"Querdenken"-Demo in Leipzig Seehofer: "Polizei hat meine volle Rückendeckung"
Viele Tausend "Querdenker" demonstrieren inmitten der Pandemie in Leipzig. Eine Debatte über die Taktik der Polizei entbrennt. Innenminister Horst Seehofer warnt nun vor voreiliger Kritik.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat nach den massenweisen Regelverstößen bei der Leipziger Corona-Demonstration vor vorschneller Kritik an der Polizei gewarnt und auch die Gerichte in die Pflicht genommen. "Wir müssen damit aufhören, die Taktik der Polizei im Nachhinein ohne Kenntnis von Details und ohne vollständiges Bild per Ferndiagnose zu hinterfragen. Alle Beteiligten, die Versammlungsbehörden, die Polizei und die Gerichte müssen im Lichte des aktuellen Infektionsgeschehens verantwortungsvolle Entscheidungen treffen", sagte er am Sonntagabend in einer Mitteilung seines Ministeriums.
"Das Versammlungsrecht muss gewährleistet werden, erst recht in der Krise. Aber die Regeln der Versammlungsbehörden müssen eingehalten werden und durchgesetzt werden können", erklärte Seehofer. Er fügte hinzu: "Die Polizei hat meine volle Rückendeckung."
Bei der "Querdenken"-Demonstration in Leipzig mit mehreren Zehntausend Teilnehmern hatte es am Samstag laut Polizei massenweise Verstöße gegen die Hygiene-Auflagen gegeben. Sie wurde nach zweieinhalb Stunden aufgelöst. Die Demonstranten zogen danach noch über den Innenstadtring, obwohl ihnen das untersagt war – ohne dass die Polizei dies verhinderte. Die Stadtverwaltung hatte die Kundgebung an den Stadtrand verlegen wollen, war aber am Oberverwaltungsgericht gescheitert.
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Polizei wird von mehreren Politikern Versagen vorgeworfen
Zahlreiche Politiker warfen der Leipziger Polizei und dem sächsischen Innenminister am Sonntag Versagen vor. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) fand klare Worte. Keiner in der sächsischen Regierung und auch der überwiegende Teil der Menschen in Deutschland habe Verständnis für diese Art von Demonstrationen, "für Leichtsinnigkeit und Hybris in einer Zeit, in der ein offener Blick zeigt, welche Gefahren das Virus hat." Zugleich kündigte er eine Aufarbeitung des Geschehens an.
Innenminister Roland Wöller (CDU) sprach von einem fatalen Signal. "Es ist mir unverständlich, dass mitten in einer sich verschärfenden Corona-Pandemie eine Versammlung von über 16.000 Teilnehmern in der Innenstadt von Leipzig genehmigt werden kann. Die Veranstalter und Teilnehmer haben schon im Vorfeld klar gemacht, dass sie keine Masken tragen und keinen Mindestabstand einhalten wollen." Bei solchen Teilnehmerzahlen sei eine wirksame Kontrolle durch die Polizei unmöglich. Eine gewaltsame Auflösung einer friedlichen Demonstration habe aber nicht zur Debatte gestanden.
Das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Bautzen hatte die Demonstration in der Innenstadt erst am Samstagmorgen erlaubt, auf 16.000 Teilnehmer begrenzt. Die Stadt hatte die Kundgebung wegen des Infektionsschutzes auf einen großen Messe-Parkplatz am Stadtrand verlegen wollen, das Verwaltungsgericht Leipzig hatte dies zunächst bestätigt. Die Begründung des OVG für die Zulassung steht noch aus.
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) forderte eine "gründliche Aufklärung". "Was wir gestern in Leipzig gesehen haben, ist durch nichts zu rechtfertigen. Die Demonstrationsfreiheit ist keine Freiheit zur Gewalt und zur massiven Gefährdung anderer", erklärte Lambrecht. Eine solche Situation inmitten der Pandemie dürfe sich nicht wiederholen. Tausende dicht an dicht ohne Masken seien ein Gipfel der Verantwortungslosigkeit und des Egoismus.
Linke, Grüne und SPD in Sachsen verlangten eine Aufarbeitung der Geschehnisse in einer Sondersitzung des Innenausschusses. "Ein offensichtliches Planungsdesaster hat dazu geführt, dass der Staat in Leipzig gegenüber Feinden der Demokratie kapituliert hat und weder das Versammlungsrecht durchsetzen noch Angriffen auf Gegenprotest, Journalistinnen und Journalisten sowie die Polizei wirksam begegnen konnte", erklärte der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion Valentin Lippmann. Die Linken sprachen von "Staatsversagen".
Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Georg Maier (SPD), kritisierte die Gerichtsentscheidung: "Das wäre nicht nötig gewesen", sagte der Thüringer Minister der ARD. Er forderte ein konsequenteres Vorgehen der Polizei gegen Regelverstöße: "Wir müssen uns für die Zukunft darauf vorbereiten, bei derartigen Versammlungslagen viel konsequenter, viel härter und frühzeitiger einzugreifen."
Polizeipräsident verteidigt sich
Leipzigs Polizeipräsident Torsten Schultze verteidigte das Vorgehen der Polizei. Sie habe drei Ziele gehabt: die Gewährleistung eines friedlichen Verlaufs, die Verhinderung von Gewalttaten und die Durchsetzung des Infektionsschutzes, sagte er in einem Videostatement. Die ersten beiden Ziele seien weitgehend erreicht worden, das dritte nicht. "Man bekämpft eine Pandemie nicht mit polizeilichen Mitteln, sondern nur mit der Vernunft der Menschen."
Die Polizei sprach am Samstag von 20.000 Menschen auf dem Augustusplatz, die Initiative "Durchgezählt" schätzte die Gesamtzahl der Teilnehmer sogar auf 45.000. Zunächst verlief die Kundgebung größtenteils friedlich. Wegen des Verstoßes gegen die Auflagen löste die Stadt Leipzig die Versammlung kurz vor 16.00 Uhr auf.
Faktisch blieben die Menschen aber einfach stehen, nur wenige verließen wie aufgefordert das Stadtzentrum. Die Masse verlangte, über den Ring zu ziehen, den Ort der Montagsdemonstrationen 1989. Gegen 18.00 Uhr ließ die Polizei die vielen Tausend Menschen dann laufen. Man hätte die Masse nur unter Einsatz massiver Gewalt zurückhalten können, erlärte Polizeisprecher Olaf Hoppe.
Während die "Querdenker" über den Ring liefen, griffen Unbekannte in Leipzig-Connewitz die Polizei an. Die Scheiben eines Polizeipostens wurden mit Steinen beworfen. Später wurden Barrikaden angezündet. Die Polizei rückte mit Wasserwerfern und zahlreichen Kräften an. Schon am Freitagabend hatten Vermummte die Polizei in dem als linksalternativ geltenden Stadtteil angegriffen.
Die Leipziger Polizei bilanzierte am Sonntag für sämtliche Einsätze 102 Straftaten mit 89 Beschuldigten, darunter Angriffe auf Vollstreckungsbeamte, Körperverletzungen und Sachbeschädigungen. Es habe 13 vorläufige Festnahmen und 18 Ingewahrsamnahmen gegeben. Zudem seien 140 Ordnungswidrigkeiten erfasst worden.
- Nachrichtenagentur dpa