Krise in Afghanistan Bericht: Regierung stritt Monate über Umgang mit Ortskräften
Einem Bericht zufolge konnten sich die zuständigen Ministerien monatelang nicht auf einen Umgang mit afghanischen Ortskräften einigen. Außenminister Maas macht zudem den Bundesnachrichtendienst verantwortlich.
Die Bundesregierung hat offenbar monatelang über den Umgang mit afghanischen Ortskräften gestritten statt zu handeln. Das gehe aus internen Sitzungsprotokollen hervor, berichtete der "Spiegel" am Freitag vorab. Außenminister Heiko Maas (SPD) machte unterdessen den Bundesnachrichtendienst (BND) für die falschen Lageeinschätzungen zu Afghanistan und damit auch für das aktuelle Debakel und die chaotische Evakuierungsaktion verantwortlich.
Im "Spiegel" hieß es, das Auswärtige Amt habe bereits bei einer ressortübergreifenden Besprechung am 29. April vorgeschlagen, Aufenthaltsgenehmigungen für die Ortskräfte nicht in einem langwierigen Verfahren vor der Ausreise, sondern erst nach Landung in Deutschland auszustellen. Dies habe das Bundesinnenministerium laut Protokoll der Sitzung abgelehnt und auf einem Sicherheitscheck "vor Einreise" bestanden. Dagegen hatte Innenminister Horst Seehofer (CSU) am Donnerstag gesagt, sein Ministerium habe sich in dieser Frage schon früh flexibel gezeigt.
Merkel drängte Mitte Juli auf Anmietung von Flugzeugen
Auch die Idee, die Ortskräfte mit Charterflügen außer Landes zu bringen, sei in der Sitzung verworfen worden, hieß es im "Spiegel". Obwohl Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dann Mitte Juli auf die Anmietung von Charterflugzeugen gedrängt habe, sei dies in einer Ressortbesprechung vom 30. Juli erneut abgelehnt worden.
"Man hat sozusagen die Flüchtlingsabwehr höher gewichtet als die Rettung von Menschenleben", sagte der Grünen-Außenpolitiker Jürgen Trittin dazu der "Welt". Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl warf der Bundesregierung "kollektives Versagen" vor.
Maas forderte Konsequenzen für den BND
Zur Rolle des BND sagte Maas dem "Spiegel", dieser habe "offensichtlich eine falsche Lageeinschätzung vorgenommen". Entscheidungen des Außenministeriums, die darauf aufbauten, seien deswegen auch "im Ergebnis falsch" gewesen, mit katastrophalen Folgen.
Maas forderte Konsequenzen für den BND, aber auch eine generelle Debatte über den Sinn von Bundeswehr-Einsätzen. Zwar dürfe sich Deutschland auch künftig außen- und sicherheitspolitischer Verantwortung nicht verweigern, "aber Afghanistan darf sich auch nicht noch einmal wiederholen". Es müsse auch diskutiert werden, ob es zu den Aufgaben der Nato gehöre, "für die Einhaltung der Menschenrechte" zu sorgen, sagte der SPD-Politiker.
Kubicki spricht von "billigen Angriffen"
FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae warf Maas vor, die Schuld auf den BND abzuschieben. Auch der Außenminister trage "erhebliche Verantwortung für das Desaster in Kabul", sagte er der Nachrichtenagentur AFP. Von "billigsten Angriffen" durch Maas auf den BND sprach FDP-Vize Wolfgang Kubicki.
Der CDU-Geheimdienstexperte Patrick Sensburg forderte den Rücktritt von Maas. "Das ist ein unerträgliches Verhalten", sagte Sensburg dem "Handelsblatt" mit Blick auf Maas' Kritik am BND. Früher hätten sich Minister vor ihre Beamten gestellt und ihren Rücktritt eingereicht, sagte Sensburg.
Das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte kritisierte das Vorgehen der Regierung erneut scharf. "Aufgrund von politischen Entscheidungen, die bürokratisch und fein säuberlich umgesetzt werden mussten, haben wir 80 Prozent der Ortskräfte in Afghanistan zurückgelassen", sagte der Vorsitzende Marcus Grotian der "Welt".
"Wir bemühen uns, unbürokratisch vielen Menschen zu helfen"
Grotian wandte sich auch dagegen, dass offensichtlich nur Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr als in Deutschland einreiseberechtigt anerkannt würden, wenn sie nach 2013 für Deutschland gearbeitet haben. Für Mitarbeiter des Entwicklungsministeriums und des Auswärtigen Amts gelte dagegen nur eine Zweijahresfrist, kritisierte auch der FDP-Außenpolitiker Bijan Djir-Sarai. Betroffene Ortskräfte forderten in einem verzweifelten Appell an die Bundesregierung die Ausweitung der Zweijahresfrist.
Sprecherinnen und Sprecher der Bundesregierung unterstrichen am Freitag, dass derzeit alles getan werde, um gefährdete Menschen aus Afghanistan herauszuholen. "Wir bemühen uns, unbürokratisch vielen Menschen zu helfen", sagte Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer. Dafür werde "alles getan", sagte auch ein Sprecher des Auswärtigen Amts. Ein "pragmatisches Vorgehen" betonte eine Sprecherin des Innenressorts.
- Nachrichtenagentur AFP