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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Regierung in der Krise Am Ende könnte der Bundespräsident entscheiden
Die Ampel redet mittlerweile offen über ihr mögliches Ende. Nur wie wahrscheinlich ist das wirklich? Und welche Wege sind realistisch?
Gipfel, Gegengipfel. Papier, Gegenpapier. Und kein Tag ohne gegenseitige Kritik. So ernst wie in diesen Tagen stand es um die Ampelregierung noch nie. Selbst einige hochrangige Koalitionäre halten ein Aus inzwischen für besser als ein Weiterwursteln – oder zumindest für weniger schlimm. Trotz Kriegen, Krisen und einem möglichen US-Präsidenten Donald Trump.
In diesen Tagen entscheidet sich die Zukunft der Bundesregierung, so viel ist klar. Kanzler Olaf Scholz (SPD), Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) treffen sich mehrmals zu Krisengesprächen. Der "Herbst der Entscheidungen" (Lindner) ist in der "Woche der Entscheidung" (SPD-Chef Lars Klingbeil) angekommen. Am Mittwochabend beim Koalitionsausschuss dürfte sich herausstellen, ob die Ampel noch eine Chance hat.
Was könnte jetzt passieren – und wie wahrscheinlich ist das alles? Vier Szenarien.
1. Es gibt Neuwahlen
Neuwahlen – das klingt einfach und naheliegend, wenn es nicht mehr geht. Es ist aber das unwahrscheinlichste Szenario, wenn auch nicht undenkbar. Denn die Voraussetzungen sind hoch und die Umstände und Interessen sprechen dagegen. Damit es schon vor der regulären Bundestagswahl im Herbst 2025 zu Wahlen kommen kann, müsste Kanzler Olaf Scholz im Bundestag die Vertrauensfrage stellen – und sie dann verlieren, also keine Mehrheit bekommen.
Das allein ist schon so etwas wie der absolut letzte Ausweg. Scholz will die Ampel retten und sie nicht vorzeitig beenden. Auch weil seine politische Karriere mit ihr verknüpft ist. Ein Kanzler, der abgewählt wurde und dessen Regierung gescheitert ist, der hat wenige Argumente, bei einer Neuwahl noch einmal für die SPD als Kanzlerkandidat anzutreten. Außerdem stehen alle Ampelpartner in den Umfragen mies da, auch seine SPD.
Doch selbst wenn Scholz es macht, weil ihm die Lage so aussichtslos erscheint oder der Druck aus der Koalition auf ihn so sehr steigt: Ob es wirklich Neuwahlen gibt, entscheidet Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er kann die Fraktionen im Bundestag nach einer gescheiterten Vertrauensfrage auch dazu auffordern, eine andere Mehrheit zu finden – zum Beispiel eine Große Koalition. Das dürfte schneller gehen als eine Neuwahl, die erst in Monaten stattfinden könnte, zuletzt war von März die Rede. Und die reguläre Bundestagswahl steht ohnehin im Herbst an.
2. Die FDP wirft hin – oder wird rausgeworfen
Stellt Christian Lindner deshalb Forderungen, die für SPD und Grüne in großen Teilen unerfüllbar sind, weil er einen Grund sucht, die Ampel zu verlassen? Das glauben einige Koalitionäre. Der eine Weg für Lindner wäre dann, darauf zu hoffen, dass der Kanzler die FDP-Minister entlässt. Denn das könnte er. Der andere Weg wäre, dass die FDP ihre Leute selbstständig aus der Regierung zurückzieht.
Weder das eine noch das andere würde aber zu Neuwahlen führen. Kanzler Scholz würde anschließend eine Minderheitsregierung mit SPD und Grünen anführen. Das ist sehr unkomfortabel, weil sie im Bundestag für jedes Gesetz einen weiteren Partner bräuchten. Außer der FDP bleibt dafür realistischerweise nur noch die Union übrig. Und die hat wenig Interesse, einen Kanzler Scholz zu unterstützen.
Theoretisch könnte sich im Bundestag dann zwar auch eine andere Mehrheit bilden, die mit einem konstruktiven Misstrauensvotum einen neuen Kanzler wählt. Die Union hat aber kein Interesse daran, mit Grünen und FDP zu regieren und ist auch nicht bereit, in eine Große Koalition unter einem Bundeskanzler Scholz einzutreten. Erst recht nicht mit Blick auf die eigenen Umfragewerte. Die Hoffnung bei CDU und CSU: Wenn es zeitnah zu Neuwahlen kommt, spart sich der Kanzlerkandidat Friedrich Merz einen langen Wahlkampf. Die Chancen, stärkste Kraft zu werden, stünden gut.
Fällt also auch aus. Allein aus diesen Gründen ist es eher unwahrscheinlich, dass Scholz die FDP-Minister rauswirft. Aber nicht undenkbar. Und wenn die FDP selbst geht, kann Scholz ohnehin nichts dagegen tun.
3. Die Grünen gehen
Viele Grüne haben die Nase voll von der Ampel. Nicht nur von der ewig rebellierenden FDP, sondern auch vom Kanzler, der der FDP aus ihrer Sicht viel zu viel durchgehen lässt. Es gibt führende Grüne, die mittlerweile trotz aller Gegenargumente ein Ampel-Aus für die bessere Option halten, weil es weniger schlimm für das Vertrauen in die Politik und die Demokratie sei, als noch ein Jahr so weiterzumachen
Genau wie die FDP könnten auch die Grünen ihre Leute aus dem Kabinett abziehen. Doch bisher gibt es dafür keine Mehrheit unter den grünen Führungsleuten. Es würde auch dem bisherigen Handeln des Vizekanzlers Robert Habeck widersprechen, auf dem er seine Kanzlerkandidatur im nächsten Jahr aufbauen will: im Zweifel für das Land, auch wenn es schmerzhafte Kompromisse für die Grünen bedeutet.
Also noch unwahrscheinlicher als ein Ausstieg der FDP.
4. Sie raufen sich zusammen – wie auch immer
Es wirkt bei all dem Streit gerade sehr weit weg. Doch weil das mit dem Ampel-Aus eben gar nicht so einfach ist, wird eine andere Option wahrscheinlicher: Augen zu und durch. Die drei Ampelmänner Scholz, Habeck und Lindner könnten in ihren Gesprächen einen Kompromiss finden, der alle irgendwie halb zufrieden stimmt. Und der am Mittwoch beim Koalitionsausschuss beschlossen wird.
Die FDP bräuchte dafür wohl einige Zugeständnisse, die idealerweise im Lindner-Papier stehen. Das allein wird nicht leicht, weil Lindner dort zielsicher viele Schmerzpunkte von SPD und Grünen drückt. Und die müssen das alles ja auch irgendwie mittragen. Dabei gibt es nicht nur bei den Grünen, sondern auch bei der SPD Widerstand gegen weitere schmerzhafte Kompromisse.
Scholz und Habeck können Lindner also auch nicht zu viele Zugeständnisse machen. Das liegt neben ihren Parteien auch daran, dass die Ampel im Bundestag noch einen Haushalt beschließen muss, wenn es weitergehen soll. Und einige der Vorschläge im Lindner-Papier sind schlicht sehr teuer.
Der Kanzler hat in diesem Szenario noch eine Art Joker: die Vertrauensfrage. Er könnte sie im Bundestag mit den notwendigen Gesetzen oder mit dem Haushalt verknüpfen. Dieses Mal in der Absicht, so Druck auf seine Koalition aufzubauen und sie ein letztes Mal hinter sich zu versammeln. Ein gutes Zeichen für den Zustand der Koalition wäre auch das nicht. Aber wer macht sich darüber überhaupt noch Illusionen?
- Eigene Recherchen und Überlegungen