Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Robert Habecks Antisemitismus-Rede Die Kritiker schlingern auf Klippen zu
Nach Robert Habecks Rede zum Antisemitismus hatte das Kampagnen-Boot seiner Gegner Schlagseite bekommen. Um wieder auf Kurs zu kommen, reißen seine Steuermänner jetzt am Ruder. Und schlingern auf Klippen zu.
"Geht's Dir gut?", fragten am Mittwochabend gleich mehrere X-User bei Julian Reichelt nach. Grund ihrer Sorge: Gerade hatte der Boss des Empörungsportals "Nius" die noch frische Rede des Vizekanzlers auf der ehemals Twitter genannten Plattform kommentiert: "Was Robert Habeck hier sagt, ist an moralischer Klarheit, rhetorischer Brillanz und vor allem tief berührender, aufrichtiger Empathie kaum zu überbieten."
Reichelt hatte einen Politiker geehrt, den er sonst täglich zum Teufel wünscht. Nicht zu fassen. Wo war der doppelte Boden? War das Lob vergiftet? Wo blieb das "Aber", das dem Wirtschaftsminister mindestens das Heizungsgesetz, wenn nicht gar Deindustrialisierung und Niedergang der deutschen Wirtschaft aufs Brot schmierte? Nichts. Erst mal.
Die, die Reichelt folgen, um zuverlässig mit Untergangsvisionen und Grünen-Bashing versorgt zu werden, rieben sich die Augen.
Dabei war es nicht nur er: Viele, bei denen Habeck sonst nicht wohlgelitten ist, stimmten zu. Der konservative Thinktank The Republic meldete "positive Überraschung": "Jedes Wort sitzt." Die halbe CDU klatschte Beifall, von Laschet über Linnemann bis hin zum sonst eher bärbeißigen Tilman Kuban. Habeck meine es ernst, bestätigte Ulf Poschardt von der "Welt". "Historisch" sei die Rede, war bei "Bild" in großen Lettern zu lesen. "Ein Hammer".
Nach zweimal schlafen ist man nun verkatert aufgewacht. Ein Weckruf: die Jubelstimmung im gegenüberliegenden Schützengraben. Zu laut hatten sich die Meinungsmacher gefreut, die Robert Habeck stets begeistert an den Lippen hängen: endlich eine Gewinnerstory! Der Pannen-Robert des Heizungsgesetzes als Ruckredner. Manche setzten sich im Fanbus ganz vorne hin: Der kann Kanzler!
Das geht natürlich nicht. Nichts ist so alt wie das Lob von vorgestern. Inzwischen hat das Lager der Habeck-Kritiker wieder rübergemacht. Vor allem via X, dem Schattenreich des Internets.
- "Billiges Gewäsch" von einem, der als Wirtschaftsminister "krachend versagt" habe, tobte Einblicker Roland Tichy.
- Birgit Kelle, Tichys Auftragsflak, schimpfte sinngemäß, seine (Habecks) Regierung habe den Antisemitismus quasi per Bevölkerungsaustausch verursacht.
- Und Dieter Stein vom rechten Fachblatt "Junge Freiheit" sprach von "Wortdurchfall", den Habeck mit "bebender Stimme" von einem Teleprompter abgelesen habe.
Nun kann man Habeck ja entgegnen, dass dieser Rede Taten folgen müssen: Strafverfolgung für Hamas-Propaganda. Ausweisung von Antisemiten. Klare Kante pro Israel – auch vor der Uno. Über all das muss man sprechen.
Doch dahinter wird es wieder schnell bizarr. Kinderbuchautor! Deutschenfeind! Schuldkult! AKW-Abschalter! Und besonders gerne, siehe oben: Teleprompter.
"Teleprompter" ist ein Lieblings-Buzzword aller Politikverdrossenen. Eine gute Rede ist in ihren Augen immer "abgelesen". Subtext: keine Eigenleistung, unaufrichtig, inszeniert. Ein verunglückter Auftritt? Dann wird der Subtext umgekehrt: "Ohne Teleprompter kann er gar nichts!!!" Viele Ausrufezeichen sind an dieser Stelle immer wichtig.
Beide Argumentationen eint, dass sie ausschließlich von Menschen benutzt werden, die nicht wissen, was ein Teleprompter ist: Ein Monitor mit dem vorformulierten Text, ein Einwegspiegel vor der Kamera – fertig ist das Phänomen "Lesen und trotzdem Blickkontakt zum Zuschauer". Genial.
Ein Teleprompter ist nicht eine Standleitung zur Weisheit. Oder eine Fernsteuerung für schlechte Redner. Er verleiht keine Überzeugungskraft, spendet weder Empathie noch sprachliche Wucht. Ohne einen klugen Text und einen guten Redner ist ein Teleprompter leer. Auch mit Teleprompter wirkt US-Präsident Biden manchmal hölzern. Auch mit Teleprompter "scholzt" der Bundeskanzler.
Trotzdem wanken viele Habeck-Kritiker jetzt auch auf diesem schmalen Brett daher. Dessen kluge Rede sei nicht mehr klug, sondern "abgelesen" und "vorformuliert". Aus Grünen-Kreisen hört man, Robert Habeck habe das tatsächlich mehrere Tage lang getan. Er wird dabei Hilfe gehabt haben, klar. Er ist ein Profi.
Profis nutzen bei einem so heiklen Thema wie Antisemitismus in Deutschland jedes Hilfsmittel, damit auch in einer zehnminütigen Rede kein Aspekt verloren geht. Denn: Wer ein Ass im Ärmel haben will, muss vorher eins reintun. Vielen Habeck-Kritikern auf der Plattform X scheint dieser Gedanke fremd. Und deshalb scheitern sie genau daran: konsistente Gedanken in ein technisches Gerät zu schreiben, um sie mit seiner Hilfe zu veröffentlichen.
So wie Ben Brechtken, selbst ernannter "reichweitenstärkster Jung-Liberaler Deutschlands", der jetzt postete, Habeck habe einen "konsequenzlosen Schwafeltext seiner Redenschreiber" in einer "pastoralen Betroffenheits-Tonalität" vorgetragen. Julian Reichelt hat das repostet. Es geht ihm offenbar wieder gut.
- Tweets vom Bundeswirtschaftsministerium, Julian Reichelt, Roland Tichy, Birgit Kelle und Ben Brechtken u.a.
- Eigene Recherche