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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gewalt gegen Helfer "Viele Einsatzkräfte sind völlig hilflos"
Warum geraten Jugendliche außer Kontrolle? Ein Gespräch mit dem Intensivpädagogen Menno Baumann darüber, wie das Gewaltproblem jetzt angepackt werden müsste.
Bei ihm landen die harten Fälle in der Jugendarbeit: Menno Baumann ist Intensivpädagoge, Jugendarbeiter und Professor. Er lehrt an der Fliedner Fachhochschule in Düsseldorf und forscht zu Gewalt in Familien und Jugendgruppen. Als Betreuer in der Jugendarbeit hat er einen starken Praxisbezug. Der Kontakt zu den Jugendlichen sei wichtig, um sie zu verstehen.
Deshalb hat er gute Gründe, die Debatte, wie sie seit der Silvesternacht geführt wird, zu kritisieren. Ein Gespräch über populistische Fehlannahmen, gefährliche Gruppendynamiken und die Jagd nach dem krassesten Bild.
t-online: Herr Baumann, Deutschland diskutiert seit der Silvesternacht über Jugendgewalt. Was stört Sie an der Debatte?
Menno Baumann: Das sind vor allem zwei Dinge. Immer wieder wird behauptet, dass es eine neue Dimension der Gewalt sei, die wir da an Silvester gesehen haben. Etwas noch nie Dagewesenes. Dabei gab es wesentlich gewalttätigere Ausschreitungen in der deutschen Geschichte. Zum Beispiel die Ausschreitungen bei der WM 1998 in Frankreich, wo deutsche Fans die Polizei attackierten und Beamte zum Teil sehr schwer verletzten. Oder Rostock-Lichtenhagen 1992, wo ein Flüchtlingsheim angegriffen wurde.
Und der zweite Punkt, der Sie stört?
Nach ersten Aussagen der Polizei waren ein erheblicher Anteil der jungen Menschen, die beteiligt waren, Menschen mit Migrationshintergrund aus Problemquartieren. Daraus wird oft geschlossen: Der Migrationshintergrund ist das Problem. Das aber greift viel zu kurz.
Dazu gleich mehr. Erklären Sie bitte zuerst einmal, wie es zu einer solchen Situation wie an Silvester überhaupt kommen kann. Ist es Frust, der sich da entlädt?
Zum Teil sicherlich. Aber an erster Stelle ist es ein Gruppenphänomen. Wir nennen das in der Forschung auch "spontane Synchronisation". Das heißt: Eine Gruppe fällt in einen Zustand, in dem sich die Stimmung hochschaukeln kann bis hin zu extremer Gewalttätigkeit. Manchmal gibt es einen Kern, der das antreibt. In Rostock-Lichtenhagen zum Beispiel waren es gewaltbereite Rechtsradikale, die Terror wollten. Dann springt plötzlich der Funke über und die ganze Gruppe kippt. Es kommt dann zu einer Art synchronen Entladung.
Gab es einen gewaltbereiten Kern, ähnlich wie in Rostock-Lichtenhagen, auch in der Silvesternacht?
Das steht noch nicht fest, zum Teil könnte das der Fall sein. In Bonn zum Beispiel wurden Jugendliche festgenommen, die sich per WhatsApp gezielt zu Krawallen verabredet haben sollen.
Kommen wir zum größten Streitpunkt in der Debatte: Welche Rolle spielt der Migrationshintergrund?
Jugendliche mit Migrationshintergrund und speziell arabische Jugendliche sind in Deutschland zurzeit die mit den schlechtesten Chancen. Sie erleben die größte Ausgrenzung und Ghettoisierung in sozialen Brennpunkten. Je stärker aber eine Gruppe marginalisiert ist, je weniger die Menschen zu verlieren haben, je mehr Frust sie im Bauch haben, desto niedriger liegt der Kipppunkt für solche Gruppengewalt. Das hat aber nichts mit der Kultur oder dem Migrationshintergrund zu tun.
Migrationshintergrund also als sozialer Faktor für Benachteiligung – aber nicht als direkter Auslöser für Gewalt?
Ja, solche Krawalle sind unabhängig vom Migrationshintergrund in Brennpunkt-Quartieren wie Neukölln oder Marzahn-Hellersdorf wahrscheinlicher als in Prenzlauer Berg oder in Hamburg-Blankenese. Situativer Zufall spielt aber auch eine große Rolle. Einen Einflussfaktor gibt es darüber hinaus, den wir betrachten müssen: Die Erfahrungen, die Jugendliche mit Migrationshintergrund mit Ordnungskräften machen und gemacht haben.
Was sind die Erfahrungen der Jugendlichen, was erzählen sie Ihnen?
Jugendliche mit Fluchthintergrund haben in Ländern wie dem Iran, Afghanistan oder Syrien Ordnungskräfte oft als lebensgefährlich erlebt. Auf ihrem Weg nach Deutschland mussten sie zum Teil erniedrigende Grenzkontrollen über sich ergehen lassen. Und Jugendliche, die in Deutschland geboren wurden, aber einen Migrationshintergrund haben, wissen sehr genau um das Phänomen "Racial Profiling", also ein auf ethnische Zugehörigkeit ausgerichtetes Agieren der Einsatzkräfte. Ob es das tatsächlich gibt, sei mal außen vor gelassen. Es ist ein Thema mindestens in der Kommunikation, und Jugendliche haben real das Gefühl: Sie werden anders behandelt als andere.
Die Berliner Polizei ist stark darauf geschult, deeskalierend vorzugehen – also ganz und gar nicht wie Ordnungskräfte im Iran oder in Afghanistan. Welche Wirkung hat das in einer Situation wie an Silvester?
Vielen Jugendlichen ist diese Strategie der Polizei nicht bewusst. Sie nehmen in einer solchen Nacht nur wahr: Die Polizei weicht erst einmal vor uns zurück. Das kann ein Machtgefühl auslösen und kann den Sog der Entgrenzung, die Dynamik in der Gruppe, erst einmal verstärken.
Müsste die Polizei also härter vorgehen?
Autoritär und gewalttätig auftretende Polizeikräfte provozieren in solchen Situationen in der Regel noch mehr Gewalt. Zum Glück geht die deutsche Polizei also grundlegend so vor, wie sie vorgeht. Man könnte Einsatzkräfte aber noch einmal stärker auf genau solche Extremlagen vorbereiten und Taktiken üben, die dann besonders effizient sind.
Zum Beispiel?
Wege üben, wie man eine große Gruppe in kleine Gruppen zerlegt. Das bricht den Gruppenrausch. Eher noch als für die Polizei wären Schulungen aber sinnvoll für Feuerwehr und Rettungskräfte. Das sind von der Atmosphäre her kriegsähnliche Szenarien, die geschildert werden. Viele Einsatzkräfte sind da völlig unvorbereitet und natürlich auch hilflos. Ich habe als Pädagoge auch Lagen erlebt, in denen meine einzige Möglichkeit war, mich rauszuziehen. Es gibt in einer solchen Stimmung keine einfache Lösung. Genau das aber zu verstehen, diese Situationen lesen zu können – das ist wichtig.
Vor allem junge Männer wurden von der Polizei festgenommen. Welche Rolle spielt das Geschlecht bei solchen Ausschreitungen?
Männlich sein ist einer der größten Risikofaktoren für Gewaltverhalten insgesamt. Bis in die Altersspanne über 40 geht der Großteil aller aktiven Gewalthandlungen von Männern aus. Das müssen wir in der Bildung viel stärker in den Blick nehmen. Auch Mädchen und junge Frauen können bei solcher Gruppengewalt aber eine Rolle spielen, zum Beispiel beim Anheizen im Hintergrund oder beim Filmen der Taten. Festgenommen werden aber eher die jungen Männer.
Wie wichtig ist die Jagd nach sensationellem Foto- und Filmmaterial für die sozialen Medien?
Die sozialen Medien sind ein Treiber, ich würde sagen, inzwischen ein Hauptfaktor. Das geilste Video, das krasseste Bild ist das Ziel. Und Martinshorn und Silvesterraketen sind eine Wahnsinns-Kulisse. Wir, die wir uns empören, heizen diese Stimmung in den sozialen Medien übrigens mit an.
Inwiefern?
Auch die Medien und unbeteiligte Privatpersonen teilen nach solchen Nächten in den sozialen Medien vor allem die krassesten Videos und Gewaltszenen. Und das ohne Faktencheck. Nach der Silvesternacht kursierte zum Beispiel ein Video, das besonders schwere Angriffe auf Einsatzkräfte zeigte und angeblich aus Berlin kam – dabei stammte es aus Hongkong. Das alles verstärkt die Stimmung, das reizt Jugendliche noch stärker zu dem Gedanken: Da komme ich drüber!
Von vielen Experten werden auch die Lockdowns in der Corona-Zeit, die Jugendliche besonders hart trafen, als wichtiger Beschleuniger gewertet, warum es jetzt so eskalierte.
Wichtiger als angestauter Frust ist, glaube ich, ein anderer Einfluss aus der Corona-Zeit: die Anonymisierung beziehungsweise Dehumanisierung von Rettungskräften. In der Corona-Pandemie haben Übergriffe auf Sanitäter, Personal in Arztpraxen und Krankenhäusern international zugenommen.
Warum?
Die medizinischen Einrichtungen haben die Corona-Regeln besonders lange streng durchgezogen. In der Öffentlichkeit wurde da – auch von manchem Experten und Politiker – schon lange behauptet: Das ist alles völliger Quatsch! Es wurde sogar von Staats-Schikane gesprochen. Bei den Jugendlichen, die eher kurze Videos und Texte in den sozialen Medien konsumieren als traditionelle Medien, bleibt da vor allem hängen: Die übertreiben, das ist unnötig. Das hat den Stand und das Vertrauen in medizinisches Fachpersonal geschwächt.
Was kann helfen, um solche Gewaltexplosionen in Zukunft zu verhindern?
Nicht harte Strafen sind der Schlüssel, sondern die Entdeckungswahrscheinlichkeit. Das heißt: Wir müssen so viele Täter wie nur möglich fassen und konfrontieren. Das hat eine große Wirkung. Gewalt lebt immer auch von Anonymität. In Berlin ermittelt die Polizei gerade auch über die sozialen Medien. Auch das ist ein wichtiger Schritt. Es ändert viel, wenn bekannt ist: Ich bin nicht der Held, wenn ich ein Video teile. Sondern ich habe am Tag danach die Staatsanwaltschaft vor der Tür stehen.
Und fernab der Justiz?
Sozialarbeit in den Brennpunkt-Kiezen ist essenziell – es braucht mehr Projekt- und Quartierarbeit, mehr prosoziale Einbindung. Um der Dehumanisierung von Einsatzkräften vorzubeugen, ist Kontakt zu Feuerwehr und Polizei außerhalb von Extremsituationen sinnvoll.
Wie könnte das genau aussehen?
Ich bin ein großer Fan von Erste-Hilfe-Kursen ab dem Kindergarten. Auch ein stärkerer Kontakt zur Feuerwehr wäre wichtig. Es ist recht simpel: Wer mit sieben Feuerwehrmann werden will, der schmeißt mit 20 keinen Feuerlöscher auf einen Einsatzwagen. Wir müssen besonders für die großstädtischen Quartiere überlegen, wie wir das Verhältnis verbessern. Ein großes, von der Feuerwehr organisiertes Feuerwerk in den Problemvierteln im nächsten Jahr, bei dem Jugendliche ehrenamtlich helfen – das wäre genial.
Der Vorschlag, Täter Sozialstunden im Rettungswagen machen zu lassen, kursiert bereits. Aus Polizei und Feuerwehr aber ist die Rückmeldung deutlich: Gute Idee – aber wir sind personell zu ausgezehrt, wir können nicht auch noch Pädagogen spielen.
Das ist auch absolut richtig. Auf keinen Fall darf das zulasten der Einsatzkräfte gehen. Sozialarbeiter müssten solche Projekte begleiten, zusätzliches Personal müsste eingesetzt werden. Der Staat muss da jetzt richtig investieren, wenn sich am Phänomen "Gewalt gegen Einsatzkräfte" etwas grundlegend ändern soll.
Danke für das Gespräch, Herr Baumann!
- Gespräch mit Menno Baumann