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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Union und SPD Verhandlungen auf Messers Schneide

Die Arbeitsgruppen sind fertig, jetzt müssen die Chefs ran: Union und SPD stehen vor schwierigen Verhandlungen. Denn sie sind sich längst nicht nur bei der Migration und dem Geld uneins.
Bärbel Bas überlegt einen Moment, bevor sie antwortet. Gerade wurde die SPD-Politikerin gefragt, wie denn die Stimmung bei den Gesprächen mit der Union dieser Tage so sei. Immerhin sitzt die ehemalige Bundestagspräsidentin in der entscheidenden 19er-Runde der Chefverhandler. Doch während Bas an diesem Donnerstagvormittag entspannt der Einladung des Frauennetzwerks "Frauen 100" zum Parlamentarischen Frühstück gefolgt ist und nun vor rund 50 Gästen sitzt, haben von CDU und CSU beinahe alle abgesagt.
"Da brennt die Hütte", scherzt die Moderatorin noch und Bas presst die Lippen ein wenig zusammen, als müsste sie sich das Grinsen verkneifen. Dann sagt sie: "Ich könnte jetzt ein paar Stanzen raushauen. Aber das spar' ich mir. Es sind echt harte Gespräche."
Und diese Gespräche gehen heute Nachmittag im Willy-Brandt-Haus in die heiße Phase. In der SPD-Parteizentrale treffen sich die Chefverhandler und beugen sich über die 16 Papiere der Facharbeitsgruppen. Es wird ernst – und kompliziert.
Denn sie müssen sich überall dort einigen, wo die Arbeitsgruppen das bisher nicht geschafft haben. Da inzwischen alle Papiere durchgesickert sind, obwohl die Chefs das eigentlich verhindern wollten, weiß man: Sie werden noch viel zu tun haben. Nicht nur in der Migrationspolitik, aber auch dort.
"... dann können wir nicht regieren"?
Die Union hatte den Menschen im Wahlkampf eine "Migrationswende" versprochen. Wenn es keinen Koalitionspartner gebe, der da mitgehe, "dann können wir nicht regieren", sagte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sogar. Eine harte Ansage, die auch in der Union zu hohen Erwartungen führt.
Es gibt sie, die geplanten Verschärfungen: Die Liste sicherer Herkunftsländer etwa soll ausgeweitet und schwerkriminelle Migranten sollen abgeschoben werden. Eine Pflicht für einen Rechtsbeistand soll es bei Abschiebungen nicht mehr geben, die Möglichkeiten für Ausreisegewahrsam sollen ausgeweitet werden.
Andere Verschärfungen, die der Union wichtig sind, will die SPD bislang nicht mitgehen. Sie stehen im Papier der Arbeitsgruppe "Innen, Recht, Migration und Integration" in eckigen Klammern und der blauen Schrift der Union: "Bundesausreisezentren" an Flughäfen etwa, um Abschiebungen zu erleichtern. Oder der Versuch, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern.
Zumindest auf dem Papier einig sind sich Union und SPD bei den Zurückweisungen. Allerdings auch nur auf dem Papier. Zurückweisungen sollen demnach "in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn" stattfinden, steht dort. Doch was heißt das? Dass die Union unter "Abstimmung" lediglich versteht, dass die Nachbarn informiert werden müssten, löst in der SPD Unruhe aus.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner sagt t-online: "Man muss nicht Deutsch studiert haben, um zu wissen, dass Abstimmen nicht heißen kann: 'Ich trete dir die Tür ein und sage eine halbe Stunde vorher Bescheid'." Abstimmung heiße umgekehrt auch nicht Zustimmung, sondern dass man sich mit den EU-Nachbarn "über das Verfahren verständigt". Dieses Verfahren könne, je nach Nachbarstaat, unterschiedlich ausfallen.
Nur, ist das die "Migrationswende", die der Union und ihren Anhängern vorschwebt? Reicht ihr das? Eigentlich nicht. Denn fragt man bei CDU und CSU nach, heißt es zumindest hinter vorgehaltener Hand, dass die Chefrunde bei der Migration deutlich nachschärfen müsse, wenn man wirklich wolle, dass sich etwas verändert. Der Halbsatz "in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn" sei bereits ein Zugeständnis an die SPD, das man im besten Fall wieder herausverhandeln müsse. Es dürfe an den entscheidenden Stellen keinen Interpretationsspielraum geben, heißt es dort.
Viele große und kleine Aufreger
Die Migrationspolitik ist eines der größten Problemfelder in den Verhandlungen von Union und SPD. Doch es gibt viele weitere. Sie sind mehr oder weniger groß, aber alle symbolträchtig und umstritten. Es sind politische Triggerpunkte, klassische Aufreger. Da wären zum Beispiel Fragen wie:
- Atomkraft, ja, bitte? Die Union will weiter prüfen, ob sich die abgeschalteten AKW reaktivieren lassen. Und sie will auch mehr Gas in Deutschland fördern. Die SPD will beides nicht.
- Tempolimit: Die SPD will 130 km/h auf Autobahnen festschreiben. Die Union will festschreiben, dass sie ein Tempolimit ablehnt.
- Kommt die Wehrpflicht zurück? Ginge es nach der Union, wäre die Antwort: Ja. Die SPD aber setzt weiter auf einen rein freiwilligen Dienst an der Waffe.
- Schwangerschaftsabbrüche: Die SPD will den Paragrafen 218 im Strafgesetzbuch streichen und Abbrüche legalisieren. Die Union nicht.
- Bleibt das Hanf frei? Die Union will die Teillegalisierung von Cannabis rückgängig machen, die SPD nicht.
- Heizungsgesetz: Hier sind sich nicht mal die Arbeitsgruppen einig. Die AG Verkehr, Infrastruktur, Bauen, Wohnen will es "abschaffen". In der Klima-AG haben Union und SPD ihren Streit dokumentiert: Die SPD will es "novellieren" und die Regeln "technologieoffener, flexibler und einfacher" machen. Die Union will es "abschaffen", ohne genau zu schreiben, was das heißt, während die Förderung bleiben soll.
- Verbrennerverbot ab 2035? Die Union will es wieder abschaffen. Die SPD will dabei bleiben, dann nur noch klimaneutrale Fahrzeuge zuzulassen.
- Geschlechtseintrag ändern: Die Union will das Selbstbestimmungsgesetz wieder abschaffen, die SPD nicht – und zusätzlich einen Nationalen Aktionsplan "Queer leben" einführen.
- Transparenz, nein, danke? Die Union will das Informationsfreiheitsgesetz in jetziger Form abschaffen, das Bürgern und Journalisten einen Anspruch auf amtliche Informationen sichert. Die SPD sperrt sich bislang dagegen.
Die Rechnung, bitte!
Am Ende könnte nicht wenig von einer Frage abhängen: Wie wollen sie das alles bezahlen? Ähnlich wie im Sondierungspapier finden sich auch in den Papieren der Arbeitsgruppe bislang wenige Ideen, wo eingespart werden kann. Beim Geldausgeben fällt Union und SPD deutlich mehr ein.
Es hilft dem Haushalt zwar, dass das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch entschieden hat, dass der Solidaritätszuschlag für Gutverdiener und Unternehmen rechtmäßig ist. Sonst wären knapp 13 Milliarden Euro pro Jahr weggefallen. Wenig hilfreich ist aber, dass sich die Arbeitsgruppe Finanzen auf kaum etwas einigen konnte. Sie brach ihre Gespräche im Streit vorzeitig ab.
Im Abschlusspapier wimmelt es von roten und blauen Textblöcken, in denen SPD und Union ihre Ideen dokumentieren, auf die sie sich nicht einigen konnten. Die Union will die Gewerbesteuer tendenziell senken, die SPD den Zurechnungssatz von 25 auf 30 Prozent erhöhen. Die Union will Unternehmen entlasten, indem sie die Körperschaftsteuer ab 2026 von 15 auf 10 Prozent senkt. Die SPD will sie erst ab 2029 und nur um einen Prozentpunkt reduzieren. Die Sozialdemokraten sorgen sich, wie das alles zu finanzieren ist.
Bei der Einkommensteuer ist der Streit ebenso groß: Die Union will den Spitzensteuersatz von 42 Prozent erst ab 80.000 Euro im Jahr greifen lassen (statt wie bislang ab 68.000 Euro). Die SPD will ihn auf 47 Prozent erhöhen und ab 83.600 Euro erheben. Außerdem wollen die Sozialdemokraten den Reichensteuersatz ab rund 278.000 Euro im Jahr von 45 auf 49 Prozent steigen lassen. Und so geht das weiter im Papier mit den blauen und roten Textblöcken im Wechsel.
"Wahnsinnig viel Geld wird man nicht einsparen können"
Der SPD-Wirtschaftspolitiker Sebastian Roloff hält eine Lösung dennoch grundsätzlich für möglich. "Gerade bei Steuern und Abgaben kann man oft eine Art Paketlösung machen, bei der beide Seiten zu ihrem Recht kommen. Die SPD legt Wert darauf, kleinere und mittlere Einkommen zu entlasten, die Union Unternehmen", sagt Roloff. Das gehe teilweise mit derselben Maßnahme.
Der konkrete Weg dorthin müsse allerdings noch ausverhandelt werden. "Wie wir das klug gegenfinanzieren, etwa indem wir die Top-Verdiener etwas stärker in die Pflicht nehmen, müssen jetzt die Hauptverhandler klären", so Roloff, der auch Mitglied im SPD-Vorstand ist. Natürlich müsse man über Kürzungen der Staatsausgaben sprechen, etwa bei klimaschädlichen Subventionen. Doch solle allen Beteiligten klar sein: "Wahnsinnig viel Geld wird man nicht einsparen können. Das wird auch die Union einsehen müssen."
Es bleibt also noch viel zu tun für die Chefs.
- Eigene Recherchen
- fragdenstaat.de: Übersicht über die AG-Papiere