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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bundestagspräsident Schäuble "Wo Corona-Spinnerei anfängt, kann und will ich nicht definieren"
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble äußert sein Unverständnis über die genehmigte Corona-Demonstration in Leipzig vor einer Woche. Im Interview mit t-online geht er auch auf den Wahlausgang in den USA ein.
Herr Schäuble, falls es im nächsten Jahr einen Staatsbesuch des US-Präsidenten geben sollte: Kommt dann Joe Biden nach Berlin oder doch Donald Trump?
Es gibt keine ernsthaften Zweifel daran, dass Joe Biden die Wahl gewonnen hat. Ich hoffe, dass das Ergebnis auch bald vom unterlegenen Kandidaten anerkannt wird. Die jetzige Situation, dass der Verlierer das nicht macht, gab es so noch nie.
Biden hat zwar recht deutlich gewonnen, aber Trump Millionen Stimmen mehr als 2016…
…weil die Wahlbeteiligung gestiegen ist. Wie man es dreht und wendet: Der Verlierer muss anerkennen, dass er verloren hat. Das ist wie im Fußball. Da muss man sich nicht darüber freuen, dass der Andere gewonnen hat, aber man muss es akzeptieren.
Im Fußball gibt es aber den Videobeweis.
Und in der Demokratie werden die Stimmen ausgezählt. So einfach ist das. Nach allem, was wir wissen, wurde bei der Auszählung mit großer Sorgfalt vorgegangen.
Hätten Sie es für möglich gehalten, dass Trump und viele Republikaner die Niederlage nicht eingestehen wollen?
Ich habe mich in den vergangenen Jahren schon öfters über die Entwicklung der Republikaner gewundert. Und das hat nicht erst mit der Präsidentschaft von Donald Trump begonnen.
Aber das müsste Sie doch beschäftigen: Denn die Republikaner sind der CDU ein bisschen näher als die Demokraten.
Nein, das ist nicht so eindeutig. Das Parteiensystem in den USA ist ganz anders als bei uns. Manche der Positionen, die beispielsweise der demokratische Senator Bernie Sanders vertritt, wären in der Mitte der CDU noch halbwegs akzeptabel.
Mag sein. Trotzdem hat Trump nach einer beispiellosen Präsidentschaft ein recht gutes Ergebnis erzielt. Was sagt das über die US-Gesellschaft aus?
Wir machen oft den Fehler, dass wir glauben, die USA seien ein europäisches Land und im Grund so ähnlich wie Deutschland. Aber sie sind fast ein ganzer Kontinent, das führt zu vielen Unterschieden. Fest steht, dass die amerikanische Gesellschaft – wenn es sie so überhaupt gibt – sehr gespalten ist. Deshalb wurde Trump vor vier Jahren gewählt.
Was folgt daraus?
Wir können nur hoffen, dass Biden gelingt, was er als sein wichtigstes Ziel ausgegeben hat: Diese Spaltung abzubauen und damit einen für die Demokratie normalen politischen Wettbewerb zu ermöglichen. Demokraten und Republikaner sind keine Feinde, sondern Rivalen.
Hoffnung ist keine Gewissheit.
Die gibt es nie.
Klingt nicht wirklich beruhigend.
Der Teil der Welt, der Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und Demokratie verpflichtet ist, hat nicht nur an einem führungsstarken und handlungsfähigen Amerika Interesse, er ist sogar darauf angewiesen. Dass Europa in den vergangenen Jahrzehnten einen unglaublich glücklichen Abschnitt seiner Geschichte erlebt hat, war nicht selbstverständlich. Ohne die Vereinigten Staaten wären Sicherheit, Frieden und Wohlstand in Deutschland und Europa nicht möglich gewesen.
Allein könnte Europa es auch heute noch nicht?
Wir haben ohne die USA schon so unsere Mühe. Amerika war lange im Mittelmeer mit seiner 6. Flotte präsent. Inzwischen sind sie das dort nicht mehr, und wir sehen, wie schwer es Europa fällt, in regionalen Konflikten wie dem zwischen der Türkei und Griechenland Stabilität zu vermitteln.
Müssen wir Europäer also zu einer Friedensmacht werden?
Wenn man europäische Länder heute vor die Wahl stellen würde, ob sie sich in der Not lieber auf die EU oder die USA verlassen würden, dann wäre die Antwort häufig: "Sorry EU, aber Amerika ist für uns dann doch existenziell wichtiger." Das Beste, was uns passieren kann, ist eine verantwortungsvoll handelnde Supermacht USA. Aber als Europäer müssen wir uns auch darüber verständigen, welche Verantwortung wir selbst übernehmen.
Interessieren Sie sich für die US-Politik? Washington-Korrespondent Fabian Reinbold schreibt über seine Arbeit im Weißen Haus und seine Eindrücke aus den USA unter Donald Trump einen Newsletter. die dann einmal pro Woche direkt in Ihrem Postfach landet.
Allerdings könnte Trump oder ein ähnlich radikaler Republikaner in ein paar Jahren an die Macht zurückkehren. Müssen wir Europäer die Zeit bis dahin nicht nutzen, um selbstständiger zu werden?
Wir sollten immer die Zeit nutzen. Aber wir sollten uns auch nicht jetzt schon Gedanken über die nächste Präsidentschaftswahl machen, wenn Biden noch nicht einmal im Amt ist.
Europa muss wohl auf Biden zugehen. Wie Trump fordert er ebenfalls, dass wir mehr für Verteidigung ausgeben.
Die Amerikaner beklagen nicht zu Unrecht, dass sie die Lasten tragen und wir Europäer uns gern einen schlanken Fuß machen. Das hat übrigens schon John F. Kennedy gesagt – und der war eine Art Barack Obama meiner Studentenzeit in den Sechzigerjahren.
Aber das transatlantische Verhältnis unter Kennedy war deutlich besser als unter Trump.
Was es mit Trump so schwierig gemacht hat, war seine Art, jeden multilateralen Ansatz zu zerstören. Wir brauchen aber mehr globale Strukturen, um zu verhindern, dass die Welt völlig aus den Fugen gerät. Deshalb ist es gut, dass Biden zurück ins Pariser Klimaschutzabkommen will und dass seine Regierung hoffentlich wieder konstruktiv in der Weltgesundheitsorganisation mitarbeitet. Das war übrigens früher die Position der Republikaner. Aber gut: Unsere Parteien verändern sich auch.
Fürchten Sie, dass wir in Europa auch einen Trumpismus bekommen – oder haben wir ihn längst?
Nochmal: Die Verhältnisse sind sehr unterschiedlich. Aber klar ist, dass es in allen Teilen der sogenannten westlichen Welt nach einer langen, stabilen Zeit große Umwälzungen in den Parteiensystemen gibt – sei es in Frankreich oder Italien. Auch der Brexit ist ohne die Probleme von Tories und Labour nicht erklärbar.
- US-Beziehungen zu Deutschland: Trump ist nicht das größte Problem
Die etablierten Parteien in Deutschland haben ebenfalls Akzeptanzprobleme.
Na klar. Die Union ist mit Ergebnissen von mehr als 30 Prozent noch eine Ausnahmeerscheinung im europäischen Vergleich. Aber wir in CDU und CSU wissen selbst am besten, dass auch unsere Situation nicht ganz so stabil ist. Die Kanzlerin hat erst kürzlich daran erinnert, wie unsere Umfragewerte vor Corona waren.
Immerhin hat die Corona-Krise die Lage der CDU stabilisiert.
Das stimmt. Das liegt aber auch an Angela Merkel, die lange unsere Vorsitzende war und deren überragende Bedeutung als Bundeskanzlerin gerade in der Krise sichtbar wird. Daneben bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung für einen Parteichef wenig Raum. Nun, da die Ära Merkel absehbar endet, wird dieser Raum größer für den neuen Parteivorsitzenden. Die Kandidaten haben jetzt ihre Chance, sich zu beweisen.
Keiner dieser Kandidaten kann bislang so richtig überzeugen. Sie sind vor rund zwei Monaten 78 Jahre alt geworden, Joe Biden wird es in wenigen Tagen. Also: Wurden Sie schon zur Kandidatur gedrängt?
Ich strebe das Amt des CDU-Vorsitzenden nicht an.
Auch nicht das des Kanzlers?
Ich kann Sie auch in diesem Fall beruhigen.
Fürchten Sie nicht, dass es auf dem Parteitag Mitte Januar ein knappes Ergebnis geben könnte?
Na und? Das ist so in einer Demokratie. Konrad Adenauer ist 1949 mit nur einer Stimme Mehrheit gewählt worden…
…aber als Kanzler im Bundestag und nicht als Vorsitzender auf einem Parteitag.
Trotzdem haben enge Entscheidungen bei der CDU damit eine gewisse Tradition. Und ein knapper Sieg ist mir lieber als eine klare Niederlage.
Was müsste Ihre Partei tun, um die nächste Bundestagswahl zumindest knapp zu gewinnen?
Die Ausgangslage ist 2021 eine besondere. Die Kanzlerin hat selbst entschieden, dass sie geht, und das gab es zuvor noch nie. Ein Neuanfang ist immer schwierig, vor allem nach vier Wahlperioden. Bei Konrad Adenauer war es nicht einfach...
… bei Helmut Kohl auch nicht.
Oh nein – und da bin ich ein besonders guter Zeuge. Auch bei Angela Merkel wird es nicht leicht. Aber Gesellschaften und damit auch Parteien erfinden sich eben immer wieder neu – entweder freiwillig oder durch den Zwang der Verhältnisse. Und wenn sie es nicht tun, werden sie sich früher oder später aus der Geschichte verabschieden. Das geht schneller als man denkt.
Sie denken auch an die Sozialdemokraten?
Was aus der traditionsreichen und – das kann man als Christdemokrat ohne Anführungszeichen sagen – ruhmreichen SPD geworden ist, bereitet Sorgen. Aber das geht offenbar fast allen europäischen Parteien der gemäßigten Linken so und hat eine Ursache in einer radikal veränderten Gesellschaft und Arbeitswelt. Die klassische Arbeiterlaufbahn, bei der man mit 16 eine Lehre anfing und anschließend 50 Jahre im selben Betrieb arbeitete, gibt es inzwischen kaum noch. Statt an diesem traditionellen Bild festzuhalten, sollten sich alle Parteien um Antworten bemühen, wie sich unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Chancengerechtigkeit verbinden lassen.
Haben Sie eigentlich Verständnis dafür, dass am vergangenen Samstag Zehntausende Menschen in der Leipziger Innenstadt demonstrieren durften, obwohl absehbar war, dass sie massenhaft gegen die Corona-Regeln verstoßen?
Ich habe Verständnis für diejenigen, die Schwierigkeiten damit haben, die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, die Kundgebung in der Innenstadt zu genehmigen, nachzuvollziehen. Die Bürger können nicht ins Kino, nicht ins Konzert, nicht ins Restaurant. Und dann sehen sie eine Demonstration, auf der gemeinsam gefeiert wird. Das ist wirklich schwierig.
Können Sie die Demonstranten verstehen, die eine "Corona-Panikmache" kritisieren?
Natürlich darf man sagen, dass es schlimmere Krankheiten gibt. Es ist auch legitim, sich zu überlegen, ob es nicht problematisch ist, dass im Moment weniger Menschen mit anderen akuten oder chronischen Erkrankungen ins Krankenhaus gehen. Das sind alles berechtigte Gedanken.
Wo hört Ihr Verständnis auf?
Die Grenze, ab der Corona-Spinnerei anfängt, kann und will ich nicht definieren. Was ich aber weiß: Proteste muss die Demokratie aushalten, und einzelne echte Spinner gab es schon immer. Entscheidend ist doch, dass die überwiegende Mehrheit der Bürger sagt: Die beschlossenen Maßnahmen sind notwendig und hilfreich.
Ein Verschwörungstheoretiker würde Ihnen jetzt wahrscheinlich entgegnen: Typisch, dass Sie als Bundestagspräsident das Establishment verteidigen.
Dann würde ich antworten: Lassen Sie uns doch auf die Fakten schauen. So mies kann die deutsche Politik mit ihrer Strategie nicht sein. Denn alle anderen beneiden uns jetzt um unser Gesundheitssystem, das vorher als teuer und ineffizient galt. Und im Vergleich mit anderen Ländern sind wir bislang besser durch die Pandemie gekommen.
Für Europa stimmt das, aber für Asien nicht.
Wir sollten uns mit anderen europäischen Staaten vergleichen, auch weil sie ein ähnliches Verständnis über die Rolle des Datenschutzes haben. Der macht es für den Staat nicht wirklich einfach – anders als in vielen Teilen Asiens.
Inwiefern?
Nehmen Sie die Corona-App. Wenn wir sie in der Verfolgung von Kontakten wirksamer machen wollten, wüchse der Widerstand dagegen. Viele Menschen machen sich eben Sorgen um die Sicherheit ihrer Daten.
Facebook und Twitter könnten überprüfen, dass wir bei Ihnen sitzen, weil unsere Handys auf dem Tisch liegen. Diese Konzerne dürfen also mehr über uns wissen als der deutsche Staat bei der Bekämpfung der Pandemie – ist das nicht absurd?
Über die Sinnhaftigkeit des europäischen Datenschutzverständnisses könnten wir jetzt stundenlang diskutieren.
Sind Sie optimistisch, dass der Teil-Lockdown Ende November beendet wird?
Ich bin jedenfalls optimistisch, dass wir die Herausforderungen der Pandemie gut meistern.
Das ist bei allem Optimismus allerdings keine Antwort auf unsere Frage.
Dann versuche ich es so: Der Winter ist und bleibt eine Herausforderung.
Welche Pläne haben Sie für Weihnachten?
Meine Frau und ich hoffen, dass wir mit unseren Kindern und Enkelkindern gemeinsam bei uns feiern können. Ich hoffe sehr, dass das klappt. Und wenn nicht, lotsen uns unsere Enkel schon in irgendeine Chatgruppe, in der wir dann feiern.
Herr Schäuble, wir danken Ihnen für das Gespräch.
- Persönliches Interview mit Wolfgang Schäuble in Berlin