Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Syrer in Deutschland Grausam und inspirierend – die zwei Seiten der Einwanderung
Sechs Jahre nach der sogenannten Flüchtlingskrise steigen die Einbürgerungszahlen von Syrerinnen und Syrern rapide an. Wir müssen lernen, mit beiden Seiten der Einwanderung umzugehen – ohne eine davon zu verleugnen.
Chemnitz, Freiburg, Dresden – um nur drei Beispiele aus den vergangenen drei Jahren zu nennen.
► Daniel H., 35 Jahre, wurde am Rande eines Stadtfestes erstochen, es folgten tagelange Demos und Ausschreitungen, die international für Aufsehen sorgten.
► Thomas L., 55 Jahre, und sein Partner Oliver L., 53 Jahre, wurden hinterrücks überfallen aus islamistischen und homophoben Motiven. Thomas L. überlebte die Messerattacke nicht, Oliver L. nur schwer verletzt.
► Franziska W., 18 Jahre, wurde von mehreren Männern vergewaltigt.
In allen drei Fällen waren die (Haupt-)Täter Syrer. Jedes Mal zogen die Taten politische Debatten über Einwanderung und Integration nach sich. Ja, einige Syrer haben schlimmes Leid über das Land gebracht, was nicht wieder gutzumachen ist. Die Verzweiflung bei den Betroffenen, Angehörigen und Hinterbliebenen sitzt tief und wird sie für ihr gesamtes Leben prägen.
Immer mehr Syrer werden eingebürgert
Jetzt, sechs Jahre nach der sogenannten "Flüchtlingskrise" von 2015 und dem Zuzug besonders vieler Menschen, die vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland geflohen sind, nimmt die Zahl der Einbürgerungen Fahrt auf. Bei besonderen Integrationsleistungen können Ausländer nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz die Frist von acht Jahren rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland auf sieben oder sogar sechs Jahre verkürzen. Entsprechend weist die Statistik bereits einen signifikanten Anstieg aus. Obwohl die Zahl der Einbürgerungen 2020 coronabedingt zurückgegangen ist, nahm sie bei Syrerinnen und Syrern entgegen dem Trend um 74 Prozent zu. Erstmals stellten Syrerinnen und Syrer mit fast 7.000 Person vergangenes Jahr die zweitgrößte Gruppe unter den Eingebürgerten hinter Türkinnen und Türken.
Chemnitz, Freiburg, Dresden – das ist die grausame Seite von Einwanderung, die wir als Öffentlichkeit nicht vergessen können und dürfen.
Die andere Seite von Einwanderung sind Syrer wie Mahmoud Kabouh oder Ahmad Alshikh, die damals, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, in dieses Land kamen und jetzt ein Abitur mit 1,0 in der Tasche haben. Die Lokalzeitungen sind voll mit solchen oder ähnlichen Geschichten.
Jeder fünfte Gründer hat Migrationshintergrund
Dr.-Ing. Rania Rayyes promovierte am Institut für Robotik und Prozessinformatik der TU Braunschweig und ist eine von mehr als 200 Nachwuchswissenschaftlern, die nach 2016 im Stipendienprogramm "Leadership for Syria" gefördert wurden. Die Umweltingenieurin Nour Taleb kam ebenfalls 2015, heute ist die Mittdreißigerin Bauleiterin im Dortmunder Tiefbauamt. Allein in Sachsen verfünffachte sich die Zahl syrischer Ärztinnen und Ärzte in den vergangenen sechs Jahren auf fast 300.
Abdulhadi Soufan erfand in Berlin mit dem Start-up "Reviving Home" eine Onlineplattform, die all jene Menschen zusammenführen will, die für den Wiederaufbau einer zerstörten Stadt oder eines zerstörten Landes nötig sind. Eyass Hannoun machte eine Firma für Catering, Lieferservice und Kochevents auf, andere haben Restaurants, Tante-Emma-Läden oder Frisörsalons gegründet. Es muss nicht gleich Biontech sein, aber jeder fünfte Gründer in Deutschland hat einen Migrationshintergrund.
Der syrische Modeschöpfer Kussay Chi Chakly startete 2017 sein eigenes Label. Die Malerin Rasha Deeb hatte zusammen mit anderen etwa ein Jahr nach ihrer Ankunft die erste Ausstellung in Tübingen, inzwischen war sie an der Biennale in Venedig oder der Artissima in Turin beteiligt und zeigte vergangenes Jahr in Heidelberg ihr Kunstprojekt "Into the Sun". Der Bildhauer und Restaurator Mohamad Alnatour bietet in Duisburg Mosaik-Workshops für Kinder und Erwachsene an und hat während der Corona-Krise auf zwei zehn Meter langen Wänden die historische Altstadt von Damaskus aus jeweils mehr als 10.000 kleinen Holzstücken nachgebildet.
Solche und viele andere Geschichten gibt es in Deutschland. Nicht alle davon werden glücklich enden, manche werden trotz aller Erfolgsaussichten scheitern.
Wir benötigen Einwanderung
Zuwanderung hat immer zwei Seiten. Mal klappt sie gut, mal scheitert sie. Mal inspiriert sie, mal wird sie zum Problem. Auch wenn natürlich die Zahl der positiv verlaufenen Zuwanderungsgeschichten deutlich überwiegt, lässt sich Einwanderung nicht pauschal als nur positiv oder nur negativ bewerten. Leider versuchen jedoch viele Menschen, uns genau das permanent einzutrichtern, indem sie entweder nur auf die grausamen Seiten verweisen oder nur auf die gelungenen. Von diesem Schwarz-Weiß-Denken sollte sich der vernunftorientierte Teil der Gesellschaft lösen und nicht beeinflussen lassen. Die Welt besteht aus Farben und Grautönen – daran können selbst die härtesten Populisten dieser Welt nichts ändern. Schubladendenken hilft kurzfristig weiter, führt aber langfristig in die Sackgasse.
Klar ist des Weiteren: Wir benötigen Einwanderung, um unseren wachsenden Lebensstandard zu halten. Wer sonst sollte die vielen OPs durchführen und für uns Speisen zubereiten, wenn wir mal nicht selbst kochen wollen oder können? Wer sollte unsere Alten pflegen oder unseren Spargel stechen? Manche Jobs wollen deutsche Staatsbürger einfach nicht machen, für andere sind sie zu wenige. Und was die alte rechtsradikale Mär angeht: Nein, unsere Arbeitslosen können die Vielzahl an unmittelbar erforderlichen Jobs nicht übernehmen; mal abgesehen davon, dass unter den Arbeitslosen in Deutschland Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Relation zu solchen ohne Zuwanderungsgeschichte natürlich viel häufiger betroffen sind, und an deren Förderung den völkischen Fantasten und Fantastinnen wohl kaum gelegen sein dürfte. Selbst Japan ist inzwischen an dem Punkt angelangt, wo es nach Jahrhunderten der Abschottung an Einwanderung nicht mehr vorbeikommt.
Prekäre Verhältnisse begünstigen kriminelle Karrieren
Einwanderung erfordert selbstverständlich zuerst die Anpassung der Ankömmlinge an die Lebensumstände, die sie im neuen Land vorfinden. Einwanderung erfordert dann aber auch von den Alteingesessenen, aktiv etwas zu leisten: nämlich die Neuen grundsätzlich zu akzeptieren sowie Rassismus und Ausgrenzung zu bekämpfen, um ihnen überhaupt die Chance zu geben, echter Teil der Gesellschaft werden zu können, und sie nicht unter strukturellen Benachteiligungen angefangen in Schulen bis hin zur späteren Wohnungssuche leiden zu lassen.
Prekäre Verhältnisse haben oft einen Anteil an kriminellen Karrieren von Ausländern, wie Bundesinnenminister Host Seehofer jüngst erklärte. Mit Blick auf die furchtbare Messerattacke eines geflüchteten Somaliers vor zwei Wochen in Würzburg sagte der CSU-Politiker der "Augsburger Allgemeinen": "Wenn ein junger Mann sechs Jahre in einem Obdachlosenheim lebt, ohne dass jemand hinschaut und sich kümmert, dann kann ich mit unserer Politik nicht zufrieden sein, da fehlt es am Bewusstsein."
Als Politik und Gesellschaft sind wir auch auch den Opfern von kriminellen Zuwandererinnen und Zuwanderern verpflichtet. Wir dürfen über die Probleme von Einwanderung nicht hinwegsehen. Einige wenige Menschen müssen abgeschoben, manche besser integriert werden. Es ist eine zentrale Aufgabe des Staates, uns alle bestmöglich zu schützen. Deshalb wurden "Staaten" überhaupt erst erfunden.
Einwanderung wird die gesellschaftliche Zukunft in Deutschland und anderen Staaten Europas und der Welt bestimmen. Das ist keine These, über die wir diskutieren können, das ist Fakt. Nach einer Auswertung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung vergangene Woche hat bereits jeder vierte Deutsche einen Migrationshintergrund. Diese Entwicklung muss konzentriert und zielgerichtet gestaltet werden – ohne Angst vor Nazikeulen und ohne Schönfärberei aus Sorge davor, Menschen könnten weiter rassistisch aufgehetzt werden.
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Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal-Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen und ist Kandidatin der Grünen für den Bundestag. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen.