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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Anschlag in München "Wer das denkt, hat den Islamismus nicht verstanden"
![urn:newsml:dpa.com:20090101:250213-911-011465 urn:newsml:dpa.com:20090101:250213-911-011465](https://images.t-online.de/2025/02/i-armTBgv6aj/0x107:2048x1152/fit-in/1920x0/image.jpg)
München steht unter Schock: Ein junger Mann raste in eine Menschengruppe, verletzte zahlreiche Personen. Ermittler sprechen von einem islamistischen Motiv. Politikerin Lamya Kaddor fordert mehr Prävention.
Nach dem Anschlag auf eine Gruppe von Demonstranten in München gehen Ermittler von einem islamistischen Motiv des Autofahrers, Farhad N., aus. Das sagte die Leitende Oberstaatsanwältin der Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) der Generalstaatsanwaltschaft München, Gabriele Tilmann, bei einer Pressekonferenz. Es gebe aber bisher keine Hinweise darauf, dass der 24 Jahre alte Afghane in ein Netzwerk eingebunden gewesen sei.
Mittlerweile sitzt der Täter in Untersuchungshaft. Der Vorwurf laute versuchter Mord in derzeit 36 Fällen, gefährliche Körperverletzung und gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, sagte Tillmann weiter. Nach Angaben der Polizei waren bei der Tat am Donnerstag 36 Menschen verletzt worden, einige lebensgefährlich.
- Luxus, Muskeln, Terror: Das Doppelleben des Farhad N.
t-online hat mit der Grünen-Innenpolitikerin und Pädagogin Lamya Kaddor gesprochen. Wie kommt es dazu, dass sich ein junger Mensch radikalisiert?
t-online: Frau Kaddor, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg, München: Innerhalb weniger Wochen und Monaten gab es schwere Gewalttaten. Kann man in Deutschland noch sicher sein?
Lamya Kaddor: Die Menschen sind verunsichert, sie haben Angst – und das nicht ohne Grund. Die Politik arbeitet an Lösungen. Doch diese brauchen oft Zeit in der Umsetzung bei den Behörden. Wir sollten die Angst aber nicht mutwillig verstärken oder parteipolitisch instrumentalisieren. Die Einsatzkräfte in München haben schnell eingegriffen, dadurch konnte womöglich noch Schlimmeres verhindert werden. Ich wünsche den Verletzten eine schnelle und vollständige Genesung.
In München war der mutmaßliche Täter ein Asylbewerber aus Afghanistan, dessen Asylantrag zwar abgelehnt wurde, der jedoch als Geduldeter hier lebte. Ermittler gehen von einem islamistischen Hintergrund aus. Wie bewerten Sie das?
Wir müssen vorsichtig bei der Analyse sein und die Fakten abwarten. Der Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg stellte sich später auch anders dar, als viele zunächst gedacht hatten. Da kann man sich schon fragen, wieso die bayerische Landesregierung sich jetzt nur kurz nach der Tat von München mit Aussagen zu den Hintergründen vor Journalisten stellt, die sie nur kurze Zeit später wieder einfangen muss?
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hatte zunächst davon gesprochen, der Mann sei ausreisepflichtig gewesen und wegen Diebstahls straffällig geworden. Tatsächlich hatte er eine Duldung und war Ladendetektiv.
Richtig. Offenbar scheint es sich inzwischen klar zu sein, dass der Täter ein islamistisches Motiv hatte, wobei hier noch viele Detailfragen zu klären sind: Hat sich der Täter bereits in Deutschland radikalisiert? Über welche Medien oder Personen? Ist er Mitglied in einer größeren, islamistischen Struktur? Oder handelt es sich um einen durchs Internet radikalisierten Einzeltäter? Gab es bereits Hinweise auf seine Radikalisierung?
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Vor Ihrem Einzug in den Bundestag waren Sie Lehrerin, hatten selbst mit jungen Menschen zu tun, die sich radikalisiert haben. Was sind denn aus Ihrer Sicht die zentralen Ursachen?
Die Motivation dieser Täter ist sehr individuell. Es gibt jedoch Muster: Viele von ihnen sind etwa junge Männer, viele haben keine oder problematische Beziehungen zu ihrem Vater, einige sind ausreisepflichtig, aber geduldet. Nicht jede dieser Personen wird automatisch zu einem Mörder. Doch Radikalisierung hat oft verschiedene begünstigende Faktoren.
Und welche?
Gerade das jahrelange alleinige Leben in Massenunterkünften ohne Perspektive ist aktuell ein zentrales Problem. Manche können nicht abgeschoben werden, etwa nach Afghanistan, obwohl sie ausreisepflichtig sind. Dadurch entsteht eine rechtlich unklare Situation, ohne Arbeitserlaubnis oder Zukunftsperspektive. Frustration kann sich in Gewalt entladen. Diese Faktoren sind keine Rechtfertigung für Gewalt, aber sie sind Teil des Problems. Dazu kommt, dass manche Täter offenbar psychische Störungen haben, die womöglich nicht diagnostiziert oder behandelt wurden.
Beim Täter von Aschaffenburg haben wir das gesehen, beim Täter von München sehen die Ermittler bisher keine Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung. Gemeinsamkeit ist aber der abgelehnte Asylantrag. Wären schnellere und konsequentere Abschiebungen die Lösung?
Abschiebungen sind in vielen Fällen rechtlich und praktisch nicht möglich – etwa, wenn Herkunftsländer ihre Bürger einfach nicht zurücknehmen oder weil Menschen in ihren Heimatländern Folter und Vernichtung drohen – wie zuletzt noch in Syrien. Aber selbst wenn Abschieben ginge: Radikalisierung beginnt nicht erst mit der Ablehnung eines Asylantrags. Wir müssen uns fragen, was vorher schiefläuft.
Welche Maßnahmen könnten helfen?
Zunächst einmal das Einhalten geltender Gesetze und deren Vollzug durch ausreichend Personal und Ressourcen. Dafür müssen wir sorgen. Dann braucht es bessere Präventionsarbeit. Dazu gehört auch, die Lebensbedingungen von Asylbewerbern zu verbessern und Arbeitsverbote, wo möglich, zu beseitigen. Massenunterkünfte sind keine längerfristige Maßnahme. Und wir sollten darüber nachdenken, psychologische Untersuchungen bei Asylbewerbern zu stärken.
Das müssen Sie erklären.
Viele dieser Männer kommen aus Kriegs- und Krisengebieten, haben teils massive Gewalt, verstörende Grausamkeiten erlebt oder waren selbst in bewaffnete Konflikte verwickelt. Die psychische Belastung ist oft enorm. In manchen Bundesländern gibt es bereits einen Gesundheitscheck für Asylbewerber – aber eher auf körperliche Erkrankungen hin. Warum prüfen wir nicht auch frühzeitig konsequent mögliche Traumata?
![Lamya Kaddor (Grüne): Sie kritisiert Faesers Vorstoß Lamya Kaddor (Grüne): Sie kritisiert Faesers Vorstoß](https://images.t-online.de/2023/08/dqKywpeGd-gW/0x0:3307x2205/fit-in/1920x0/lamya-kaddor-gruene-sie-kritisiert-faesers-vorstoss.jpg)
Zur Person
Lamya Kaddor (geboren 1978) ist eine deutsche Politikerin, Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Sie sitzt seit 2021 als Abgeordnete für die Grünen im Deutschen Bundestag und beschäftigt sich dort unter anderem mit Innenpolitik.
Kritiker sagen, das sei ein Generalverdacht gegenüber Asylbewerbern.
Nein, das wäre es nicht. Wer Asyl beantragt, flieht in der Regel vor schlimmen, traumatisierenden Erlebnissen. Es geht nicht darum, Menschen unter Generalverdacht zu stellen, sondern potenzielle Probleme frühzeitig zu erkennen – zum Schutz der Betroffenen selbst und der Gesellschaft. Wer psychologische Hilfe benötigt, sollte sie bekommen. Es geht um Prävention, nicht um Stigmatisierung.
Das wird aber Milliarden kosten.
Die Unsicherheit in der Gesellschaft kostet uns noch mehr.
Ihr Parteikollege Robert Habeck hat kürzlich einen Zehn-Punkte-Plan zur Asyl- und Sicherheitspolitik vorgestellt. Innerhalb der Grünen gab es jedoch umgehend Kritik. Hat Ihre Partei kein schlüssiges Konzept?
Wir haben ein schlüssiges Konzept – aber wir suggerieren den Menschen keine einfachen Lösungen, die es für Deutschland nun einmal bei diesem Thema schlicht nicht gibt. Es ist wichtig, nicht in Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen. Politische Debatten neigen dazu, einfache Antworten zu suchen. Aber wenn wir pauschale Lösungen fordern, spielen wir Extremisten in die Hände. Die Debatte muss differenziert geführt werden, ohne zu kriminalisieren oder zu verharmlosen.
Die AfD wird das Thema im Wahlkampf für sich nutzen. Haben Sie Sorge, dass nun nur noch darüber diskutiert wird, wer den härtesten Abschiebeplan vorlegt?
Ja, ich sehe das mit großer Sorge. Es dominiert der Populismus, statt der Suche nach tatsächlichen Lösungen. Die Realität ist so viel komplexer, als manche es darstellen und viele es leider auch hören wollen.
Kritiker werfen der Bundesregierung vor, sie habe zu lange zu wenig getan – was letztlich der AfD geholfen habe.
Die Parteien der Mitte haben es oft versäumt, klar zu handeln und ihre Politik zu erklären. Gleichzeitig hat die AfD gezielt daran gearbeitet, das Sagbare auszuweiten und Ängste zu schüren. Das dürfen wir nicht zulassen.
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Das ist ein hehrer Wunsch, aber wenige Tage vor der Wahl wohl unrealistisch.
Leider ja. Anstatt sachlich über Lösungen zu sprechen, wird es wohl vor allem um Symbolpolitik gehen. Als jemand, der aus der Praxis kommt, kann ich nur den Kopf schütteln. Es ist zum Beispiel naiv zu glauben, dass sich das Islamismusproblem allein durch Abschiebungen lösen lasse. Wer das denkt, hat den Islamismus nicht verstanden. Der Islamismus ist längst heimisch geworden. Solche Probleme kann man nicht einfach externalisieren.
Eine letzte Frage: Haben Sie Angst, dass der Vorfall auf alle Menschen mit Migrationshintergrund zurückfällt?
Das geschieht längst. Migration insgesamt wird als Bedrohung dargestellt. Dabei sind Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland voll integriert – und Deutschland ist angesichts des Fachkräftemangels auf sie angewiesen. Das getötete Kind in Aschaffenburg hatte auch einen Migrationshintergrund. Die Politik muss vermitteln, dass es nicht um ein "Wir gegen die" geht, sondern um ein gemeinsames gesellschaftliches Miteinander gegen Extremisten und Demokratiefeinde.
Frau Kaddor, vielen Dank für das Gespräch!
- Telefoninterview mit Lamya Kaddor
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa