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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zum Jahreswechsel Spahn isst Kuchen, Lindner trinkt Cola und Gauland ohne Abstand

Das Jahr 2020 ist vorbei. Doch es spiegelt sich noch einmal wider — ausgerechnet im Café des Deutschen Bundestags. Hier führen die Großen der Politik unfreiwillig ein Kammerspiel als Jahresrückblick auf.
Jens Spahn sieht erschöpft aus. Der Bundesgesundheitsminister stochert in seinem Kuchen, der auf einem weißen Keramikteller vor ihm steht und starrt auf sein iPhone. Es ist ein später Nachmittag, Ende November, Spahn sitzt im vielleicht letzten geöffneten Café in Deutschland: Es liegt neben dem Plenarsaal im Deutschen Bundestag, im Reichstagsgebäude.
Auf den hier ausgedruckten Kassenbons wird es offiziell als „Caféteria“ bezeichnet, weil man sich Getränke und Snacks von einer Theke abholen muss und sich nicht an den Platz bringen lassen kann. Ein Cappuccino kostet 2.50 Euro.
Aber weil die meisten Einrichtungen zur Nahrungsaufnahme im Bundestag geschlossen sind, kommen nun die bundespolitischen Entscheider in den letzten sogenannten "Sitzungswochen" des Jahres, immer dann, wenn der Bundestag zusammentritt, hierher.
Ein beklemmender Stillstand
Wer ein wenig Zeit in diesem Café verbringt, dem offenbaren sich die aufgefächerten Facetten der deutschen Politik. Die unfreiwillige Aufführung trug sich schon Ende November zu, doch sie wirkte wie ein Kammerspiel als Jahresrückblick.
In Jens Spahn, der mitten im Raum sitzt, die Beine weit von sich getreckt, spiegelt sich die gesamte Bundesregierung: Im Februar blickte er, wie viele, noch leicht spöttisch auf China, wo ein Shutdown im Land verhängt wurde. Kurz darauf erreichte Corona dann die Bundesrepublik. Spahn sorgte für ein „Herunterfahren“ des Landes — was so klingt, als wäre der Großcomputer Deutschland ausgeschaltet worden. In Wahrheit war es ein beklemmender Stillstand: Kinos, Restaurants, Theater schlossen — ein Land hielt inne.
Jens Spahn beschäftigt sich weiter mit seinem iPhone, er hebt nur selten den Blick. Man wüsste natürlich gern, was der Gesundheitsminister da eigentlich eintippt: Bestellt er eifrig FFP2-Masken? Simst er mit dem Gründer von Biontech? Oder kauft er sich eine weitere Villa?
Lindner ist ganz allein
Sicher ist, dass die Pandemie für Spahn wie ein Karrierekatapult wirkte. Er hatte als Bundesgesundheitsminister plötzlich eines der wichtigsten Ämter des Kabinetts inne und musste die Pandemie in den Griff bekommen. Das gelang ihm auch ganz gut — von einigen Fehlern lenkte er mit entschlossener Krisenrhetorik ab. Teilweise wirkte er da eher wie Markus Söder, weniger wie sein Tandempartner beim Rennen um den CDU-Vorsitz, Armin Laschet.
Auftritt Christian Lindner: Der FDP-Chef betritt das kleine Café, er kauft sich eine Cola und setzt sich an den Tisch ganz links an der Wand, mit dem Blick direkt zur nächsten Wand. Lindner ist ganz allein.
Auf der diametral gegenüberliegenden Seite des Raumes hat die FDP-Politikerin Linda Teuteberg jetzt Platz genommen. Weiter kann man von Lindner im Café gar nicht entfernt sein, sie unterhält sich angeregt mit ihrem Gesprächspartner.
Eher wird AKK dann Kanzlerin, bevor der Herrenwitz aus der FDP verschwindet
Die FDP hangelt sich zwischen fünf und sechs Prozent in den Umfragen hin und her, und vielleicht liegt das auch an dem Zerwürfnis zwischen den beiden. Im Sommer beschloss Linder nämlich, dass er seine Generalsekretärin Teuteberg feuern wollte, wohl wegen der miesen Umfragewerte.
Doch seinen Humor hatte der Oberliberale nicht verloren. Auf dem Parteitag verabschiedete er Teuteberg mit den Worten, man habe ja in der Zeit der Zusammenarbeit — hoho — "ungefähr 300 Mal zusammen den Tag begonnen", inklusive einer Kunstpause. Gelächter, natürlich von Männern, auf dem Parteitag, steinerne Miene von Teuteberg. Hinterher relativierte Lindner, alles nicht so gemeint, natürlich. Annegret Kramp-Karrenbauer wird wohl eher nächste Bundeskanzlerin, bevor der Altherrenwitz aus der FDP verschwindet.
Für gewöhnlich werden Spitzenpolitiker wie Lindner und Spahn umschwirrt von Mitarbeitern, hier sind sie ganz allein. Sie sitzen an den quadratischen Plastiktischen, jeder etwa 70 auf 70 Zentimeter groß. Die leisen Gespräche zerschneidet nur ab und zu ein Gong. Dann marschieren alle Abgeordneten zur Abstimmung in den Plenarsaal.
2020 entzauberte den Populismus
Hinter dem Tisch, wo vorhin Jens Spahn saß, hat jetzt Alexander Gauland Platz genommen. Spahn ist schon wieder verschwunden, doch Gauland hat etwas Wichtiges zu besprechen. Mit zwei Vertrauten steckt er also eng die Köpfe zusammen, um Abstand schert sich keiner. Hauptsache, es hört niemand mit.
Es gibt wohl einiges zu besprechen. 2020 war kein gutes Jahr für die Rechten, der Populismus auf der ganzen Welt wurde von Corona entzaubert — Länder wie die USA und Brasilien, wo Präsidenten sitzen mit großem Mundwerk aber keiner Krisenstrategie, beklagen Hunderttausende Tote.
Gauland trägt hellgraue Schuhe zum Hineinschlüpfen, seine Füße hat er während des Gesprächs sorgfältig nebeneinander unter dem Tisch abgestellt. Seine Partei versuchte mühsam, die Corona-Proteste so zu kapern, wie das 2015 bei der Pegida-Bewegung schon einmal gelang. Dieses Mal ging es schief. Doch mittlerweile ist die AfD ohnehin zu sehr mit sich selbst beschäftigt, denn in der Partei umklammert mancher nur noch den Mantel der Bürgerlichkeit, an dem die meisten Parteifreunde schon zerren.
Alles ist offen
Gauland, die graue Eminenz aus dem Hintergrund, werkelt behutsam und sacht daran, die Partei Millimeter für Millimeter noch tiefer in die rechte Ecke hineinzudrücken, als sie es ohnehin schon ist. Schon wieder läutet die Klingel, wieder machen sich die Abgeordneten auf den Weg.
Und schon ist das Jahr vorbei, die Vorstellung im Kammertheater des Cafés beendet — und alles ist offen: Ob Christian Lindner ab September 2021 überhaupt noch über die Gänge des Reichstags schlendern wird, ist wegen der miserablen Lage seiner Partei unklar. Was Jens Spahn dann im Herbst beruflich macht, noch weniger sicher. Und: Ob der 79-Jährige Alexander Gauland nochmal für eine ganze Legislaturperiode in den Bundestag will, wollte er in der letzten Zeit nicht mal selbst klar beantworten.
- Beobachtungen in der Cafeteria im Reichstag