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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erste große Studie Jeder achte Deutsche ist offen für QAnon-Verschwörung
Sie halten sich für "aufgewacht", glauben den größten Unsinn und tragen mit Fantasien von geheimen Eliten Streit in Familien und Freundeskreise: QAnon-Anhänger. Eine neue Studie zeigt Verbindungen zu AfD und Impfgegnern.
Es war zum Heulen und für viele Menschen tat sich eine völlig neue, absurde Welt auf. Es war im März 2020: In einem Video weinte Xavier Naidoo und stellte so bizarre Behauptungen auf, dass er prompt aus der Jury der RTL-Musiksendung "Deutschland sucht den Superstar" flog.
Es war wohl das erste Mal, dass klar wurde, was Verschwörungserzählungen von QAnon mit Menschen machen können. Doch inzwischen ist klar: Es ist kein Randphänomen mehr. Jeder Achte in Deutschland ist offen für derlei Ideen, zeigt jetzt die erste umfassende Studie zu der rätselhaften Bewegung.
Der Sänger Xavier Naidoo erzählte damals von Tausenden unterirdisch gefangen gehaltenen Kindern, aus deren Blut eine satanische globale Elite ein Mittel zur Verjüngung gewinne. Es ist eine zentrale Erzählung von QAnon. Weitere sind, dass Donald Trump als Befreier auftreten solle, dass es einen großen Sturm geben und Trump die abgrundtief bösen "Eliten" des sogenannten "Deep State" nach Guantanamo stecken und hinrichten werde.
Mit Beginn der Covid-19-Pandemie explodierte dann die Reichweite dieser Szene. Immer mehr Menschen suchten nach alternativen Erklärungen für den Hintergrund des Ausbruchs der sich global verbreitenden Krankheit.
Stichwortgeber seit Dezember 2020 verstummt
Nichts von den Behauptungen und vagen Vorhersagen hat sich seitdem bestätigt. Der angebliche Stichwortgeber der Bewegung QAnon, ein Pseudonym "Q" mit online verbreiteten Botschaften, ist seit Dezember 2020 verstummt.
Die Szene aber ist nicht verschwunden. Im Gegenteil, sie ist beliebter denn je, wie eine Studie des Berliner Centers für Analyse, Strategie und Monitoring (CeMAS) belegt. Zuerst berichtete tagesschau.de über die Ergebnisse.
Die Ruhe in der QAnon-Szene sei trügerisch, erklärt der CeMAS-Geschäftsführer Josef Holnburger. Denn das Interesse lasse sich jederzeit wecken: "Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine sehen wir wieder eine größere Reichweite der Szene."
So hat gerade ein Video mit einer Prognose eines der Köpfe der Szene 400.000 Abrufe an einem Tag bekommen. Darin wird behauptet, dass Putin in Europa mit eisernem Besen durchkehren und mit dem "Deep State" aufräumen werde.
Teil der Bewegung ist auch die Botschaft, dass "wahre Patrioten" zur Gewalt greifen müssten, um die Ordnung wiederherzustellen, und dass Wahlen gestohlen würden. Wie gefährlich die Folgen dieses Gedanken-Gebräus sein können, zeigte sich etwa beim Sturm auf das Kapitol in Washington im Januar 2021. Ein halbes Jahr zuvor waren deutsche QAnon-Anhänger mittendrin, als im August 2020 plötzlich eine Horde die Treppen des Reichstags in Berlin stürmte und von Polizisten gestoppt werden musste.
Viele Überschneidungen mit Reichsbürgern
Ausgelöst hatte die Aktion damals die Heilpraktikerin Tamara K., die der Ansicht war, Trump sei in Berlin und es müsse ein "Zeichen" gesetzt werden. Tamara K. war zuvor in der von Reichsbürgern gekaperten deutschen Gelbwesten-Bewegung aktiv und hatte für den größten deutschsprachigen QAnon-Kanal Videos übersetzt.
Generell sehen die Studienautoren viele Überschneidungen der QAnon-Szene mit Reichsbürgern. Als Besonderheit kam in Deutschland der Glaube hinzu, eine alliierte Organisation namens SHAEF habe seit Frühjahr 2020 das Kommando über Europa inne.
Doch wer sind die Menschen, die so ticken? Die Experten von CeMAS haben mit Datenanalysen die großen Kanäle und Gruppen im Internet identifiziert und ausgewertet. Für die Studie wurden zudem 3.000 Menschen repräsentativ befragt.
Die Autoren stellen zwar klar: "Nicht alle, die diesen Narrativen zustimmen, fühlen sich auch automatisch diesem Milieu zugehörig." Dennoch sind die Ergebnisse bemerkenswert:
- Jeder achte Deutsche ist betroffen: 12,4 Prozent der 1.970 Befragten aus Deutschland drückten mehr oder weniger starke Zustimmung zu QAnon-Verschwörungserzählungen aus. Im Osten war die Zustimmung nicht signifikant höher als im Westen. In Österreich waren es unter 1.012 Befragten sogar 16,2 Prozent – jeder Sechste.
- Ein signifikanter Zusammenhang zeigt sich mit der Einstellung zum Impfen. Unter den Ungeimpften lehnt nur eine knappe Mehrheit die QAnon-Behauptungen überwiegend ab. 46 Prozent stimmten aber fünf zentralen QAnon-Narrativen mehrheitlich zu (Österreich: 41,1). Bei den Geimpften haben in Deutschland nur 8,7 Prozent eine eher positive Haltung.
- Unter den Befragten, die nach ihren Angaben schon bei Corona-Protesten waren, ist die QAnon-Offenheit besonders groß: Die Zustimmung liegt bei 58,1 Prozent (Österreich 50,5). Die Neigung gibt es auch umgekehrt: Unter QAnon-Gläubigen in Deutschland können sich 43 Prozent vorstellen, an Corona-Demos teilzunehmen. In der Gruppe derer, die nichts von QAnon wissen wollen oder wissen, sind es nur 6,5 Prozent.
- Die Zahlen demonstrieren auch, dass die QAnon-Zustimmung bei rechtspopulistischen Parteien besonders groß ist: Knapp 44 Prozent der AfD-Wähler sowie in Österreich knapp 46 Prozent der FPÖ-Wähler teilen weitgehend oder überwiegend QAnon-Narrativen. Der AfD-Kreisverband in Leipzig hatte im Frühjahr 2020 schon offensiv für QAnon Werbung gemacht. Zum Vergleich: Bei allen angestammten größeren Parteien lehnten mindestens 90 Prozent die Bewegung ab – am deutlichsten bei den Grünen mit 96,3 Prozent.
- Telegram ist der wichtigste Ort für die Bewegung, nachdem YouTube und Facebook Kanäle und Gruppen gelöscht haben: In Deutschland nutzen 18,4 Prozent der QAnon-Gläubigen täglich den Dienst zur Informationssuche, weitere 9,8 Prozent nutzen ihn zumindest mehrmals wöchentlich.
- Die deutschsprachige QAnon-Bewegung ist nach der amerikanischen die größte – und gemessen an der amerikanischen sehr groß: Der größte englischsprachige Kanal hat 288.000 Abonnenten, der größte deutschsprachige bringt es auf 140.000. Sechs Kanäle haben mehr als 100.000 Abonnenten, auf mindestens 1.000 Abonnenten kommen 115 QAnon-Kanäle. In 84 Gruppen, in denen Nutzer selbst schreiben können, wurden 2021 über 8,3 Millionen Nachrichten ausgetauscht. In diesen Gruppen sind mehr als 120.000 Accounts derzeit Mitglied.
Die deutschsprachige Szene schafft es auch, lokale Ereignisse in die große Erzählung einzufügen: So hatte während der Hochwasserkatastrophe im Juli 2021 einer der wichtigsten deutschen
QAnon-Prediger die Behauptung verbreitet, dass 600 Kinderleichen aus ihren unterirdischen Verliesen gespült und in einer Turnhalle aufgebahrt worden seien.
Geschichte von Kindern kommt wieder
Andere Erzählungen der Szene sind offenbar zeitlos. Die Geschichte der Kinder, die Xavier Naidoo im Frühjahr 2020 weinend auftischte, ist weiter aktuell: Anfang der Woche sprach der nach Tansania geflohene Arzt Bodo Schiffmann in einem Video von der "Perversion von Menschen, die Blut von Kindern dazu benutzen, um jünger zu werden".
Schiffmann ist zur schrillsten Stimme der Querdenker-Szene geworden, sein Kanal hat 160.000 Abonnenten. Er hatte schon 2020 erklärt, der "Deep State" habe ausgedient, das "große Erwachen" habe begonnen.
Für Sozialpsychologin Pia Lamberty, ebenfalls Geschäftsführerin von CeMAS, ist die von der Szene ausgehende Gefahr nicht zu unterschätzen – auch wenn die QAnon-Geschichten selbst absurd wirken mögen. "Verschwörungserzählungen und Desinformation sind nicht nur eine Herausforderung beim Management von Krisen, sondern versuchen, demokratische Werte zu attackieren."
Und da sei ein Ende nicht absehbar. Holnburger sagt: "Jede Katastrophe wird genutzt, um die Erzählungen einer globalen, vermeintlichen Verschwörung zu verbreiten – in letzter Konsequenz wünscht sich das Milieu um QAnon Krieg und Chaos herbei."
Nachtrag: Die Studie hat kein Peer Review durchlaufen, es wurden aber Methodik inklusive aller Befragungsitems und zugrundeliegender Kanäle und Gruppen offengelegt.
- cemas.io: Studie „Q vadis? Zur Verbreitung von QAnon im deutschsprachigen Raum“
- Telefonat mit Josef Holnburger
- Twitter: Tweet mit Ausschnitt von Bodo Schiffmanns Aussage zu Kinderblut