t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikDeutschland

Corona-Impfungen: "Deutschland hat ein riesiges Bürokratieproblem"


Nachrichten
Wir sind t-online

Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.

"Riesiges Bürokratieproblem"
Das Ausland wundert sich über die deutsche Impfdebatte


Aktualisiert am 05.05.2021Lesedauer: 5 Min.
Eine Corona-Spritze und ein Impfbuch: Anders als in Ländern wie Israel hat Deutschland bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen noch Nachholbedarf.Vergrößern des Bildes
Eine Corona-Spritze und ein Impfbuch: Anders als in Ländern wie Israel hat Deutschland bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen noch Nachholbedarf. (Quelle: Chromorange/imago-images-bilder)
News folgen

Corona-Notbremse? Mehr Freiheiten für Geimpfte? In Israel, Frankreich und Großbritannien denken die Menschen vollkommen anders über die deutschen Diskussionen.

Uriel Kashi muss lange überlegen. Spontan fallen dem Reiseleiter, der 2007 von Deutschland nach Israel zog, kaum noch Regeln ein, die seinen Alltag einschränken. Beruflich fehlen ihm nach wie vor die Touristen. Aber Schulen, Bars und Restaurants sind wieder geöffnet, höchstens beim Einkaufen oder in geschlossenen Räumen trägt er noch eine Maske. "Es gibt viele Herausforderungen in dem Land, aber die Pandemie haben wir im Griff", sagt der 45-Jährige.

Seit die ersten Corona-Vakzine zugelassen wurden, impft kein Land schneller und erfolgreicher als Israel. Sowohl bei den Erst- als auch Zweitimpfungen liegen die Quoten bei rund 60 Prozent. Für Kashi gibt es vor allem einen Grund, warum Deutschland davon noch weit entfernt ist: Israels Strategie hält er für viel pragmatischer.

Zwar konnten sich auch dort zuerst alte und kranke Personen impfen lassen. Blieb aber in einem Impfzentrum am Ende des Tages etwas übrig, wurden die Reste seit dem ersten Tag an Freiwillige verimpft. So kam auch Kashi an einem späten Abend im Januar an seine erste Spritze mit dem Biontech-Impfstoff, als er vor einem Impfzentrum wartete. Seit Februar ist er vollständig geschützt.

Lockerer Datenschutz

Pragmatisch ist auch der Umgang des Landes mit dem Datenschutz. Dadurch habe man viel mehr Dosen als andere Mitbewerber erhalten: "Wir haben auch deshalb so viel Impfstoff bekommen, weil Israel anonymisierte Daten mit Biontech/Pfizer austauscht." Gleiches gilt für Corona-Tests. Tägliche Kontrollen sind laut Kashi kein Problem, weil die Regierung einen Deal mit chinesischen Herstellern abschloss. Dort konnte Israel große Mengen bestellen, im Gegenzug landeten anonymisierte Proben in China. Für den Moment habe dies Vorteile, allerdings wisse niemand, was mit den Daten in Zukunft passiert, meint Kashi.

Insgesamt ist der 45-Jährige dennoch froh, die Pandemie in Israel zu erleben. Gerade beim Impfen wirke seine alte Heimat aus der Ferne unflexibel. "Deutschland hat ein riesiges Bürokratieproblem", sagt Kashi. Während man dort mit einer veralteten Verwaltung kämpfe, sei Israel hochdigitalisiert.

Was Deutschland aktuell diskutiert, ist dort längst entschieden: Nach vollständiger Impfung oder überstandener Erkrankung entfallen fast alle Einschränkungen. Als Nachweis dient der sogenannte "grüne Pass" auf dem Smartphone. Nur wer ihn vorzeigt, kommt etwa in ein Fitnessstudio oder in eine Konzerthalle. "Der Impfausweis ist die Eintrittskarte in die Normalität", sagt Kashi. Das sei zwar ungerecht für diejenigen, die noch nicht geimpft werden können, wie etwa Kinder. Erleichterungen seien aber für alle in Sichtweite, wenn das Land bald die Herdenimmunität erreiche.

Frankreich orientiert sich an den USA

Davon ist Deutschland aktuell ähnlich weit entfernt wie Frankreich. Bis vor wenigen Wochen lagen beide Länder nahezu gleichauf beim Impfen. Inzwischen hat sich Deutschland einen leichten Vorsprung bei den Erstimpfungen erarbeitet. Laut Caroline Kanter blicken die Franzosen aber weniger nach Deutschland, wenn es um den Impffortschritt geht. "Man schaut eher auf Großbritannien oder die USA", sagt Kanter, die in Paris das Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung leitet.

Die deutsche Pandemiepolitik habe in Frankreich einen besseren Ruf als zu Hause, meint sie: "Man hat mit einer gewissen Bewunderung immer wieder nach Deutschland geblickt, gerade in der ersten Phase im vergangenen Jahr." Die Impfkampagne bereite nun beiden Ländern Probleme, dennoch habe Deutschland dabei nicht alles falsch gemacht. Während die Impfzentren dort schon im Dezember bereitstanden, kämpfte Frankreich Monate um die entsprechende Infrastruktur.

Harter Lockdown, keine "Querdenker"

Noch immer ist das Land deutlich stärker von dem Virus betroffen. Durch die Pandemie starben insgesamt schon mehr als 100.000 Menschen, in Deutschland sind es fast 84.000. Viele Franzosen seien pandemiemüde, aufgrund der hohen Zahlen aber zu starken Einschränkungen bereit. Carolin Kanter sagt: "Die Reaktion der Bevölkerung auf die Maßnahmen ist weniger aggressiv als in Deutschland. Dem Land steckt die erste Welle noch in den Knochen."

Sie glaubt, dass sich auch deswegen keine Protestbewegung wie "Querdenken" in Frankreich gebildet hat, obwohl viel härtere Maßnahmen gelten. Aktuell gibt es etwa Ausgangssperren bereits ab 19 Uhr. Zwischenzeitlich durften sich die Franzosen sogar nur noch einen Kilometer um den eigenen Wohnsitz herum frei bewegen.

Öffnungen statt Impffreiheiten

Die öffentlichen Diskussionen drehen sich im deutschen Nachbarland deshalb weniger um das Impfen: "Die Ungeduld in Deutschland, geimpft zu werden, ist vermutlich größer. In Frankreich sehnt man sich mehr nach Öffnungen", sagt Kanter.

Dem hat Präsident Macron bereits Rechnung getragen: Am Sonntag kündigte er einen stufenweisen Öffnungsplan an, der nur bei starker Belastung der Intensivstationen und Inzidenzen von mehr als 400 gestoppt wird. Eine Diskussion um Lockerungen speziell für vollständig Geimpfte wird laut Kanter dagegen kaum geführt: "Generell gilt Frankreich als ein sehr skeptisches Land, wenn es ums Impfen geht."

Briten können Impfskepsis nicht verstehen

In Großbritannien nimmt Ed Turner einen gewissen Nationalstolz wahr, zumindest rund um das in Oxford mitentwickelte Vakzin von Astrazeneca. Auch der 43-Jährige ließ sich am vergangenen Wochenende von seinem Hausarzt mit diesem Mittel impfen. Zwar hat die britische Regierung inzwischen empfohlen, damit nur noch Menschen zu impfen, die älter als 30 Jahre sind. Die Skepsis gegenüber dem Impfstoff in Ländern wie Deutschland können viele von Turners Landsleuten aber nicht verstehen.

Das Mittel werde genauso wie die gesamte Impfkampagne auf der Insel mit dem Austritt aus der Europäischen Union in Verbindung gebracht, berichtet er. "Die Brexit-Befürworter versuchen, den Impferfolg zu instrumentalisieren. Die Brexit-Gegner taten das Gleiche, als Deutschland die Pandemie im Griff hatte", sagte Turner, der an der Aston University in Birmingham als Dozent für deutsche Politik arbeitet.

Erleichterung trotz großer Schäden

Wegen der hohen Impfzahlen hellt sich die Stimmung in dem Land aber zunehmend auf. Die Hälfte aller Briten hat mindestens eine Dosis erhalten, die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei nur noch 22. Nach einem harten Lockdown um die Jahreswende hat die Regierung mittlerweile etwa die Außengastronomie geöffnet. "Es herrscht eine gewisse Euphorie, dass Großbritannien langsam das Ende der Pandemie erreicht. Ein Pub in meiner Nähe hat seit der Wiedereröffnung keinen freien Tisch mehr", sagt Turner.

Das sei erstaunlich, denn ähnlich wie in Frankreich habe auch die britische Regierung zuvor viele falsche Entscheidungen getroffen. Das Resultat sind unter anderem 128.000 Todesfälle, so viele wie in keinem anderen Land in Europa. Turner ist deshalb auch an deutlich härtere Lockdown-Maßnahmen gewöhnt: Noch immer sind private Treffen in Innenräumen etwa mit anderen Hausständen verboten. Durch die starke Impfkampagne tritt das aber in den Hintergrund. Bei den kommenden Kommunal- und Regionalwahlen rechnet der Politologe deshalb mit guten Ergebnissen für die regierenden Konservativen von Premierminister Boris Johnson.

Loading...
Loading...

Völlig anders als in Deutschland wird laut Turner in seiner Heimat über Freiheiten für vollständig Geimpfte diskutiert. Man sei überrascht, dass die Bundesregierung schon jetzt einen gesetzlichen Rahmen beschließt trotz niedrigerer Impfquoten. "Wir sind viel vorsichtiger bei Lockerungen für Geimpfte." Turner glaubt, man werde erst bei Herdenimmunität viele Maßnahmen für die gesamte Bevölkerung aufheben.

Wie Deutschland hat auch die britische Regierung noch kein fertiges konkretes Konzept, wie ein Impfpass aussehen soll. Der Einwand, dass die Lockerungen ohne einen Nachweis kaum kontrollierbar seien, habe in seiner Heimat mehr Gewicht. Und ein Argument für das Aufheben von Corona-Regeln, das in Deutschland besonders häufig genannt wird, spielt für Turner in Großbritannien kaum eine Rolle: "Wir haben weniger Bezug zu unseren Grundrechten."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Interview mit Uriel Kashi am 4.5.2021
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Neueste Artikel



TelekomCo2 Neutrale Website