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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mehr Flüchtlinge aus Afghanistan Bei der Integration drohen schon wieder dieselben Fehler
Die Zahl der Asylanträge steigt, besonders von Afghanen. Gleichzeitig leben in Deutschland bereits Tausende in einem Schwebezustand – der schädlich ist für die Integration. Experten drängen auf einen Kurswechsel.
Das Leben im Leerlauf. So fühlt es sich derzeit für Abul A., Asylbewerber aus Afghanistan, an. Vor fünf Jahren kam er als 17-Jähriger nach Deutschland, lernte die Sprache, ging zur Schule. Vor einem Jahr dann der Hauptschulabschluss. Seine Lehrer rieten ihm, eine Ausbildung zu suchen – das wäre der bessere Weg, um eine längere Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.
Bis heute bekommt er keine. Zwar könnte er sich mit einem Ausbildungsplatz auf eine spezielle Duldung bewerben. Doch vielen Arbeitgebern sei sein Status zu unsicher, weil ihm im vergangenen Jahr bereits die Abschiebung drohte, erzählt er.
Samim J. hat zwar eine Arbeit bekommen. Sein minderjähriger Sohn ist aber noch in Afghanistan. Seit Jahren versucht er ihn nach Deutschland zu holen. Weil er aber nur geduldet ist, hat er kein Recht auf Familiennachzug.
Nicht einmal Hälfte der Asylanträge wird angenommen
Die Geschichten von Abul A. und Samim J. sind beispielhaft, rund 30.000 Afghanen sind in Deutschland lediglich geduldet. Sie bilden zwar eine der größten Gruppen von Asylbewerbern in Deutschland, im vergangenen Jahr stellten nur Syrer mehr Anträge. Anders als bei Syrern oder Eritreern nimmt das Bundesamt für Migration (Bamf) laut eigenen Zahlen allerdings nicht einmal die Hälfte der Anträge im ersten Verfahren an – für diese Antragssteller galt die Lage in Afghanistan offenbar als nicht gefährlich genug.
Weil sie aber aus humanitären oder familiären Gründen nicht abgeschoben werden dürfen, bekommen sie eine Duldung – ein Status, der mehrmals im Jahr neu genehmigt werden muss. Seit der Machtübernahme der Taliban sind Abschiebungen gänzlich ausgesetzt.
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Viele landen so in einer Art Zwischenstation – wie Abul A. oder Samim J.. Laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken lebten Ende Juni fast 120.000 Afghanen in Deutschland, deren Asylantrag im ersten Schritt abgelehnt wurde.
Viele Ablehnungen vor Gericht aufgehoben
Zwar wird ein großer Teil der Asylanträge über die Jahre dann doch anerkannt – teilweise aber erst von Gerichten. Allein 2020 haben mehr als 8.000 Asylbewerber vor Gericht gegen ihren ablehnenden Asylbescheid geklagt und Recht bekommen. Andere versuchen über die Ausbildungs- oder Beschäftigungsduldung einen Aufenthaltstitel zu erlangen.
Asylantrag, Folgeantrag, Klage vor Gericht – all das kostet viel Zeit. Zu viel, wenn es darum geht, die Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, findet Niklas Harder, Wissenschaftler am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. "Vielen Afghanen wurden Integrationschancen verwehrt", sagt er.
Das liege nicht allein an den langwierigen Asylverfahren und dem Duldungsstatus. Auch dass Afghanistan als Herkunftsland mit "schlechten Bleibechancen" gilt, ist ein Problem. Denn so dürfen die Menschen auf lange Zeit keine Sprachkurse besuchen und haben keinen Zugang zum Arbeitsmarkt.
Langwierige Verfahren sorgen häufiger für psychische Probleme
Für Harder ist vor allem letzteres für die Integration entscheidend. Er verweist auf eine Studie. Von 1999 auf 2000 wurde in Deutschland die Zeit, ab wann Asylbewerber arbeiten dürfen, um sieben Monate verkürzt. Die Untersuchung vergleicht die Asylbewerber aus den beiden Jahrgängen – mit dem Ergebnis, dass erst nach zehn Jahren beide Gruppen gleichermaßen auf dem Arbeitsmarkt angekommen waren.
"Je länger das Verfahren dauert, desto schwieriger ist die Integration auf lange Sicht", sagt Niklas Harder. Asylbewerber, die in langwierigen Verfahren stecken, lernen weniger häufig die Sprache, haben öfter mit psychischen Probleme zu kämpfen. Und: "Es ist naheliegend, dass dieser Schwebezustand eher zu Beschäftigung im Graubereich oder Kriminalität führen kann", sagt Harder. "Das sollte sich nicht wiederholen, deswegen sind jetzt schnelle Asylverfahren das Wichtigste."
Uneinigkeit in den Ministerien
Das gilt auch für die jetzt Neuankommenden. Mit Ausnahme von Ortskräften, von denen viele Anspruch auf einen direkten Aufenthaltstitel haben, müssen sie einen Asylantrag stellen. Laut dem Bamf ist die Zahl der Anträge in diesem Jahr bis September um 138 Prozent gestiegen. Einige Tausend kamen über die Luftbrücke aus Kabul und mithilfe weiterer kleinerer Evakuierungsmissionen. Aber auch über die sogenannte Belarus-Route und über Griechenland erreichen mehr Afghanen Deutschland. Für sie alle gilt: Zurück können sie auf unbestimmte Zeit nicht.
Doch in der Bundesregierung herrscht derzeit Uneinigkeit. So konnten sich das Arbeitsministerium und das Innenministerium nicht auf eine gemeinsame Linie verständigen. Im Alleingang hob das Ministerium von Hubertus Heil (SPD) also die Restriktionen für afghanische Asylbewerber auf: Ab Anfang Dezember sollen sie früher Sprachkurse besuchen oder Kurse beim Arbeitsamt machen dürfen.
Arbeiten selbst aber sollen sie dann noch nicht dürfen. Dazu bräuchte es die Zustimmung des Innenministeriums, das bisher jedoch noch keine Änderungen angekündigt hat. Auch eine Anfrage dazu von t-online blieb unbeantwortet. Das führt zu der absurden Situation, dass afghanische Asylbewerber bald zwar Sprachkurse, aber keine Integrationskurse besuchen können.
Wochenlang keine Asylanträge von Afghanen bearbeitet
Auch an anderer Stelle hakt es: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge etwa bearbeitet derzeit gar keine Asylanträge. Sie sind "zurückpriorisiert", wie es auf Behördendeutsch heißt. Bis wann, ist unklar. Bis vor Kurzem noch wartete das Bamf auf den Lagebericht des Auswärtigen Amts über Afghanistan, der eine Grundlage für Asylentscheidungen ist, nun müsse er noch ausgewertet werden. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, der Bericht wurde am 23. Oktober verschickt.
Herbert Brücker, seit 2018 Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung, sieht diese Verzögerung mit Sorge: "Zeitverzug verzögert die Integration und kostet damit auch Geld", sagt er. "Es wäre also auch im Eigeninteresse, die Asylverfahren zu beschleunigen." Für ihn ist klar, dass es derzeit gar keine andere Möglichkeit gibt, als dass die Menschen nicht zurückkönnen nach Afghanistan. "Die Annahme, man könnte in größerem Umfang nach Afghanistan abschieben, ist schon lange realitätsfremd", sagt Brücker.
Brücker sieht gute Integrationschancen
Der Volkswirtschaftler hat kürzlich am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung die Perspektiven für Afghanen analysiert. Obwohl die Voraussetzungen schwieriger waren, heißt es in der Studie, haben sich Afghanen bisher im Vergleich zu anderen Asylbewerbern gut am Arbeitsmarkt integriert. Für diejenigen, die nun angekommen sind, erwartet Brücker noch bessere Integrationschancen. "Viele sind gebildet, sprechen bereits Englisch oder Deutsch", sagt er.
Auch die hier lebenden geduldeten Afghanen haben nun gute Chancen, über einen Asylfolgeantrag einen Schutzstatus zu bekommen, sagt Brücker. Dafür müssen sie allerdings einen Folgeantrag stellen. Das Bamf verzeichnete im September bereits eine starke Zunahme.
Auch Abul A. und Samim J. bemühen sich um einen Schutzstatus. Doch die verlorene Zeit wird nicht wiederkommen. A. ist frustriert ob der jahrelangen Verfahren. Und für die Familienzusammenführung von J. könnte es zu spät sein. Denn selbst wenn er jetzt einen besseren Status bekommt – bisher hat Deutschland noch keine diplomatischen Beziehungen zu den neuen Herrschern Afghanistans.
- Eigene Recherche
- Gespräche mit Niklas Harder und Herbert Brücker
- Anfragen an Bamf, Arbeitsministerium, Innenministerium, Auswärtiges Amt
- Bamf: Asyl in Zahlen
- Antwort der Bundesregierung auf kleine Anfrage der Linken: Zahlen in der Bundesrepublik Deutschland lebender Flüchtlinge zum Stand 30. Juni 2021
- Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Erfahrungen aus der Vergangenheit und erste Einschätzungen der Folgen für Migration und Integration
- Science Advances: The long-term impact of employment bans on the economic integration of refugees