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Sicherheitspolitik nach Solingen: Plötzlich ist wieder alles auf Prüfstand


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Nach Solingen
Jetzt wird’s heikel für ihn


28.08.2024Lesedauer: 5 Min.
Bundeskanzler Olaf Scholz (Mitte), Robert Habeck (links), und Christian Lindner (FDP): Ihr Haushaltskompromiss hat viel Kritik mit sich gebracht.Vergrößern des Bildes
Kanzler Scholz, Minister Habeck und Lindner: Die Koalition arbeitet nach einem tödlichen Messerangriff an Maßnahmen zur Sicherheit. (Quelle: Kay Nietfeld)
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Nach dem Anschlag in Solingen wächst der Druck auf die Regierung, die Sicherheitspolitik zu verschärfen. Alte Blockaden könnten aufbrechen – ebenso wie alte Abmachungen.

"Das soll und das wird jetzt ganz schnell passieren", versprach Kanzler Olaf Scholz (SPD) am Montag in Solingen. Der Anschlag, bei dem drei Menschen ihr Leben ließen, war da erst drei Tage her. Der Kanzler war angereist, um Anteilnahme zu zeigen, den Bürgern Sicherheit und eine baldige Reform des Waffenrechts zu versprechen.

Sein Statement allerdings gab Scholz lieber nicht auf der großen Bühne ab, sondern nur vor einer Reihe von Kameras. Eine Entscheidung, die einige Bürger in der nordrhein-westfälischen Stadt nicht nachvollziehen konnten und die manchen wütend machte.

Vielleicht aber war die Entscheidung weniger ein Zeichen von Scholz' berüchtigter Bürgerferne. Und mehr ein Zeichen dafür, wie wenig er seinen sicherheitspolitischen Versprechen selbst traut.

Von Beginn an war Scholz' Koalition in vielen Punkten zerstritten, besonders selten aber kam sie auf einem Feld überein: der inneren Sicherheit. Bisher blieb das von der breiten Öffentlichkeit oft unbemerkt. Gesetzesentwürfe verschwanden in Schreibtischschubladen, Monate später ploppte das eine oder andere Thema noch einmal kurz auf, dann wurde über Stillstand und Blockaden berichtet. Fertig.

Der Balanceakt

Nun aber, nach Solingen, reißen die Forderungen nicht ab: Messerverbote, Gesichtserkennung, sofortige Abschiebung von Straftätern und vieles mehr. Dem Kanzler dürfte schwanen, wie riskant es ist, jetzt zu viel zu versprechen.

Die Bundesregierung aber steht gewaltig unter Druck. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) kündigten deswegen Anfang der Woche an, nach Solingen mit Hochdruck an einem "Dreiklang" von Maßnahmen zu arbeiten: Bekämpfung des Islamismus, schnellere Abschiebungen und Waffenrechtsverschärfungen.

Die Hoffnung manches Innenpolitikers ist nun groß: Wird die Betroffenheit, die Aufmerksamkeit nach Solingen dazu beitragen, alte Blockaden in der Koalition zu lösen und Platz für ganz neue Ideen zu machen?

Der kleinste gemeinsame Nenner

Probleme hatte die Koalition bisher schon beim aktuell kleinsten Projekt: den Messerverboten. Die Gesetzeslage ist hier bereits relativ scharf. Nur wächst die Zahl der Straftaten, die mit Messern begangen werden, trotzdem weiter. Länderchefs der SPD wie der Union dringen deswegen seit Monaten auf schärfere Regeln.

Auch Faeser will ein restriktiveres Messerverbot. Eine noch größere Waffenrechtsreform aus ihrem Haus, die auch Schusswaffen umfasst, ist seit mehr als einem Jahr in der Abstimmung.

Bisher aber scheiterte beides an der FDP. Als reine Symbolpolitik ohne wirklichen Nutzen kritisierten die Liberalen die Ideen. Stattdessen verweisen sie auf bestehende Gesetze und fordern deren konsequentere Anwendung.

Hier könnte Solingen nun den ersten Knoten lösen – zumindest ein wenig. Bei seinem gemeinsamen Auftritt mit Faeser zeigte FDP-Justizminister Buschmann sich erstmals kompromissbereit beim Waffenrecht. Es dürfe "keine Tabus" geben, um Sicherheit zu erhöhen, auch im Waffenrecht nicht, sagte er. Allerdings müssten die Maßnahmen sinnvoll sein.

Dass die Liberalen voll auf Faesers Linie einschwenken und ihrer großen Reform inklusive Schusswaffen zustimmen, gilt hingegen als ausgeschlossen. Wahrscheinlich sind Einschränkungen, die speziell auf Messer abzielen.

Union kritisiert "billigen Deal" zur Vorratsdatenspeicherung

Vielen Innen- und Sicherheitspolitikern aber ist das noch lange nicht genug. Besonders die Union fordert gerade sehr viel mehr.

"Der Terror von Solingen ist ein Paradebeispiel, warum es die Vorratsdatenspeicherung dringend braucht", sagte Alexander Throm, der innenpolitische Sprecher der Union im Bundestag, t-online.

Eine gesetzliche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtet Anbieter von Telekommunikationsdiensten dazu, die Daten aller Nutzer über einen vorgegebenen Zeitraum zu speichern und sie bei Bedarf an Ermittler weiterzugeben. Das können IP-Adressen, Telefonkontakte oder auch Standortdaten sein.

"Gerade nach dem Anschlag in Solingen wäre es essentiell, durch bereits gespeicherte Daten islamistische Netzwerke und Mitverschwörer schnell aufzudecken", sagte CDU-Politiker Throm. Die bei der IP-Adressen-Speicherung vorgesehene Speicherfrist von sechs bis acht Wochen sei gerade in solchen Fällen von "unfassbarer Bedeutung".

Mit der Bundesinnenministerin Faeser hat die Union eigentlich eine starke Mitstreiterin für ihr Anliegen auf ihrer Seite, auch die Polizei dringt seit Langem auf die Vorratsdatenspeicherung. Doch in der Ampelkoalition wurde Faesers großes Anliegen eigentlich im April abgeräumt.

Da nämlich schlossen FDP und SPD über den Kopf der Ministerin hinweg einen Deal: Die FDP stimmte der Mietpreisbremse zu, die sie über Monate blockiert hatte. Dafür verzichtete die SPD auf die Vorratsdatenspeicherung und stimmte dem "Quick Freeze"-Verfahren zu, das Justizminister Buschmann und auch die Grünen favorisierten. Nutzerdaten werden dabei erst dann "eingefroren", also gespeichert, wenn ein Verdacht auf eine schwere Straftat besteht und gerichtlich darüber entschieden wurde.

CDU-Politiker Throm kritisiert, die meisten und kostbarsten Daten gingen so verloren. "Ich fordere Bundeskanzler Scholz auf, spätestens jetzt nach dem Anschlag in Solingen seinen billigen Deal mit Justizminister Buschmann aufzukündigen", sagte er. Die IP-Adressenspeicherung sei vom Europäischen Gerichtshof zuletzt ausdrücklich für zulässig erklärt worden. "Die Ampel stellt einen billigen Koalitionsdeal unbeirrt über die Sicherheit unserer Bevölkerung.“

SPD: "Nicht mehr tragbar"

Auch in der SPD klingt mancher, als wolle er den Deal noch einmal aufschnüren. So plädierte SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese nach Solingen für die Gesichtserkennung zu Fahndungszwecken – und die Speicherung von IP-Adressen. "Da sind wir oftmals auf Hinweise ausländischer Dienste bei entsprechenden Gefährdungslagen angewiesen", sagte er dem SPD-Parteimagazin "Vorwärts". "Das ist aus meiner Sicht nicht mehr tragbar."

Sebastian Hartmann, innenpolitischer Sprecher der SPD im Bundestag, will den Ermittlern zudem erlauben, verstärkt Künstliche Intelligenz zu nutzen. Die heutigen Datenmengen seien enorm und die potenziellen Gefahren aus dem Netz vielfältig, sagte er im Interview mit t-online. "Dafür brauchen die Behörden mehr Ressourcen und die entsprechenden Mittel: Bei der Identifikation von Zielpersonen müssen Beamte auch auf Künstliche Intelligenz zurückgreifen dürfen."

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Der Algorithmus solle Polizeibeamte etwa beim Durchsuchen großer Datenmengen unterstützen, sagte Hartmann. "Eine solche KI-gestützte Videoauswertung für unsere Polizei brauchen wir jetzt."

Grüne: "Was hilft und was nicht"

Die Grünen bleiben skeptisch. "Wir müssen seriös prüfen, was die Sicherheitsbehörden jetzt brauchen, wo sie besser zusammenarbeiten können, was hilft und was nicht", sagte Grünen-Innenpolitiker Marcel Emmerich t-online. "Zur Wahrheit gehört, dass weder die Vorratsdatenspeicherung noch die Gesichtserkennung Taten wie in Solingen verhindert hätten."

Andere Gesetzesvorhaben seien schon in Arbeit, sie müssten jetzt beschleunigt angegangen werden, forderte Emmerich. Das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) müsse auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden. Das Waffenrecht müsse verschärft werden, die Sicherheitsbehörden Finanzströme besser aufklären können und die Radikalisierung im Netz bekämpft werden.

"Neben neuen Kompetenzen braucht es dafür vor allem Investitionen in Personal und Technik", sagte Emmerich. "Es ist ein Unding, dass die Behördenchefs um jeden Cent für unsere öffentliche Sicherheit betteln müssen."

Skepsis bis klare Ablehnung herrscht auch nach wie vor in der FDP. Zur Vorratsdatenspeicherung teilt eine Sprecherin aus dem Justizministerium t-online mit: Eine anlasslose massenhafte Speicherung von IP-Adressen stelle einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff dar und sei mit "erheblichen rechtlichen Risiken" verbunden. Im Koalitionsvertrag sei zudem anderes vereinbart worden. Es gebe für sie außerdem "innerhalb der Bundesregierung keine politische Mehrheit".

Der Zank fängt vielleicht gerade erst an

Doch offenbar ist nach dem Terrorakt von Solingen der Drang bei vielen in der Koalition groß, bisherige Vereinbarungen noch einmal auf den Prüfstand zu stellen. Und die Union dürfte die Bundesregierung weiter vor sich hertreiben.

Der Zank ist in der Koalition so vermutlich noch lange nicht beendet. Bei der inneren Sicherheit fängt er vielleicht gerade erst richtig an.

Zeigen könnte sich das schon am Freitag. Dann kommt der Innenausschuss zu einer Sondersitzung zusammen. Auch Innenministerin Faeser wird teilnehmen. Das Thema: der Terror von Solingen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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