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Boris Rhein kritisiert Ampel: "Bundesregierung rührt gefährlichen Cocktail"


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Hessischer Ministerpräsident Boris Rhein
"Der Bund hat nicht begriffen, was los ist"


Aktualisiert am 12.03.2023Lesedauer: 9 Min.
Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein im Interview mit t-online.Vergrößern des Bildes
Boris Rhein (CDU) ist Nachfolger von Volker Bouffier und Ministerpräsident von Hessen. Am 8. Oktober stellt er sich zur Wiederwahl. (Quelle: Hessische Staatskanzlei)

Boris Rhein ist erst seit Mai im Amt - und will im Herbst die Landtagswahl gewinnen. Im Interview kritisiert der hessische Ministerpräsident die Migrationspolitik der Ampel und attackiert die Grünen.

Es hat sich herumgesprochen, dass im Büro von Boris Rhein eine Autogrammkarte seiner SPD-Herausforderin im Landtagswahlkampf liegt. Umgekehrt habe Bundesinnenministerin Nancy Faeser auch eine von ihm, sagt Rhein und lacht, während er durch die Staatskanzlei in Wiesbaden führt.

Auf seinem Schreibtisch liegt nicht nur eine Biographie über CDU-Chef Friedrich Merz. Auch die Akten stapeln sich. Der 51-jährige Ministerpräsident entschuldigt sich für das Durcheinander. Und ja, die Souvenirs von allen möglichen Anlässen hat er selbst mitgebracht. Aber das geordnete innenarchitektonische Chaos von bunten Skulpturen bis zu raumgreifenden Lichtsäulen übernahm er von seinem Vorvorgänger Roland Koch – allerdings nicht dessen politischen Kurs, wie Rhein im Gespräch betont.

t-online: Herr Rhein, früher galt die hessische CDU als rechtskonservativ. Sind Sie heute so mittig wie andere Landesverbände – um nicht zu sagen: genauso langweilig?

Boris Rhein: Da müssen Sie sich keine Sorgen machen.

Wir machen uns keine Sorgen. Uns fiel nur auf, dass Ihr Vorvorgänger Roland Koch 1999 mit einer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft die Wahl gewann. Angeblich kamen damals Menschen an die Stände und fragten, wo sie gegen Ausländer unterschreiben könnten.

Ich war im Wahlkampf 1999 dabei. Niemand kam an einen Stand und fragte "Wo kann ich hier gegen Ausländer unterschreiben?" Damals ging es um eine Unterschriftensammlung, die unter der Überschrift "Ja zur Integration, Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft" stand.

Na ja. Die Überschrift ist das eine. Das, was hängen bleibt, das andere.

Ich will es so sagen: Eine solche Aktion würde heute weder so stattfinden noch würde sie auch nur ansatzweise funktionieren.

Weil sich die Gesellschaft verändert hat?

Absolut. Und auch die Union hat sich eben im Laufe der Zeit verändert. Eine Politik mit Gestaltungsanspruch geht voran und verharrt nicht in der Vergangenheit. Keiner bei uns stellt mehr die Frage, wer wen liebt.

Und wie hat sich die Position bei der Asyl- und Migrationspolitik verändert?

Früher hieß es bei uns "Deutschland ist kein Zuwanderungsland". Ende der Durchsage. Aber diese Zeiten sind vorbei. Wir wollen angesichts der Fachkräftemangels qualifizierte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Aber wir lehnen es ab, qualifizierte Zuwanderung sowie Asyl und Migration miteinander zu vermischen. So macht es die Ampel. Und das ist ein riesiges Problem.

Was heißt die christdemokratische Veränderung für die Frage der Staatsbürgerschaft, die vor 25 Jahren noch einem Kulturkampf glich?

Für mich ist es wünschenswert, dass Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben und sich hier integrieren, auch deutsche Staatsbürger werden. Allerdings steht die Staatsangehörigkeit am Ende der Integration und nicht an ihrem Anfang.

Das klingt jetzt nicht unbedingt nach Positionen der Linkspartei, aber so, als ob die hessische CDU inzwischen eben doch ein ganz normaler Landesverband geworden ist.

Die CDU beruht schon immer auf drei Wurzeln – der liberalen, der christlich-sozialen und der bürgerlich-konservativen. Das gilt bis heute. Wir vertreten nach wie vor eine klar konservative Politik, etwa in der Innen- und Sicherheitspolitik. Trotzdem arbeiten wir erfolgreich und vertrauensvoll mit den Grünen in der Landesregierung zusammen.

Über die Grünen sagte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder vor Kurzem, sie lebten in einer "Fantasie- und Verbotswelt". Da drängt sich die Frage auf: Warum tun Sie sich all die Fantasien und Verbote an?

Das muss ich ja gar nicht. In Hessen halten sich die Koalitionspartner an die Zusagen des Koalitionsvertrages. Wir bekommen es hin, Ökonomie und Ökologie sozialverträglich zu vereinbaren.

Das heißt: Nicht die Grünen leben in einer Fantasiewelt, sondern Markus Söder?

Dass Markus Söder nicht in einer Fantasiewelt lebt – vom Karneval vielleicht einmal abgesehen – ist für mich eindeutig. Und ich habe nur über die Grünen in Hessen gesprochen. Bei den Grünen auf Bundesebene sehe ich die eine oder andere bemerkenswerte Forderung, die noch ganz schön kritisch diskutiert werden dürfte.

Worauf spielen Sie an?

Da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll: Das reicht vom geplanten Aus für Verbrennerautos ab 2035 bis zum Heizungshammer, mit dem der Wirtschaftsminister ab dem nächsten Jahr den Einbau neuer Gas- und Ölheizungen de facto verbieten will. Dazu kommt jetzt die neueste Idee, die Werbung für bestimmte Nahrungsmittel zu untersagen. Da kann ich nur sagen: Solche Themen verhandeln wir in Hessen zum Glück anders miteinander.

Und anders heißt?

Unsere Politik prägt ein guter Stil, die Berliner Ampel prägt Streit. Die Bundesregierung arbeitet immer nach dem gleichen Prinzip: erst die Schlagzeile, dann der Streit, am Ende Stillstand. So kann man doch nicht regieren. Der CDU-Stil in Hessen ist anders, für uns gilt: nicht laut, sondern Leistung.

Ihr Parteichef Friedrich Merz streitet allerdings gern laut: Er wettert gegen "kleine Paschas" und nennt ukrainische Flüchtlinge auch mal "Sozialtouristen". Ist Ihnen das nicht unangenehm?

Zur Wahrheit gehört, dass wir derzeit das höchste Maß an Zuwanderung seit 2015 erleben. Es ist deshalb vollkommen klar, dass wir Migration und Zuwanderung begrenzen müssen. Andernfalls überfordern wir die Aufnahmefähigkeit unserer Kommunen und auch die Solidarität in der Gesellschaft.

Sie sind Teil der liberalen CDU-Ministerpräsidenten, zu denen auch Hendrik Wüst aus Nordrhein-Westfalen und Daniel Günther aus Schleswig-Holstein gehören. Wie stark ist die Achse Wiesbaden-Düsseldorf-Kiel in der CDU?

Die Achse steht und macht eine starke Bundespolitik über den Bundesrat. Das haben wir etwa gezeigt, als es um das Ampelprojekt des sogenannten Bürgergelds ging. Dabei haben wir gemeinsam durchgesetzt, dass Hartz-IV-Empfänger angesichts der Preiskrise mehr Geld bekommen, aber kein bedingungsloses Grundeinkommen unabhängig von Arbeit eingeführt wird. Die starke Achse der unionsgeführten Bundesländer lebt aber nicht nur von den Inhalten, sondern vor allem auch davon, dass wir alle freundschaftlich verbunden sind. Und da zähle ich zu den Genannten Markus Söder ausdrücklich dazu.

Wie sieht für Sie eine moderne CDU aus?

Sie ist eine lebendige Volkspartei mit klaren Werten, die dem Zeitgeist nicht erliegt, sondern ihn prägt. Sie vereint Menschen aus allen Schichten und unabhängig von Herkunft, Religion und Geschlecht für eine vernünftige Politik. Und sie bezieht die Gesellschaft und ihre Mitglieder aktiv in ihre Arbeit mit ein.

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Würden einer modernen CDU, wie Sie sie skizzieren, nicht auch ein paar Frauen in Führungspositionen guttun?

Das ist ein wichtiger Punkt. Frauen finden sich zwar inhaltlich stark bei uns wieder, deshalb werden wir bei Wahlen auch von mehr Frauen als Männern gewählt. Aber bei der Beteiligung von Frauen an unserer politischen Arbeit haben wir in der CDU Nachholbedarf.

Das ist eine beschönigende Beschreibung.

Keine Frage, das ist eines der großen Themen für unsere Partei. Deshalb war es überfällig, dass Friedrich Merz die Frauenquote eingeführt hat. Aber damit ist es nicht getan. Wir müssen unsere Partei für Frauen attraktiver machen. Etwa dadurch, dass wir mehr digitale Formate anbieten und nicht erwarten, dass jemand abends stundenlang in irgendeinem Gremium präsent ist.

Viele Frauen begegnen Friedrich Merz skeptisch bis sehr skeptisch. Glauben Sie, dass die Union mit ihm als Kanzlerkandidaten die nächste Bundestagswahl gewinnen kann?

Die Frage haben wir jetzt noch nicht zu klären, weil die Bundestagswahl noch weit weg ist.

Typischerweise hat der Parteichef aber das erste Zugriffsrecht. Würden Sie ihm raten, es zu nutzen?

Ich würde ihm raten, die Frage dann zu klären, wenn es so weit ist.

Dann reden wir über eine Wahl, die im Herbst ansteht: die hessische Landtagswahl. Freuen Sie sich auf das Duell mit Ihrer SPD-Gegnerin Nancy Faeser?

Es sieht eher so aus, als würde es nicht nur ein Duell: Die Grünen liegen in den Umfragen ungefähr gleichauf mit der SPD – und klar hinter der CDU. Insofern freue ich mich auf das Triell, weil ich sowohl Nancy Faeser als auch meinen Grünen-Koalitionspartner Tarek Al-Wazir sehr schätze.

Die Bundesinnenministerin wurde scharf kritisiert, weil sie trotz des Landtagswahlkampfs im Amt bleiben will. Ist die Kritik berechtigt?

Das ist eine Frage, die sie selbst und der Bundeskanzler beantworten müssen.

Aber wir sitzen jetzt mit Ihnen zusammen und nicht mit Frau Faeser und Olaf Scholz.

Trotzdem habe ich in der Sache keine Ratschläge zu geben.

Was können Sie Herrn Al-Wazir eigentlich bieten, das Frau Faeser ihm in einer Ampel nicht ermöglichen kann – außer, dass Sie auf die miese Stimmung in der Bundesregierung verweisen?

Zunächst einmal kämpfen wir bei der Landtagswahl für ein möglichst starkes Ergebnis für unsere eigene Politik. Außerdem ist jetzt nicht die richtige Zeit, die Frage künftiger Koalitionen zu klären.

Wenn die Grünen vor der SPD landen, könnten die Sozialdemokraten einen grünen Ministerpräsidenten ermöglichen. Das dürfte Herrn Al-Wazir reizen.

Ach, wissen Sie, da bin ich ganz entspannt. Die meisten Grünen hier können sich noch daran erinnern, wie es war, mit der SPD zusammen zu regieren …

… das war im vergangenen Jahrtausend.

Aber die Erinnerungen sind nicht verblasst. Herr Al-Wazir war damals schon dabei.

Das Thema, das Sie in Hessen und Nancy Faeser im Bund verbindet, ist die Flüchtlingspolitik. Allerdings streiten sich Bund und Länder seit Monaten darüber. Was fordern Sie vom Bund?

Das Wichtigste: Der Kanzler muss die Flüchtlingspolitik zur Chefsache machen. Wir haben jetzt zwei erfolglose Gipfelchen hinter uns, die beim Thema überhaupt keinen Fortschritt gebracht, sondern vor allem zu Empörung geführt haben.

Sie meinen die Flüchtlingsgipfel, zu denen die Bundesinnenministerin geladen hat?

Genau. Dass dabei nichts herauskam, zeigt: So kann es nicht weitergehen. Der Kanzler muss endlich mit den Ministerpräsidenten reden. Die Kommunen brauchen Geld und eine Begrenzung der Zuwanderung, keine Gipfel und immer neue Anreize für Migration.

Und was wollen Sie beim Gespräch mit dem Kanzler erreichen?

Wir brauchen vor allem zwei Dinge: Der Bund muss den Schlüssel für die Steuerung der Zuwanderung endlich in die Hand nehmen, also eine konsequentere Steuerung ermöglichen. Und die Länder brauchen mehr Geld vom Bund für die Flüchtlinge, die bereits in den Städten und Gemeinden untergebracht sind.

Heißt konsequentere Steuerung für Sie vor allem Begrenzung?

Ja, auch das. Es ist doch ein Unding, dass die Bundesregierung stoisch ihren Koalitionsvertrag abarbeiten will. Das ist ein gefährlicher Cocktail, den sie da gerade anrührt. Die Ampelpläne bedeuten, bei der Migration drei Hürden zu senken: nach Deutschland zu kommen, in Deutschland zu bleiben und Deutscher zu werden.

Was meinen Sie konkret?

Mit der geplanten Liberalisierung des Staatsangehörigkeitsrechts schafft die Ampel neue Anreize für Zuwanderung nach Deutschland. Wir brauchen aber genau das Gegenteil. Genauso, wie wir endlich eine konsequentere Rückführung von Menschen in ihre Heimat brauchen, die bei uns kein Aufenthaltsrecht haben. Das betrifft mehr als 304.000 Personen in Deutschland. Ich finde das wirklich skandalös. Wir brauchen eine echte Rückführungsoffensive, wie sie die Ampel selbst in ihrem Koalitionsvertrag ankündigt.

Aber ist die Rückführung nicht Aufgabe der Bundesländer?

Theoretisch schon, praktisch sind uns aber die Hände gebunden. Hessen hat zwar schon jetzt die zweithöchste Rückführungsquote aller Bundesländer, 5,7 Prozent. Das heißt aber auch, dass von 17.800 Ausreisepflichtigen bei uns im vergangenen Jahr nur rund 1000 tatsächlich Hessen verlassen haben.

Und daran ist der Bund schuld?

Ja. Hessen kann nicht mit den Herkunftsstaaten verhandeln, die die Rücknahme verweigern oder verkomplizieren. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung. Sie muss mit den dortigen Regierungen klären, wie die Menschen in ihre Heimat zurückkehren können. Wir können unserer Pflicht als Bundesländer nur nachkommen, wenn zuvor die Bundesregierung ihrer Pflicht nachgekommen ist. Sonst bleibt die Lage so desaströs, wie sie ist.

Sie wollen dem Kanzler sagen, dass er seine Politik ändern soll – und wollen dann auch noch mehr Geld von ihm. Glauben Sie wirklich, dass Sie damit Erfolg haben?

Wir haben uns im vergangenen Jahr mit dem Kanzler über einige Streitpunkte in der Flüchtlingspolitik geeinigt – auch die Finanzierung. Aber wenn die Flüchtlingszahlen steigen, müssen wir auch über mehr Geld sprechen. So einfach ist das.

Der Bund argumentiert, er müsse ständig Geld für irgendetwas geben, aber oft reichten die Länder es nicht an die Kommunen weiter und häufig seien die Strukturen ineffizient. Können Sie das gar nicht nachvollziehen?

Nein. Wir müssen doch der Realität in die Augen gucken: Der Bund hat offenbar nicht begriffen, was vor Ort los ist. Die Kommunen sind am Limit. Wir sind in einer richtig kritischen Situation. Ich bin wirklich froh, dass wir grundsätzlich eine enorme Aufnahmebereitschaft in Deutschland haben. Aber mehr geht einfach nicht.

Und trotzdem: Die Länder fordern ständig Geld vom Bund. Der hat im vergangenen Jahr ein Defizit von 155 Milliarden Euro gemacht, die Länder dagegen ein Plus von rund 800 Millionen Euro.

Dann muss der Bund eben andere Prioritäten setzen. Das machen wir in Hessen auch: Wir halten die Schuldenbremse ein – und zahlen ganz nebenbei noch mehr als drei Milliarden Euro in den Länderfinanzausgleich ein. Fast alles ist möglich, man muss es nur wollen.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Interview am 8. März in Wiesbaden
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