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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukraine-Krieg Wut auf Putin löst absurde Aktionen gegen Russen aus
Putins Krieg gegen die Ukraine hat die Welt in Aufruhr versetzt. Doch die berechtigte Wut auf das Regime in Moskau führt auch immer häufiger zu fragwürdigen Aktionen gegen Russen im Alltag.
Paolo Nori steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Am Dienstag postete der italienische Schriftsteller ein Video auf Instagram, in dem er darüber berichtete, dass die Universität Mailand-Bicocca eines seiner Seminare "verschieben" werde. Der Grund: Der Kurs sollte sich mit dem russischen Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski befassen.
Vor der Kamera las Nori aus dem Absageschreiben der Universität vor. Mit der vorläufigen Absage solle "jede Kontroverse, insbesondere interne, in Zeiten starker Spannungen" vermieden werden, hieß es darin.
Dostojewski (1821–1881) ist einer der bekanntesten Schriftsteller Russlands. Seine Werke wie "Schuld und Sühne", "Der Idiot" und "Die Brüder Karamasow" sind Weltliteratur, wurden in Hollywood verfilmt. Zugleich war er Vertreter eines atheistischen Sozialismus, wurde zwischenzeitlich zum Tode verurteilt und in ein sibirisches Lager gesteckt.
Seine Ideen und seine Radikalität machen ihn bis heute auch bei Nationalisten populär. Zu seinem 200. Geburtstag im vergangenen November feierte der russische Präsident Wladimir Putin ihn als "genialen Denker und Patrioten Russlands".
All diese Aspekte sind längst erforscht und bekannt. Sie sind Teil jedes Seminars über Dostojewski. Ihn deshalb vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs "canceln" zu wollen, wie der politische Kampfbegriff heißt, mutet abwegig an.
Entsprechend empört zeigt sich Nori im Video. Er führt noch weitere Beispiele an: Etwa das eines russischen regierungskritischen Journalisten, der von einer Veranstaltung in Italien wieder ausgeladen worden sei. Weil er Russe ist.
Attacken auf Chinesen nach Ausbruch von Corona
Wenn internationale Krisen auch in weiten Teilen der Bevölkerung Beachtung finden, führt dies immer zu zwei Reaktionen: Zu beeindruckenden und oft sehr kreativen Solidaritätsbekundungen mit den Opfern der Konflikte – und zu völlig überzogenen Verhaltensweisen bis hin zu pauschalen Angriffen auf all jene, die als Angehörige des "Täterlandes" wahrgenommen werden.
Nachdem sich aus dem chinesischen Wuhan weltweit das Coronavirus ausgebreitet hatte, häuften sich Berichte von Chinesinnen und Chinesen in Deutschland und anderen Ländern, die in der Öffentlichkeit beschimpft und attackiert wurden. Diesmal sind es russische Bürger und Bürgerinnen, die im Ausland leben und teilweise undifferenziert zur Zielscheibe werden. Ein paar Beispiele:
- Ein Restaurant im baden-württembergischen Bietigheim erklärte Gäste mit russischem Pass kurzerhand für "unerwünscht". "Es ist uns bewusst, dass der 'normale' russische Staatsbürger keine Schuld an den kriminellen Handlungen der russischen Regierung trägt", lautete die Erklärung auf der Homepage des Restaurants. Man wolle aber ein Zeichen setzen: "Dies ist unser Beitrag, damit unsere Kinder in einem friedlichen Europa leben können." Nach massiven Protesten und Drohungen löschte der Betreiber die Botschaft und bat auf der Homepage des Restaurants um Entschuldigung. Die Gaststätte wird derzeit aus Sorge vor Angriffen von der Polizei überwacht.
- Eine Münchner Klinikdirektorin teilte in einer E-Mail mit, sie werde keine russischen Patienten (aus dem Ausland) mehr aufnehmen. Als Grund nannte sie die Politik des "offenbar geistig gestörten Autokraten Putin". Nun mag es sinnvoll erscheinen, die Sanktionen gegen Russland durch die Verweigerung von Dienstleistungen in anderen Bereichen zu unterstützen. In der Medizin gilt freilich die eiserne Regel, dass die Nationalität bei der Behandlung eines Patienten keine Rolle spielen darf – lediglich die Frage, ob die Behandlung medizinisch notwendig ist. Die Direktorin hat ihre Ankündigung inzwischen zurückgenommen.
- Im nordrhein-westfälischen Oberhausen wurde ein russisches Lebensmittelgeschäft mit Farbbeuteln verschmiert. Ein Video davon kursiert in den sozialen Netzwerken. Die Polizei Oberhausen bestätigte t-online den Vorfall. Da ein politischer Hintergrund nicht ausgeschlossen werden könne, habe der Staatsschutz der Polizei die Ermittlungen übernommen.
- Der aus Russland stammende deutsche Schriftsteller Wladimir Kaminer berichtet, dass er Drohbriefe erhält: "'Sehr geehrter Russe', schreibt mir Ewald D. 'Hoffentlich haben Sie Ihre Koffer schon gepackt; Sie sind bei uns eine unerwünschte Person. Hauen Sie ab, solange es noch gesittet zugeht. Nur ein toter Russe ist ein guter Russe.'" Kaminer lebt seit über 30 Jahren in Deutschland und hat Putin immer wieder öffentlich kritisiert. Bereits in der Krim-Krise 2014 schrieb er, dass er sich für sein Land und dessen Politik schäme.
- Aber auch die russische Kultur ist betroffen. So sagte die Polnische Nationaloper in Warschau die geplante Aufführung von "Boris Godunow" für April ab. In einer schriftlichen Erklärung schrieb Direktor Waldemar Dabrowski: "Wir haben unseren Sitz in Warschau, einer Stadt, die noch sehr lebhaft die ersten Bomben in Erinnerung hat, die im Zweiten Weltkrieg aus dem Himmel fielen. Wir sind tief betroffen vom Krieg in der Ukraine und dem Leid der ukrainischen Bevölkerung. Wir bewundern den Heldenmut der Ukrainer, die aufgestanden sind, um ihr Land zu verteidigen." Deshalb habe man sich entschlossen, die Premiere der Oper und weitere Aufführungen abzusagen. Man hoffe, die Vorführungen in "Friedenszeiten" nachholen zu können.
Der Komponist Boris Petrowitsch Musorgksy, der die Oper komponiert hat, ist wie Dostojewski seit fast 150 Jahren tot. "Boris Godunow" gilt als eines der wichtigsten Werke in der Entwicklungsgeschichte der Oper. Ein Thema darin ist der Missbrauch von Macht und die Irreführung des Volkes.
Im Fall des italienischen Schriftstellers Paolo Nori und seinem abgesagten Dostojewski-Seminar schien sich zunächst eine Lösung abzuzeichnen. Nach einem Sturm der Empörung zeigte sich die Universitätsleitung bereit, den Kurs doch zuzulassen.
Doch inzwischen hat Nori selbst abgesagt. Er begründete seinen Schritt damit, dass die Universität von ihm verlangt habe, neben Dostojewski auch noch über einen ukrainischen Schriftsteller zu sprechen.
- Eigene Recherchen