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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bundesländer im Überblick Lockdown und Gewalt – so groß ist das Problem wirklich
Häusliche Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem, das meist im Verborgenen bleibt. Und mit der Corona-Krise hat es sich vielerorts verschärft, wie Daten aus den Ländern zeigen, die t-online vorliegen.
Im Juni zeichnete eine Umfrage von Sozialforschern ein beunruhigendes Bild. Frauen hätten während der Corona-Krise oft mehr häusliche Gewalt erfahren – vor allem dann, wenn die Familien in Quarantäne mussten oder akute finanzielle Sorgen hatten, fanden Wissenschaftler der Technischen Universität München und des RWI Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung heraus.
Neueste Daten, die t-online bei den Ministerien und Polizeien in den Ländern abgefragt hat, bestätigen diese Entwicklung für große Teile des Landes. Für andere tun sie dies bislang nicht. Vielfach zeigt sich auch ein uneinheitliches Bild oder es lassen sich aus den derzeit vorliegenden Zahlen noch keine Schlussfolgerungen ablesen, wie die Behörden immer wieder betonen.
Dass es derzeit noch kein gesichertes Gesamtbild für Deutschland gibt, liegt an den unterschiedlichen Daten, die die Bundesländer zur Verfügung gestellt haben. Einige machen Angaben zur Zahl der Opfer häuslicher Gewalt, andere zum Aufkommen entsprechender Fälle. Mehrere Länder konnten ganz aktuelle Daten vorlegen, bei vielen wiederum fand die letzte Erhebung im Sommer statt.
Häusliche Gewalt oft von Freunden oder Verwandten gemeldet
Fast alle zuständigen Stellen weisen darauf hin, dass gerade bei häuslicher Gewalt Anzeigen oft mit zeitlicher Verzögerung eingehen, und dass Vorfälle häufig von Freunden oder Verwandten gemeldet werden. Die Corona-bedingten Einschränkungen haben genau das aber oft schwierig gemacht, weil soziale Kontakte fehlten. Deshalb könnten womöglich noch mehr Fälle als sonst unerkannt geblieben sein. Viele Stellen gehen folglich von einer hohen Dunkelziffer aus, die schon in normalen Zeiten zwei Drittel beträgt.
Insofern dürften erst spätere Auswertungen zeigen, was eine aus mehreren Ländern vermeldete Stagnation bei den Fallzahlen wirklich aussagt, wenn gleichzeitig eine höhere Dunkelziffer angenommen wird. Und dennoch lassen sich aus den vorliegenden Daten Trends ablesen, die in einigen Bundesländern die Befürchtungen aus dem Frühjahr bestätigen.
Berlin
Die Behörden in der Hauptstadt melden für den Zeitraum seit Beginn der Pandemie steigende Fallzahlen von häuslicher Gewalt. Vom 1. März bis 30. September wurden insgesamt 9.188 Straftaten gegen die Freiheit und körperliche Unversehrtheit innerhalb der Familie oder der Partnerschaft registriert, wie die Polizei auf Anfrage mitteilt. Im gleichen Vorjahreszeitraum waren es 8.847, was einem Anstieg von etwa 4 Prozent entspricht.
Besonders stark war der Anstieg im März, also vor und am Beginn der strikten Einschränkungen, und noch einmal im Juli, nachdem die meisten Maßnahmen wieder aufgehoben waren, mit jeweils plus zehn Prozent. Der größte Teil der Gewaltdelikte im häuslichen Umfeld waren Körperverletzungen (70 Prozent). In 13 Prozent der Fälle bedrohte der Tatverdächtige die nahestehende Person, 3 Prozent der Fälle waren sexuelle Übergriffe.
Hamburg
Die Polizei in der Hansestadt zählte von Januar bis Ende Juni 2.252 Opfer von Beziehungsdelikten. Das sind 440 mehr als im gleichen Zeitraum 2019, was einem Plus von über 20 Prozent entspricht. Für die Lockdown-Phase vom 16. März bis 4. Mai beträgt das Plus nach Aussage eines Sprechers über sechs Prozent, wobei der oft große Zeitverzug bei der Anzeige von Straftaten in diesem Bereich zu beachten sei.
Die Hamburger Sozialbehörde stellte bislang keine erhöhte Nachfrage nach Plätzen in Frauenhäusern fest. Fälle von Kindesmisshandlung blieben laut Polizei auf dem gleichen Niveau. Hier wurden von Januar bis Juni 31 Übergriffe erfasst. Fälle von verletzter Fürsorgepflicht gingen von 13 auf 5 zurück.
Brandenburg
Die Polizei registrierte zwischen März und Ende Juli einen deutlichen Anstieg von Fällen häuslicher Gewalt. Im polizeilichen Erfassungssystem wurden vom 1. März bis 22. Juli 1.840 entsprechende Vorgänge verzeichnet. Das sind 22 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2019, als es 1.508 Fälle gab. Das Gesundheitsministerium in Potsdam berichtet von einer langsam steigenden Nachfrage nach Frauenberatung ab März 2020. Insgesamt aber würden sich die Beratungszahlen nicht über dem Vorjahresniveau bewegen.
Mecklenburg Vorpommern
In den Lockdown-Monaten März, April und Mai schnellten die Fälle häuslicher Gewalt Im Nordosten regelrecht nach oben. Im März wurden 188 Delikte erfasst, 44 mehr als im Vorjahresmonat – plus 30 Prozent. Im April waren es bereits 231 Fälle, 91 mehr als im Vorjahresmonat – plus 65 Prozent. Im Mai schließlich wurden 216 Fälle und damit 17 mehr als zur gleichen Zeit 2019 gemeldet – plus 8 Prozent. Seither blieben die Zahlen etwa auf dem Niveau des Vorjahres. Im September (168 Delikte) lagen sie sogar etwa 10 Prozent unter dem Vorjahr (186).
Die Frauenhäuser in den großen Städten Schwerin und Rostock meldeten sowohl zu Beginn der Pandemie wie auch aktuell eine Überbelegung der Kapazitäten. In Neubrandenburg stieg die Belegung deutlich an.
Nordrhein-Westfalen
Ein anderes Bild im Westen, wo die Anzeigen von häuslicher Gewalt deutlich zurückgingen. Laut Innenministerium registrierten die Dienststellen vom 1. Januar bis 18. Oktober 2020 insgesamt 25.687 entsprechende Anzeigen. Im Vorjahreszeitraum waren es noch 30.130, ein Minus von rund 15 Prozent. Das Gleichstellungsministerium konnte auf Anfrage noch keine konkreten Aussagen zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie machen. Sprecher Fabian Götz betont aber, dass seit Beginn der Pandemie in NRW "durchgängig freie Schutzplätze für von Gewalt betroffene Frauen mit und ohne Kindern verfügbar" gewesen seien.
Sachsen
Im Freistaat gingen die Anzeigen wegen häuslicher Gewalt deutlich zurück: von März bis 31. Juli waren es 2.752 Meldungen, im Vorjahreszeitraum 3.439. Gleichwohl betont das Innenministerium, dass es wegen der pandemiebedingten Ausgangs- und Kontakteinschränkungen "zu Veränderungen im Anzeigeverhalten und demzufolge zu einem erhöhten Dunkelfeld gekommen ist". Grund hierfür sei, dass häusliche Gewalt häufig nicht durch die Opfer selbst, sondern durch Freunde, Verwandte oder Kollegen angezeigt werde.
Schleswig-Holstein
Auch das Innenministerium in Kiel spricht von einem derzeit unvollständigen Lagebild. Ein Sprecher erklärt, nach aktuell vorliegenden Daten "stagnieren die Fallzahlen im Deliktsfeld Häusliche Gewalt seit Anfang März in Schleswig-Holstein weiterhin auf niedrigem Niveau".
Rheinland-Pfalz
Das Innenministerium in Mainz stellte im ersten Halbjahr 2020 kaum Unterschiede zum Vorjahr fest. Insgesamt wurden im Zeitraum 4.843 Menschen Opfer von häuslicher Gewalt. Im ersten Halbjahr 2019 waren es 4.827. In den allermeisten Fällen traf die Gewalt den Partner, Ehepartner oder Ex-Partner (4.121), davon wiederum waren 80 Prozent Frauen (3.263).
In 689 Fällen war das Kind des Tatverdächtigen das Opfer, in 33 Fällen das Enkelkind. 75 Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt erlitten Körperverletzungen (3.606), gut 12 Prozent wurden bedroht (597). 3,6 Prozent wurden Opfer eines Sexualdelikts (172).
Die Frauenhäuser und Fachberatungsstellen in Rheinland-Pfalz stellten bisher ebenfalls keine erhöhte Nachfrage fest. "Wir waren davon ausgegangen, dass aufgrund der aktuellen Situation mehr Frauen Schutz suchen werden", teilt das Familienministerium mit. "Bisher lässt sich dies auf Basis der uns vorliegenden Informationen jedoch nicht feststellen."
Sachsen-Anhalt
Auch das Justizministerium in Magdeburg konnte entgegen der Erwartungen keine Zunahme der Anfragen in den Frauenhäusern verzeichnen. Gleichwohl zeigen sich regionale Unterschiede in dem Bundesland. So sei das Frauenhaus Magdeburg vom späten Juli an über mehrere Wochen komplett belegt gewesen. Auch aktuell würden die Anfragen an die Einrichtung in der Landeshauptstadt über dem Durchschnitt liegen.
Das Innenministerium erklärt, dass die Zahlen in diesem Deliktsbereich insgesamt sehr schwankend und uneinheitlich seien. Derzeit sei eine abschließende Aussage darüber, ob die Corona-bedingten Maßnahmen Auswirkungen auf die Zahlen bei häuslicher Gewalt hatten, noch nicht möglich.
Hessen
Das Innenministerium konnte noch keine konkreten Angaben zur aktuellen Lage machen, betont allerdings auf Anfrage, dass die zurzeit notwendigen Beschränkungen im Alltag sehr wohl "Stressfaktoren für Familien und häusliche Gemeinschaften in Hessen bedeuten". Das Sozialministerium in Wiesbaden weißt auf eine gestiegene Nutzung niederschwelliger Hilfsangebote wie Telefon-und Online-Beratung hin. "So verzeichnete beispielsweise das Hilfetelefon 'Gewalt gegen Frauen' einen Zuwachs an Beratungsnachfragen um 20 Prozent", erklärt das Ministerium.
Bayern
In Bayern gingen die Fälle häuslicher Gewalt laut Landeskriminalamt im ersten Halbjahr gegenüber dem Vorjahr eher zurück. Die Nachfrage nach Frauenhausplätzen sowie ambulanter Beratung sank laut Sozialministerium in der Phase des Lockdowns und stieg nach der Lockerung der Corona-Maßnahmen im Frühsommer wieder leicht an. Die Anfragen bei Opfer-Beratungsstellen hätten insgesamt zugenommen.
Baden-Württemberg
Das Innenministerium stellte in den ersten neun Monaten des Jahres einen Anstieg sowohl der Fälle als auch der Opfer von so genannter Partnergewalt im Vergleich zum Vorjahr fest. Ein Zusammenhang mit den Corona-bedingten Einschränkungen ist laut einer Sprecherin bislang aber noch nicht gesichert. Bei der Belegung der Frauen- und Kinderschutzhäuser im Südwesten verzeichnete das Sozialministerium in Stuttgart einen Rückgang von März bis Mai. Zwischenzeitlich sei die Nachfrage jedoch wieder auf das "Vor-Corona"-Niveau gestiegen, wird mitgeteilt.
Bremen
Die Polizei in der Hansestadt kann auf Basis der aktuellen Datenlage keine generelle Zunahme häuslicher Gewalt gegenüber 2019 feststellen, teilt eine Sprecherin auf Anfrage mit. Allerdings betont sie: "Schätzungen zufolge wird bei Frauen als Opfer zum Beispiel von einem Dunkelfeld von 70 Prozent ausgegangen. Bei Männern wird von einem Dunkelfeld von weit über 90 Prozent ausgegangen."
Auch bei Fällen elterlicher Gewalt gegenüber ihren Kindern sei die Dunkelziffer sehr hoch, da die Opfer häufig zu jung seien, um sich mitzuteilen, oder unter Druck gesetzt würden, zu schweigen.
Niedersachsen
Die Pressesprecherin des Landeskriminalamts Niedersachsen, Katrin Gladitz, teilt mit, aus polizeilicher Sicht lasse sich aus den vorliegenden Daten derzeit keine Zunahme der Straftaten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt erkennen. "Im Jahresvergleich liegt der Trend nach derzeitigem Stand weiterhin unter dem des Vorjahres."
Thüringen
Nach Angaben der Polizei in Thüringen fiel das Einsatz- und Anzeigenaufkommen mit dem Beginn der staatlichen Corona-Maßnahmen thüringenweit zunächst stark ab, und stieg mit den stufenweisen Lockerungen wieder an. Ähnlich verhielt es sich laut Sozialministerium mit der Belegung der Frauenhäuser. Seit Ende April hätten die Aufnahmen wieder leicht zugenommen und etwa das Vor-Corona-Niveau erreicht. Die Anfragen für Telefon- und Online-Beratungen seien vor allem im Sommer gestiegen.
Aus dem Saarland lagen keine aktuellen Informationen vor.
- Angaben der Ministerien und Polizeidienststellen in den Bundesländern.