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Corona-Politik | Ex-Verfassungsrichter Papier: "Muss juristisches Nachspiel haben"


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Ex-Verfassungsrichter Papier
"Das Vertrauen ist dramatisch erschüttert"

InterviewVon Florian Harms und Marc von Lüpke

Aktualisiert am 17.12.2021Lesedauer: 8 Min.
Annalena Baerbock, Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner: Die neue Bundesregierung muss wieder Vertrauen bei den Bürgern aufbauen, sagt der frühere Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier.Vergrößern des Bildes
Annalena Baerbock, Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner: Die neue Bundesregierung muss wieder Vertrauen bei den Bürgern aufbauen, sagt der frühere Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier. (Quelle: Michael Kappeler/dpa)
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Die Politik bekommt das Coronavirus nicht in den Griff, nun soll es die Impfpflicht richten. Das wäre keine gute Idee, sagt Hans-Jürgen Papier, früher Deutschlands höchster Richter.

Seit fast zwei Jahren ringt Deutschland nun schon mit dem Coronavirus, eigentlich sollte die Politik doch mittlerweile eine vernünftige Strategie entwickelt haben. Hat sie aber nicht, immer noch wirken viele Entscheidungen kurzsichtig. Nun soll die Impfpflicht die Wende bringen. Also ein weiterer Eingriff in die Grundrechte der Bürger?

Kein Wunder, dass sich Kritik regt – und dies von berufener Warte. Hans-Jürgen Papier war früher Präsident des Bundesverfassungsgerichts und ist einer der wichtigsten Staatsrechtler unseres Landes. Im Gespräch mit t-online erklärt er, warum es seit längerer Zeit um die Freiheit schlecht bestellt ist, warum die Bundestagsabgeordneten endlich mehr Biss entwickeln sollten und warum uns Corona leider noch lange beschäftigen wird.

t-online: Herr Papier, in der Corona-Pandemie werden die Grundrechte so stark eingeschränkt wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Ist das angemessen?

Hans-Jürgen Papier: Es ist immer heikel, wenn Grundrechte eingeschränkt werden. Nicht ohne Grund genießen sie in unserem Grundgesetz höchsten Stellenwert. Politik und Gesellschaft sind durch die Pandemie aber mit der größten Krise der Nachkriegszeit konfrontiert, was notwendige Freiheitsbeschränkungen in einem angemessenen Umfang rechtfertigt.

Die Corona-Politik wirkt nicht erst seit diesem Winter immer wieder chaotisch. Haben Sie noch Vertrauen in die Politiker?

Grundsätzlich vertraue ich persönlich der demokratisch legitimierten Politik. Man kann festhalten, dass politische Entscheidungsträger im Allgemeinen nach bestem Wissen und Gewissen handeln – wenn auch nicht immer alles rechtsstaatskonform verläuft. Allerdings sehe ich zugleich, dass das Vertrauen vieler Bürger in die Politik dramatisch erschüttert ist. Sowohl auf der Ebene des Bundes als auch auf der Ebene der Länder. Viele Menschen glauben nicht mehr, dass die Politik schwere Krisen vernünftig zu bewältigen vermag. Das mag auch damit zusammenhängen, auf welche Art und Weise die Entscheidungen zur Bekämpfung des Coronavirus zustande gekommen sind.

Weil die Regierenden in Bund und Ländern die Krisenbekämpfung allein in die Hand genommen haben?

Ja. Im ersten Jahr der Pandemie sind die Parlamente bei der Pandemiebekämpfung praktisch außen vor geblieben. Die gewählten Volksvertreter wurden damals zu Zuschauern degradiert. Das war nicht gut.

Hans-Jürgen Papier, Jahrgang 1943, war ab 1998 Vizepräsident und ab 2002 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. In seine Amtszeit fiel unter anderem das Urteil gegen die Vorratsdatenspeicherung. 2010 schied der Jurist aus dem höchsten deutschen Gericht aus und lehrte wieder als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Kürzlich ist sein neuestes Buch erschienen: "Freiheit in Gefahr. Warum unsere Freiheitsrechte bedroht sind und wie wir sie schützen können. Ein Plädoyer von Deutschlands höchstem Richter a.D."

Aber warum haben die Parlamentarier diese Degradierung über sich ergehen lassen, insbesondere im Bundestag? Laut dem Grundgesetz sind sie einzig und allein ihrem Gewissen unterworfen.

Stimmt, das Grundgesetz weist den Parlamenten als in besonderer Weise legitimierten Verfassungsorganen eine besondere Verantwortung zu. Gerade in Zeiten einer schwerwiegenden Krise wie Corona mit ihren nahezu schicksalhaften Entscheidungen hätte sich der Bundestag deshalb viel stärker und viel eher einschalten müssen. Bei der Einschränkung von Grundrechten braucht es so viel demokratische Legitimation wie nur möglich. Deshalb war es schlecht, dass sich die Abgeordneten in die Rolle von Zuschauern haben drängen lassen.

Mit der "Bundesnotbremse" im April 2021 hat sich das geändert.

Mit diesem Gesetz hat der Bundestag das Heft des Handelns in der Tat in die Hand genommen und den Eingriffen in die Freiheitsrechte jedes einzelnen Bürgers so eine parlamentarische Legitimation erteilt.

Ihre Nachfolger beim Bundesverfassungsgericht haben die "Bundesnotbremse" in einem wegweisenden Urteil soeben für verfassungskonform erklärt. Sehen Sie selbst das auch so?

Ich möchte die Entscheidung nicht im Einzelnen kommentieren. Aber ich gebe zu bedenken, dass das Bundesverfassungsgericht bei anderen Spannungslagen im Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in der Vergangenheit durchaus intensivere und dichtere Prüfungen der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen durchgeführt hat.

Hören wir da eine Kritik an Ihren Nachfolgern heraus?

Die Bekämpfung des Coronavirus ist aus juristischer Betrachtung ein Konflikt zwischen hoch- und höchstwertigen Interessen von Verfassungsrang. Auf der einen Seite stehen die individuellen Freiheitsrechte der Bürger, auf der anderen der Lebens- und Gesundheitsschutz, der ebenfalls jeden Einzelnen von uns betrifft. Angesichts dieses Spannungsverhältnisses hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts bei der "Bundesnotbremse" auf einen äußerst großen Beurteilungsspielraum der gewählten Volksvertreter abgestellt. Diese sehr großzügige und pauschale Zurücknahme richterlicher Kontrolle ist fragwürdig. Ganz überwiegend geht es aber um Grundrechtseingriffe der Exekutive, für die ein so weiter Spielraum keinesfalls gelten kann.


Nicht nur die Politik ist sich uneins, wie man Corona am besten bekämpft, die Friktionen ziehen sich durch die gesamte Gesellschaft: Auf der einen Seite stehen Impfverweigerer, auf der anderen Seite Menschen, denen die Schutzvorschriften gar nicht weit genug gehen können. Wo verläuft der Weg der Vernunft?

Die Frage der Verhältnismäßigkeit muss bei sich ändernden Sach- und Erkenntnislagen ständig neu beurteilt werden. Genau aus diesem Grund existiert das Grundgesetz mit seinen Freiheitsrechten: Damit nicht eine mehrheitliche Gruppe von Bürgern ohne Rechtfertigung über die andere frei bestimmen kann.

Sie selbst zitieren in Ihrem letzten Buch "Freiheit in Gefahr" den früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble mit der Aussage, dass keineswegs "alles andere vor dem Schutz von Leben zurückzutreten" habe.

Ich kann Wolfgang Schäuble in dieser Hinsicht nur recht geben. Der Schutz von Leben und Gesundheit ist zweifellos ein hohes Gut von Verfassungsrang. Er ist aber ein Wert neben anderen, denen das Grundgesetz gleichfalls eine hohe Bedeutung zumisst. Deswegen muss immer sorgfältig unter Beachtung der jeweiligen Gefährdungslage abgewogen werden. Die zweifelhafte Devise "Not kennt kein Gebot" gilt eben auch nicht in der Pandemie.

Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Regeln und Vorschriften zur Eindämmung des Coronavirus. Welche sehen Sie kritisch?

Man muss differenzieren. Die Verpflichtung zum Tragen einer Schutzmaske und Hygienevorschriften sind geringfügige Eingriffe in die Freiheitsrechte. Andere Maßnahmen bedürfen hingegen der ausführlichen Prüfung, ob sie der gebotenen Verhältnismäßigkeit entsprechen – etwa die Schließung von Schulen und Geschäften oder Ausgangssperren.

Bevor die "Bundesnotbremse" in Kraft getreten ist, haben die Regierenden mit Verordnungen statt mit Gesetzen agiert. Werden auch die damals verhängten Regeln ein juristisches Nachspiel haben?

Corona wird noch ein juristisches Nachspiel haben müssen! Das Bundesverfassungsgericht hat der Politik mit der Entscheidung zur "Bundesnotbremse" insgesamt keinen Freibrief erteilt. Insbesondere die seit März 2020 bis heute seitens der Exekutive angeordneten Maßnahmen bedürfen der Überprüfung. Bedenken Sie allein die Folgen der Geschäftsschließungen und der Berufsverbote im Jahr 2020: Da wurden unzählige wirtschaftliche Existenzen gefährdet oder gar vernichtet.

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Sie haben sich seit vielen Jahren als Verteidiger der Freiheitsrechte einen Namen gemacht. Wie gefährdet sind diese Rechte in Deutschland?

Es steht nicht zum Besten um die Freiheit in Deutschland. Staatliche Eingriffe in Freiheitsrechte der Bürger gibt es ja nicht erst, seit das Coronavirus bei uns angekommen ist. Auch bedrohliche Grundrechtsbeeinträchtigungen im gesellschaftlichen Bereich sind hinzugetreten. In Deutschland wird überdies die Exekutive immer stärker, während die Parlamente an Bedeutung verloren haben. Das liegt sicher auch an den großen Koalitionen, die wir lange Jahre im Bund hatten. Ein Parlament braucht aber eine starke Opposition. Mit der neuen Regierung könnte das nun endlich wieder besser gelingen.

Angesichts der vierten Viruswelle stehen uns aber womöglich weitere harte Eingriffe in die Freiheitsrechte bevor. Was halten Sie von einer allgemeinen Impfpflicht?

Das ist eine sehr emotional geführte Diskussion. Als Verfassungsrechtler kann ich nur darauf hinweisen, dass eine allgemeine Impfpflicht erheblich in das Grundrecht des Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes eingreifen würde, was nur unter engen Voraussetzungen zulässig sein kann.

Dort steht: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit."

Richtig, da sehen Sie, welche außerordentlich große Bedeutung das Grundgesetz diesem Recht beimisst. Zum Recht auf "körperliche Unversehrtheit" gehört das körperliche Selbstbestimmungsrecht. Anders ausgedrückt: Jeder kann frei entscheiden, ob er sich therapeutischen oder sonstigen Maßnahmen wie etwa einer Impfung unterzieht, die seinem Schutz oder Wohl dienen. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang einmal von der "Freiheit zur Krankheit" gesprochen.

Also steht es verfassungsrechtlich schlecht für eine Impfpflicht gegen Corona – anders als bei der faktischen Impfpflicht gegen die Masern?

Ich sage nicht, dass eine Corona-Impfpflicht von vornherein verfassungswidrig sein muss. Es muss aber genau geprüft werden, welchem Zweck sie dient: Dient sie neben dem Eigenschutz dem Schutz von Leben und Gesundheit großer Teile der Bevölkerung und dem Zweck, das öffentliche Gesundheitswesen vor der völligen Überlastung zu schützen? Dann könnte eine allgemeine Impfpflicht durchaus gerechtfertigt sein, wenn sie insoweit geeignet und notwendig ist. Ich wage aber zu bezweifeln, dass diese Voraussetzungen derzeit hinreichend belegbar sind.

Warum?

Ich habe schon Zweifel, ob eine allgemeine Impfpflicht gegen Corona praktisch in der gebotenen Eile umsetzbar wäre. Wie wollen Sie denn gegebenenfalls über zwanzig Millionen Personen zu mehrfachen Impfungen zwingen, die nicht geimpft werden wollen und die keiner Behörde namentlich bekannt sind? Mithilfe der Polizei? Mit Bußgeldern und Erzwingungshaft? Davon abgesehen würde eine solche Maßnahme das Vertrauen der Menschen in die Politik kaum stärken. Ich glaube zudem, dass noch lange nicht alle Mittel ausgeschöpft sind, um die Menschen in stärkerem Maße zur Impfung zu bewegen. Selbst Impfwilligen kann im Übrigen noch immer aus Kapazitätsgründen die gewünschte Impfung, insbesondere die zur Auffrischung, nicht zeitnah gewährt werden.

Welche Mittel wären das?

Schauen wir nach Bremen oder noch besser nach Spanien: Sie sind Spitzenreiter bei den Impfungen, möglich gemacht durch eine gute Organisation und Kommunikation mit den Bürgern. In meinem eigenen Bundesland Bayern sah das bis jetzt leider an manchen Orten noch ganz anders aus.

Weder die Politiker noch das Robert Koch-Institut kennen die exakte Zahl der Geimpften.

Was das nächste Argument gegen eine allgemeine Impfpflicht ist: Es existiert kein zentrales Impfregister in Deutschland. Es ist schon auffällig, dass man als Rechtswissenschaftler die politische Praxis auf solche Umsetzungsschwierigkeiten aufmerksam machen muss. Wenn der Staat die allgemeine Impfpflicht einführt, darf er sich nicht furchtbar blamieren. Es ist immer schlecht, den Bürgern Pflichten aufzuerlegen, die der Staat selbst im Regelfall nicht durchsetzen kann. Mit der Impfpflicht setzt die Politik schlichtweg auf das Prinzip Hoffnung.

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Wie stehen Sie selbst zur Impfung?

Ich bin ohne jede Einschränkung ein Befürworter des Impfens. Aber man darf nicht vergessen, dass die Gruppe der Ungeimpften sehr heterogen ist. Da finden sich neben den Gleichgültigen und Bequemen und den Anhängern von Verschwörungsmythen viele Menschen, die schlicht Angst vor der Impfung oder sonstige emotionale Einwände haben. Dem muss die Politik Rechnung tragen. Denn wenn man diese Leute zur Impfung zwingt, könnte man sie dauerhaft in die Feindschaft zu unserem demokratischen Rechtsstaat abdrängen.

Glauben Sie, dass sich die Bundesregierung und die Behörden während der Corona-Pandemie daran gewöhnt haben, die Bürger stärker einschränken und überwachen zu können? Der israelische Historiker Yuval Noah Harari hat im Interview mit t-online vor dieser Gefahr gewarnt.

In Deutschland haben die Aspekte der Sicherheit und der staatlichen Fürsorge gegenüber der Freiheit des Individuums seit längerer Zeit an Bedeutung gewonnen. Das besorgt viele Beobachter zu Recht. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 konnten wir ein ähnliches Spannungsverhältnis beobachten. Während meiner Zeit als Vorsitzender des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts haben wir damals die beschlossenen Gesetze zur Steigerung der Sicherheit und der Gefahrenabwehr intensiv geprüft – und unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit manches zurückgewiesen.

So wie das unter Ihrer Beteiligung gefällte Urteil gegen die Vorratsdatenspeicherung.

Genau, ebenso etwa das Urteil zur Online-Durchsuchung.

Denken Sie, dass das Bundesverfassungsgericht in Zukunft der Freiheit wieder mehr Gewicht als der Sicherheit einräumen wird? Mit dem Klimawandel steht uns ja schon die nächste Großkrise bevor.

Es gilt ein einfacher Grundsatz: Ein Grundrecht darf niemals in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Jeder Eingriff ist im Hinblick auf das Übermaßverbot rechtfertigungsbedürftig. Es muss eine Balance zwischen Freiheit und Gemeinwohl hergestellt werden. Das Grundgesetz stellt aus gutem Grund für Notstandslagen keine Sonderregeln zur Außerkraftsetzung von Grundrechten zur Verfügung.

Was bedeutet das für die sozialen Medien? Durch Facebook und Messengerdienste wie Telegram werden Lügen und Hass verbreitet.

Bei Einschränkungen der Meinungsfreiheit muss man sehr vorsichtig sein. Selbstverständlich ist aber auch das Internet kein rechtsfreier Raum, ein Konzern wie Facebook und seine Nutzer müssen sich an geltende Gesetze halten. Der Staat muss wiederum aber in der Lage sein, diese Gesetze durchzusetzen. Und daran hapert es.

Auch deshalb, weil Messengerdienste wie Telegram bisher nicht unter das Netzwerkdurchsetzungsgesetz fallen.

Richtig, das muss sich schnell ändern.

Und wie lassen sich jene Menschen zurückgewinnen, die am demokratischen Rechtsstaat zweifeln und lieber Verschwörungstheoretikern im Internet folgen?

Wir brauchen Bildung, Bildung, Bildung. Unsere freiheitliche Demokratie geht von mündigen Bürgerinnen und Bürgern aus. Wer gut informiert ist, fällt nicht auf Lügen herein.

Herr Papier, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Hans-Jürgen Papier via Telefon
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