Die Bundesländer seien verantwortlich. Der Lehrer ist damit zufrieden. "Im Fernsehen fand ich ihn immer etwas abgehoben", sagt Andreas Huhn kurz darauf. Er ist zugleich Stadtrat für die Linkspartei hier in Altenburg. "Aber hier wirkt er wie ein normaler Mensch."
Der Cocktail und die Begegnung mit Huhn sind Teil von Steinmeiers Experiment namens "Ortszeit Deutschland". Es ist das Programm für seine jetzt begonnene zweite Amtszeit, in der er sich ein bisschen neu erfinden will. Der Bundespräsident möchte nach zwei Jahren Pandemie wieder sehr viel mehr im Land unterwegs sein – und das nicht nur auf Stippvisite, sondern tiefer abtauchen. Mehrere Tage in einer Kleinstadt bleiben, die Ängste vor Ort erspüren, die Zweifel am Staat und an der Demokratie zerstreuen, so zumindest der Plan.
Oder in den Worten von der Glühweintheke: eben nicht "etwas abgehoben" wirken.
Parkhotel statt Schloss Bellevue
Dafür hat Steinmeier für drei Tage Quartier in Altenburg bezogen. Ganz offiziell sogar: Die Amtsgeschäfte führt er aus einem schlichten Hotel, an dessen Eingang nun die Standarte des Bundespräsidenten weht. Statt Schloss Bellevue nun "Parkhotel Altenburg".
Sein Befund, der ihn hierher gebracht hat, lautet: Die Politik und die Bürger haben sich sehr weit voneinander entfernt. Vielleicht erkennt der Bundespräsident das Problem auch in seiner eigenen Vita.
Steinmeier, der selbst aus bescheidenen Verhältnissen stammt, hat die vergangenen 23 Jahre im Zentrum der Berliner Politik verbracht. War Kanzleramtschef unter Gerhard Schröder, Außenminister unter Angela Merkel, SPD-Fraktionschef, dann wieder Außenminister und seit 2017 nun Staatsoberhaupt.
"Ein toller Mann!"
Jetzt also Altenburg. Eine ehemalige Residenzstadt mit großer Vergangenheit und einer schwierigen Gegenwart. Wie in vielen Gegenden zieht es die Jugend fort. Gut 30.000 Einwohner sind geblieben, 6.000 Wohnungen stehen leer. Bei der letzten Bundestagswahl lag im Wahlkreis die AfD vorn.
Die Menschen vor Ort freuen sich zumindest, mal den Präsidenten zu Gesicht zu bekommen. Als Steinmeier am Samstag durch die Stadt geht, wird viel gewunken. "Ein toller Mann!", ruft eine Frau aus der Menge. Zwei ältere Frauen, mit denen Steinmeier kurz scherzt, finden es ebenfalls "toll, dass sich jemand wie er hier blicken lässt". Pöbler? Nicht in Sicht.
Steinmeier macht Abstecher in traditionsreiche Geschäfte, besucht einen Schleifer und eine Chocolaterie. Und dann beißt er natürlich auch noch genussvoll in die obligatorische Thüringer Rostbratwurst. So produziert der Besuch schöne Bilder.
Doch Steinmeier will ja mehr: Er möchte spontanen Austausch, versichert er, etwas erfahren. Doch für einen Bundespräsidenten, der keinen Schritt ohne einen Tross aus ständigen Begleitern mit Sicherheitsleuten, Mitarbeitern und Journalisten macht und oft nur auf Leute trifft, zu denen er bereits ein Dossier vorliegen hat, ist das wirklich schwierig.
Kaffeerunde mit Corona-"Spaziergängerin"
Sein Amt hat in Altenburg mehrere Runden organisiert, wo Tacheles geredet werden soll. Am Samstagnachmittag lädt man im Gewölbe des Restaurants "Ratskeller" zur "Kaffeerunde kontrovers": zehn Teilnehmer, Steinmeier in der Mitte, am Tafelende sind eine Organisatorin der Corona-"Spaziergänge" und ein Gegendemonstrant gleich gegenüber platziert.
Denn Altenburg plagen teils aggressive Proteste gegen Corona-Maßnahmen und Staat, in die sich wie anderswo auch rechtsextreme Gruppen mischen.
Die Gegnerin der Corona-Maßnahmen in der Runde heißt Madeleine Winterling. Sie habe, so erzählt sie es, aus Sorge um eine Gängelung von Kindern, eine Gruppe im Messenger-Dienst Telegram gegründet, den Protest begonnen und jetzt fühle sie sich in die rechte Ecke gedrängt.
Ihr gegenüber sitzt ein Mann mit langen Haaren und langem Bart von den Linken, der es nicht verstehen kann, wie die Frau unerlaubte Demonstrationen mit Rechtsextremen abhalten könne. Als es um die Frage geht, warum man neben Nazis demonstrieren würde, wird es sofort hitziger.
Krieg? Nein, hier gibt es andere Sorgen
Der Bundespräsident will damit überzeugen, dass Demokratie davon lebe, dass nun einmal Entscheidungen getroffen werden und diese dann auch akzeptiert werden müssten. Ob er Winterling damit erreicht? Nach dem Gespräch sagt sie: "Jeder kann doch von jedem lernen." Ob sie nun mehr Vertrauen hat in die Politik, so wie es Steinmeiers ausdrückliches Ziel ist, beantwortet sie nicht klar.
Was in den Gesprächsrunden in Altenburg auffällt: Der Krieg in der Ukraine, der die Schlagzeilen beherrscht, spielt kaum eine Rolle. Mehr geht es um die Angst um die Zukunft der Heimat. Die Alten bemängeln die Lethargie der Jugend und den Wegzug. Schülerinnen wiederum klagen, dass es für sie vor Ort keine Geschäfte gebe. Ist es bei uns überhaupt noch lebenswert? Diese Sorge dominiert.
Der Bundespräsident ist fast verwundert. Er kennt andere Orte, die weniger zu bieten haben als Altenburg mit seinem mehrsprachigen Theater, seinem großen Kino. Doch hinter vielen der schönen Fassaden lauert eben Leerstand.
Der Präsident und das "Nüscht"
Bei den von ihm gewünschten spontanen Begegnungen bleibt bisweilen Skepsis zurück. Die Verkäuferin in der Chocolaterie erzählt, als der Steinmeier-Tross längst weitergezogen ist, vom Gespräch mit dem Bundespräsidenten.
Sie habe ihre Sorge vor einem weiteren Verfall der Innenstadt geteilt und vor den hohen Spritpreisen. Beides gehöre zusammen, sagt Katrin Rehfeld, denn weil das Benzin so teuer sei, kämen die Leute immer seltener in die Innenstadt gefahren. Sie selbst überlege, seltener zu fahren, ihre Arbeitsstunden auf wenige Tage in der Woche zu konzentrieren.
Das alles habe sie dem Bundespräsidenten also geschildert. Und was hat der geantwortet? "Nüscht", sagt Rehfeld. Sie zuckt mit den Schultern. Enttäuscht sei sie allerdings nicht gewesen, sagt sie. Sie habe das so von einem Politiker auch erwartet. Es bleibt also noch einiges zu tun für den Bundespräsidenten.
- Eigene Beobachtungen vor Ort