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Migration in Deutschland – Göring-Eckardt: "Ich werde mit Hass überzogen"


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Grüne Bundestagsvizepräsidentin
"Seit ich diesen Satz gesagt habe, werde ich mit Hass überzogen"

MeinungEin Gastbeitrag von Katrin Göring-Eckardt

22.09.2023Lesedauer: 7 Min.
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Katrin Göring-Eckardt: "Ob wir wollen oder nicht: Zukunft kommt." (Quelle: IMAGO/Uwe Meinhold/imago)

In der Flüchtlingskrise 2015 sagte sie: "Unser Land wird sich ändern und ich freue mich darauf." Im Gastbeitrag erklärt die grüne Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt, warum er für sie heute immer noch gilt.

"Unser Land wird sich ändern und ich freue mich drauf." Seit ich diesen Satz gesagt habe, werde ich mit Hass und Hetze überzogen. Ähnlich wie Angela Merkel mit ihrer Aussage "Wir schaffen das."

Aus beiden Feststellungen spricht die Hoffnung, aus beiden Reaktionen darauf die Angst und Verunsicherung. Beide haben ihren Ursprung 2015. Als Geflüchtete aus den Kriegsgebieten Syrien und Irak nach Europa kamen und in Deutschland Schutz suchten.

Hat sich unser Land seitdem verändert? Haben wir es geschafft? Zu beidem: Ja! Gab es Probleme? Natürlich. Haben wir Fehler gemacht? Selbstverständlich. Haben wir aus ihnen gelernt? Meine Sorge ist: zu wenig.

Auch heute, acht Jahre später, diskutieren wir wieder: Schaffen wir das?

Doch die Bedingungen sind ganz andere als 2015: In Europa erfahren wir jetzt selbst Krieg, wir spüren seine Folgen, finanzielle und gesellschaftliche. Während es in den Jahren vor 2021 nicht mehr als 200.000 Asylanträge pro Jahr gab, steigen die Zahlen wieder. In diesem haben schon mehr als 220.000 Menschen einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Im Vergleich zum Vorjahr sind das 77 Prozent mehr. Dazu kommen gut eine Million Geflüchtete aus der Ukraine, überwiegend Frauen und Kinder.

Welle der Freundlichkeit

2015 war nach einer Welle der Freundlichkeit eine immense Aufgabe auf Bürgermeister, Erzieherinnen, Ehrenamtliche zugekommen. Sie legten Mitmenschlichkeit und Kreativität an den Tag, wie ich es nicht zu hoffen wagte, teils bis zur eigenen Erschöpfung.

Das gesellschaftliche Verständnis, aus Sporthallen Notlager für Geflüchtete zu machen, bröckelte, je länger die Geflüchteten keine Wohnung fanden und nicht arbeiten durften. Schnelle Integration konnte so nicht gelingen, die Verfahren waren zu schleppend, die Asylbescheide – ob positiv oder negativ – dauerten zu lange. Gewalttaten Einzelner befeuerten Vorurteile gegen Geflüchtete. Dennoch: Wir schafften – viel. Das Land meisterte mit einem Kraftakt die Veränderung.

Ich verstehe, dass Veränderungen Menschen verunsichern. Mir selbst geht es anders, sicher auch, weil mein Leben ein Leben der Veränderung ist, weil ich mit der friedlichen Revolution 1989 erlebt habe, wie viel Gutes aus Veränderung entstehen kann. Und ich bin überzeugt: Eine Gesellschaft muss in Bewegung bleiben, um zu sichern, was ihr wichtig ist: Wohlstand, Freiheit und Frieden. Das sind keine Selbstverständlichkeiten auf ewig.

Gerade heute wissen wir doch: Um neuen Wohlstand zu schaffen, müssen wir anders wirtschaften, nachhaltiger, digitaler. Dem deutschen Arbeitsmarkt fehlen mindestens 400.000 Fach- und Arbeitskräfte, in jedem Jahr, in den nächsten 30 Jahren.

Diesen Bedarf werden wir nicht allein decken, unsere Wirtschaft ist auf ausländische Kräfte angewiesen. Doch anwerben und abwehren passt nicht zusammen. Wer meint, die Grenzen gegen Schutzsuchende dichtmachen zu müssen, aber gleichzeitig um die vietnamesische Pflegekraft oder die indische IT-Fachkraft wirbt, der verkennt, dass Deutschland in der Welt nur ein Gesicht hat. Es ist ein freundliches oder eine Fratze.

Ein freundliches Gesicht

Ich will, dass wir weiterhin ein freundliches Gesicht zeigen. Das fair ist. Zur Fairness gehört, dass wir klar sagen: Wer nicht hierbleiben darf, der muss wieder zurück. Und zur Fairness gehört auch, dass wir den Kommunen helfen, all denen, die vor Ort die Arbeit machen, in den Behörden, in den Schulen und Kitas. Dafür braucht es Planbarkeit und einen langfristigen Aufbau von verlässlichen Strukturen für Integration und weniger bürokratische Hürden.

Was wären wir auch für ein Land, das Menschen, die durch Krieg oder Katastrophen traumatisiert wurden, nicht hilft? Das Land, in dem ich gerne leben möchte, ist eines, das jedem Menschen Mitgefühl und Mitmenschlichkeit entgegenbringt, egal woher er oder sie kommt. Viele der ehemals Geflüchteten sind heute eine wichtige Stütze unserer Gesellschaft: ob im Krankenhaus, im Altenheim, beim Wohnungsbau.

Flüchtlingspolitik darf nicht länger separat gedacht werden: Wirtschafts- und Sozialpolitik müssen Teil sinnvoller Flüchtlingspolitik sein und umgekehrt. Wenn wir die Wirtschaft stärken, auch mit willigen und fähigen Arbeitskräften, die zu uns kommen, hilft das unserer Gesellschaft als Ganzes.

Wenn wir für ausreichend sozialen Wohnraum sorgen für alle, die darauf angewiesen sind. reduziert das Konkurrenz- und Existenzangst. Wenn wir den Kommunen ausreichend Finanzmittel zur Verfügung stellen, hilft das allen Menschen in der Stadt oder der Gemeinde. Wenn Schulen und Kitas besser ausgestattet sind, ist das gut für alle Kinder.

Haushalt besser ausstatten – nach den Wahlen

Das alles kostet Geld. Doch das Geld ist knapp oder wird knapp gehalten. Über lang oder besser kurz, müssen wir dringend darüber sprechen, wie wir den Staatshaushalt besser ausstatten können. Das wird nicht in Wahlkampfzeiten gelingen, doch nach den Wahlen in Bayern und Hessen sollten wir dringend einen Anlauf versuchen, mit demokratischen Parteien, Gewerkschaften und Wirtschaft. Denn ein solider Haushalt ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Geld allein wird den Kommunen nicht helfen. Den Kommunen hilft Planbarkeit, gerade was Ressourcen und Geld betrifft. Ihnen würde helfen, wenn möglichst viele Geflüchtete arbeiten dürften, sie privat unterkommen könnten und ihr Status möglichst rasch geklärt würde.

Nach wie vor sind die Behörden vor Ort mit viel zu vielen bürokratischen Hürden konfrontiert. So ist zum Beispiel die Verlängerung der Aufenthaltstitel für ukrainische Geflüchtete durch die bislang nötige Einzelfallbearbeitung für die Ausländerbehörden nicht mehr leistbar. Die Aufenthaltserlaubnis läuft im März 2024 für die Ukrainerinnen und Ukrainer bei uns aus. Wir sollten jetzt schon den Aufenthalt pauschal verlängern und so für Rechtsklarheit sorgen – für die Geflüchteten und für die Behörden.

Humanität und Ordnung

Neben Humanität braucht es Ordnung. Das sagen wir schon seit vielen Jahren. Was heißt Ordnung? Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine durchgängige Registrierung an den Außengrenzen brauchen. Das werden die Länder mit EU-Außengrenze nur machen, wenn Geflüchtete anschließend verbindlich verteilt werden, auch innerhalb Italiens zum Beispiel.

Wir sehen, wie schwierig eine europaweite faire Lösung ist. Deshalb haben wir immer für ein Konzept plädiert, das besagt: Geflüchtete werden aufgenommen und verteilt auf die Länder, die dazu bereit sind. Die, die dazu nicht bereit sind, zahlen an die anderen Länder so viel, dass es sich für sie auszahlt, Menschen in Not aufzunehmen.

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Das System muss flexibel und zugleich verbindlich sein. Wir können mit festgelegten Kontingenten für legale Wege sorgen, um das Sterben auf den Fluchtrouten, vor allem im Mittelmeer zu stoppen und für Planbarkeit zu sorgen. In Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR können so durch die Vereinten Nationen anerkannte und besonders schutzbedürftige Geflüchtete geordnet und solidarisch auf Aufnahmeländer verteilt werden.

Zugleich braucht es schnelle, rechtsstaatliche Verfahren inklusive Rückführungen. Dafür braucht es faire Migrationsabkommen. Auf Augenhöhe mit den Ländern des globalen Südens verhandelt. Das Ziel solcher Abkommen muss sein, gefährliche Flucht unnötig zu machen, Menschen neue Lebensperspektiven auch vor Ort zu geben und gefährdeten Menschen sichere Wege nach Europa und auch nach Deutschland zu bieten.

Ein weiter Weg

Bündnis 90/Die Grünen sind in der Flüchtlingspolitik einen weiten Weg gegangen, von den 90ern mit den schrecklichen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte bis heute. Wir haben immer geschaut, was für die Zeit notwendig und was real umsetzbar ist. Geleitet hat uns dabei immer, die Situation für Geflüchtete zu verbessern. Aber auch der Pragmatismus für das, was wirklich gebraucht wird, was wirklich hilft.

Für uns war und ist auch heute klar: Eine Obergrenze kann es nicht geben, das schließt das Grundrecht aus. Denn alle Schutzsuchenden haben das Recht darauf, dass ihr Antrag individuell geprüft wird.

2017 während der Koalitionsverhandlungen mit CDU/CSU und FDP war uns der Familiennachzug besonders wichtig, für den wir auch in der jetzigen Regierung kämpfen. Damals waren wir zu einem für uns schmerzhaften Kompromiss bereit, der sicherstellte, dass das Grundrecht auf Asyl gilt und den Familiennachzug ermöglicht.

Er sollte den gordischen Knoten durchschlagen: Wir waren bereit, eine jährliche Richtgröße an Flüchtlingsplätzen zur Planbarkeit des Finanzbedarfs zu vereinbaren, damit Bund, Länder und Kommunen gut planen können und rechtzeitig Finanzmittel beantragen können. An einer solchen Planbarkeit entscheidet sich auch heute, wie unser Land die Realität meistert. Die Folgen von Bürgerkriegen, Klimakrise, Gewalt und Verfolgung bleiben eine globale Herausforderung für demokratische Gesellschaften. All diese Gründe von Flucht sind auch eine Realität, der wir uns stellen müssen.

CDU und CSU müssen sich auch bewegen

Es ist jetzt an der Zeit, dass sich auch CDU und CSU bewegen. Ein gesellschaftlicher Konsens gelingt nur, wenn sich alle Beteiligten auf allen Ebenen darüber klar werden, dass es unserer Gesellschaft schadet, Scheinpolitik für kurzfristige Wahlerfolge zu machen – auf dem Rücken der Geflüchteten, zulasten derjenigen, die in den Ausländerbehörden Entscheidungen zu treffen haben, die für Integration und Beratung arbeiten, oder derjenigen, die in Schule und Kita tätig sind.

Wir brauchen gemeinsame Anstrengungen und kein Gegeneinander von Parteien, politischen Ebenen oder Institutionen. Alle Demokratinnen und Demokraten stehen dafür in der Pflicht. Mit einer guten Politik, die verlässlich Probleme angeht und zugleich den Nutzen der Einwanderung in den Blick nimmt, werden auch parteipolitisch organisierte Rassisten entlarvt und entzaubert.

Ob wir wollen oder nicht: Zukunft kommt

Angela Merkel war viel weiter und sie hat für viele Christinnen und Demokratinnen gesprochen, als sie warnte: "Lauft denen nicht hinterher, die Hass in ihren Herzen tragen." Sie fragte: Stehen wir zu dem, was unser Grundgesetz über die Menschenwürde sagt? Stehen wir zu unserem humanitären Anspruch? Diese Fragen muss die Union beantworten, damit wir zu einem gesellschaftlichen Konsens in dieser Frage kommen und nicht alle Jahre wieder fragen: Schaffen wir das?

Für mich steht fest: Wir schaffen das, wenn wir fünf Maßnahmen angehen. Erstens: Arbeitsaufnahme für Geflüchtete erleichtern. Zweitens: Bürokratie abbauen und Asylverfahren effizienter machen. Drittens: EU-Außengrenzen rechtsstaatlich schützen und Seenotrettung sichern. Viertens: Faire Migrationsabkommen. Fünftens: Fluchtursachen vor Ort bekämpfen.

Ob wir wollen oder nicht: Zukunft kommt. Deshalb sage ich auch heute: Unser Land wird sich ändern. Freue ich mich? Ja, die Veränderung gemeinsam anzupacken, damit unser Land stärker wird, darauf freue ich mich.

Verwendete Quellen
  • Gastbeitrag von Katrin Göring-Eckardt (Grüne) vom 22. September 2023
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