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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vor alles entscheidendem Parteitag CDU, das D steht für Durcheinander
Wer wird CDU-Chef? Dass sich niemand eine Prognose zutraut, hat auch damit zu tun, dass die Christdemokraten vor ihrem Parteitag so orientierungslos wirken wie lange nicht. Insider sprechen bereits vom Ausnahmezustand.
In diesen Tagen greift Norbert Röttgen besonders oft zu seinem iPhone. Mit seinem Team telefoniert er Parteifunktionäre ab. Die wichtigste Frage bei der Werbetour in eigener Sache: "Hast du dich schon entschieden?" Viele der Angerufenen haben sich bereits festgelegt, wen sie als neuen Parteichef wählen wollen – aber sie sagen nicht, wen.
Jemand aus der Spitze der Union berichtet: "Es ist gespenstisch: Niemand will sich in die Karten schauen lassen vor der wichtigen Entscheidung am Samstag. Überall lauern Spione, die im Zweifel auch die vertraulichsten Informationen an die gegnerischen Gruppen ausplaudern. Man kann niemandem mehr vertrauen." So klingt es, das Grundrauschen der CDU kurz vor dem Parteitag am Samstag.
Insider: Es herrscht der Ausnahmezustand
Die Partei wirkt hochnervös, während die drei Kandidaten um den Vorsitz in dieser Woche alle auf ihre Weise kämpfen: NRW-Ministerpräsident Armin Laschet verbreitet seine Positionen in Zeitungsinterviews, Friedrich Merz spricht bei "Markus Lanz", und Norbert Röttgen versucht, die Delegierten persönlich in Einzelgesprächen zu überzeugen.
In der früher als linientreuer "Kanzlerwahlverein" verspotteten CDU haben alle drei Kandidaten gute Chancen. Niemand gilt als Favorit. Das ist schon jetzt eine der größeren Überraschungen.
Es ist praktisch unmöglich zu prognostizieren, wie die 1.001 Delegierten am Samstag abstimmen werden. Damit ist auch die Kanzlerkandidatur der Union völlig offen. Günter Krings, Staatssekretär im Innenministerium, sagt: "Es wird ein knappes Rennen, und für uns als Partei ist die Entscheidung einerseits spannend, aber auch eine Herausforderung."
Die CDU erinnert in diesen Tagen an einen Satelliten, der ziellos durchs Weltall rast. Es herrscht, so berichten es Insider, der Ausnahmezustand.
Die letzte Phase des Wahlkampfs um den Vorsitz eröffnete am vergangenen Sonntag ausgerechnet Laschet. Nachdem er sich über Monate mit markigen Äußerungen zurückgehalten hatte, gab er der "Bild am Sonntag" ein Interview, das den Satz enthielt: "Ich gehe davon aus, dass ich gewinne." Prompt folgte die Unterstützung von oberster Ebene: Kanzleramtsminister Helge Braun und Noch-CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer signalisierten ihre Unterstützung für den NRW-Mann. Im "Spiegel" sprachen sich verschiedene CDU-Fraktionsvorsitzende aus den Landesparlamenten für Laschet aus.
Laschets politische Karriere steht auf dem Spiel
In der Schwesterpartei finden das einige bemerkenswert. Ein CSU-Abgeordneter sagt: "Würden die Parteioberen bei uns so offensiv für einen Kandidaten werben, dann würden die Delegierten wahrscheinlich schon aus Trotz jemand anderen wählen."
In der CDU liegen die Dinge anders. Denn für Armin Laschet, der in der Corona-Krise das bevölkerungsreichste Bundesland regieren muss, geht es mittlerweile um mehr als das Streben nach dem Parteivorsitz. Laschet könnte CDU-Chef werden – oder er könnte nicht mal in die Stichwahl mit einem anderen Bewerber im zweiten Wahlgang kommen. Dann würde er in NRW wohl als angezählt gelten. Ein Ministerpräsident, der so von den Delegierten verschmäht wird, dessen Rückhalt dürfte auch im Landesverband bröckeln. Für Laschet steht seine ganze politische Karriere auf dem Spiel.
Sein größter Konkurrent ist nicht Friedrich Merz, sondern Norbert Röttgen. Ihre Positionen unterschieden sich nur marginal, denkbar ist, dass Röttgen und Laschet sich gegenseitig Stimmen wegnehmen. Denn Röttgen hält nicht erst seit diesen Tagen engen Kontakt zu den Delegierten. Seit dem Sommer reist er durch die Republik. Erst fuhr er die Kreisverbände mit dem ICE ab, mittlerweile redet er über sein iPad auf die einzelnen Delegierten ein. Dass jeder von ihnen wichtig ist, das ist seit dem Parteitag 2018 klar: Damals konnte Friedrich Merz nur etwa 17 Delegierte zu wenig von sich überzeugen, anschließend wurde Kramp-Karrenbauer Parteichefin.
"Beharrung in Lagern und Strukturen"
Ex-Unionsfraktionschef Friedrich Merz, dem oft vorgeworfen wird, dass er ein Mann der Vergangenheit sei, toppt Röttgen mit dessen iPad zumindest in der technischen Ausstattung: Der ehemalige Blackrock-Aufsichtsrat hat eine große Videokamera an sein MacBook anschließen lassen, so spricht er mit den Delegierten. Friedrich Merz in Full-HD.
Dass die CDU jetzt so ziellos wirkt, liegt auch an dem knapp ein Jahr andauernden Wahlkampf. Seit elf Monaten ist klar, dass sich Annegret Kramp-Karrenbauer von der Spitze zurückziehen wird und seit elf Monaten ist offen, wer ihr nachfolgt. Für die CDU ist das eine lange Zeit, zumal es kaum persönliche Treffen gibt: "Das digitale Prozedere erzeugt ein Stück weit Beharrung in Lagern und Strukturen", sagt Eckhardt Rehberg, der haushaltspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion.
Auch der Parteitag wird rein digital ablaufen, es gibt anschließend per Brief nur eine Bestätigung des Ergebnisses. Die stellvertretende Unionsfraktionschefin Nadine Schön sagt: "Dass der Parteitag digital stattfindet, ist ein absolutes Novum. Alle sitzen daheim, die übliche Blase, in der wir Delegierten uns bei Parteitagen befinden, ist nicht vorhanden. Aber dadurch hat man natürlich auch direkteren Kontakt zur 'normalen Welt', wenn man es so ausdrücken will."
Jeder vor dem heimischen Rechner am Küchentisch
Bei dem Parteitag geht es vor allem auch um das Verfahren: Die Kandidaten sprechen zwar auf einer Bühne in Berlin, doch was fehlt, ist das Publikum. Die 1001 Delegierten, die sich entscheiden müssen, sitzen daheim, jeder vor dem heimischen Rechner am Küchentisch oder im Arbeitszimmer. Für die Kandidaten, die jeweils eine viertelstündige Rede halten, gibt es kein Feedback aus dem Publikum.
In erster Linie ist das ein Nachteil für Friedrich Merz. Seine größte Stärke besteht darin, die Stimmung in Hallen für sich zum Kochen zu bringen. Als noch größere Veranstaltungen möglich waren, ließ sich das oft beobachten. Beim Parteitag im Dezember 2018 unterlag er Kramp-Karrenbauer auch deshalb, weil sie eine sehr starke Rede hielt und ausgerechnet Merz eine, die weit unter seinen rhetorischen Möglichkeiten lag.
Für die CDU muss die neue Form nicht schlecht sein: Die Kandidaten lassen sich direkter miteinander vergleichen. Dass nur wegen einer aufgepeitschten Stimmung ein neuer Chef bestimmt wird, ist deutlich weniger wahrscheinlich geworden.
"Das ist parteischädigendes Verhalten"
Auf den neuen Chef wartet eine riesige Aufgabe. Denn ein weiterer Treibstoff für die aktuelle Unruhe in der Partei ist die ungelöste Kanzlerfrage. Viele Delegierte wissen nicht, ob sie am Samstag lediglich den Parteichef der CDU oder gleich den Kanzlerkandidaten der Union bestimmen. Nur Friedrich Merz, so viel ist sicher, will wohl unbedingt Regierungschef werden. Für ihn ist das Amt als CDU-Chef kein Selbstzweck, er will es als Sprungbrett nutzen, um dann im Kanzleramt zu landen.
Bei Armin Laschet ist die Gemengelage schon nicht mehr ganz so eindeutig. Er hat angesprochen, dass er sich wohl auch das höchste Regierungsamt zutraut, aber auch gesagt, dass man mit der Entscheidung noch warten könne, am besten bis in den März oder April hinein.
Spricht man Merz-Anhänger darauf an, sagen die: "Es ist unfassbar, darüber auch nur nachzudenken, dass der Parteichef nicht auch Kanzlerkandidat werden müsse. Das ist parteischädigendes Verhalten ohnegleichen." Viele Funktionäre denken zurück an Kramp-Karrenbauer. Ein Parteivorsitzender ohne machtvolles Amt habe keine Prokura, das habe man ja bei AKK gesehen, heißt es.
Es ist kompliziert
Jens Spahn spielt dabei eine Sonderrolle. Eigentlich kandidiert er als Vize von Laschet für den Vorsitz der Partei. Doch er hat vor allem durchblicken lassen, dass er sich die Kanzlerkandidatur zutraut. Zunächst telefonierte er in der Union herum, um seine Chancen abzuklopfen – anschließend erklärte er im "Deutschlandfunk", dass er eine eigene Kanzlerkandidatur "Stand heute" ausschließe.
Diese Formulierung ist in der Politik durchaus wörtlich zu nehmen. Schon morgen könnte Spahn etwas anders sagen und über den "Stand gestern" sprechen. In der Union beginnen sich die ersten bereits zu fragen, wen von den dreien sie eigentlich wählen sollen, wenn Sie wollen, dass Jens Spahn Kanzlerkandidat wird. Dessen Teampartner Armin Laschet, der ja aber selbst aufs Kanzleramt schielt? Es ist kompliziert.
"Als Tiger gestartet, als Bettvorleger gelandet"
Und dann gibt es ja da noch weitere Aspiranten. Beispielsweise Ralph Brinkhaus, Fraktionschef der Union im Bundestag. Er erklärte kürzlich, dass der Kanzlerkandidat nicht zwingend Parteivorsitzender von CDU oder CSU sein müsse. Danach hielt er sich aber mit Aussagen zurück. Ein CDU-Landeschef lästert deshalb über ihn: "Er ist als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet, der Brinkhaus."
Setzt sich das Chaos in der CDU fort, könnte das vor allem einem Mann in München nützen: Wenn der neue CDU-Chef bei den ersten Landtagswahlen im März und April keine guten Ergebnisse erhält und in der Bevölkerung nicht beliebter wird, könnte Markus Söder als Kanzlerkandidat gerufen werden.
In München heißt es, dass die CDU ihm den roten Teppich allerdings schon "bis an die Schwelle der Staatskanzlei" ausrollen müsse, damit Söder darüber spaziert. Georg Nüßlein, stellvertretender Fraktionschef der Union im Bundestag und CSU-Abgeordneter, sagt: "Es ist ja völlig klar, dass die CSU ein Wörtchen mitzureden hat bei der Frage nach der Kanzlerkandidatur. Ich denke, es sollte am Ende derjenige antreten, der die besten Chancen bei den Wählern hat."
Auch deshalb wächst die Sorge in der CDU vor einer Spaltung im Superwahljahr. Nadine Schön, die Vize-Fraktionschefin, die aus dem Saarland stammt, mahnt: "Als CDU müssen wir uns wirklich überlegen, wie wir mit Parteichefs umgehen. Ich habe etwas Sorge, dass der nächste Parteichef – ähnlich wie jetzt Frau Kramp-Karrenbauer – wieder hart in die Mangel genommen wird. Das darf nicht passieren.“ Schön setzt hinzu: "Auch wir brauchen eine gesunde Fehlerkultur." So klingt es, wenn schon der Schutzschirm für den nächsten Parteichef präventiv aufgespannt wird.
- Eigene Recherchen