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Anton Hofreiter (Grüne) über Corona und Tönnies: "Fleischindustrie ist krank"


Interview
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Hofreiter über Corona und Tönnies
"Die Fleischindustrie ist krank"

  • Johannes Bebermeier
InterviewVon Johannes Bebermeier

Aktualisiert am 24.06.2020Lesedauer: 7 Min.
Anton Hofreiter: Der Grünen-Fraktionschef drängt auf schnelle Änderungen in der Fleischindustrie und sorgt sich um die Wirtschaft.Vergrößern des Bildes
Anton Hofreiter: Der Grünen-Fraktionschef drängt auf schnelle Änderungen in der Fleischindustrie und sorgt sich um die Wirtschaft. (Quelle: imago-images-bilder)

Entgleitet Deutschland die Corona-Pandemie? Grünen-Fraktionschef Hofreiter fordert schnellere Lösungen für die Fleischindustrie – und sorgt sich um die Wirtschaft und die Lufthansa.

Riesige Ausbrüche und strauchelnde Wirtschaftsriesen: Die Corona-Krise beschäftigt Deutschland wieder auf allen Ebenen. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter ist besorgt.

Das Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie geht ihm nicht schnell genug voran. Und bei der Rettung der Lufthansa setze die Regierung auf den falschen Weg, sagt er im Interview mit t-online.de.

Herr Hofreiter, nach vielen Wochen mit niedrigen Corona-Zahlen ist es in Göttingen, Berlin und vor allem bei Tönnies in NRW zu riesigen Ausbrüchen gekommen. Auch andernorts gibt es wieder mehr Neuinfizierte. Sind wir zu unvorsichtig geworden?

Anton Hofreiter: Wir müssen weiter wachsam bleiben und dürfen nicht übermütig werden. Nicht alle halten sich ausreichend an die Regeln. Das Beispiel Tönnies zeigt für mich aber etwas anderes: Corona wirft ein grelles Licht auf die Ausbeutung von Menschen in der Fleischindustrie. Hier werden soziale Ungleichheiten und systemische Probleme der Branche sichtbar.

Mehr als 1.300 Infizierte allein bei Tönnies, von denen wahrscheinlich viele schon vor der Quarantäne ansteckend waren. Und bald beginnt die Reisezeit. Wie gefährlich ist die Lage in Deutschland derzeit?

Die Reproduktionszahl hat sich stark erhöht. Bislang ist das aber vor allem von den großen lokalen Ausbrüchen getrieben. Man kann nur an jeden appellieren, sich vernünftig zu verhalten. Sonst werden wir in eine zweite Welle geraten – mit allen Konsequenzen für unser soziales und ökonomisches Zusammenleben.

Einige Politiker haben in letzter Zeit wenig dafür getan, dass die Menschen vorsichtig bleiben.

Das stimmt. Der FDP-Chef Christian Lindner oder NRW-Ministerpräsident Armin Laschet haben den Eindruck geschürt, dass die Probleme im Griff seien. Es gab Debatten darüber, ob die ganzen Maßnahmen nicht viel zu scharf waren. Jetzt sehen wir: Das Virus ist weiterhin unter uns, es ist genauso gefährlich wie zuvor. Bis wir einen Impfstoff haben, müssen wir uns an das neue Normal gewöhnen: Masken tragen, Abstand halten, Hygiene einhalten und die Corona-Warn-App nutzen.

Kann die Regierung sonst nichts tun?

Ich erwarte von allen Verantwortlichen, dass sie nicht auf Risiko spielen. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass dem Infektionsgeschehen entsprechend überall die Teststrategie hochgefahren wird. Je mehr man testet, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, Ausbrüche schnell zu erwischen. Und dann müssen die Gesundheitsämter weiter unterstützt werden, damit die Infektionsketten unterbrochen werden.

Hat es zu viele und zu unkoordinierte Lockerungen gegeben?

Es wurde viel zu unkoordiniert gelockert, das stimmt. Der richtige Ansatz ist weiterhin: Hygieneregeln, Testen und gezielte Nachverfolgung der Infektionen in Kombination mit regionalen Shutdown-Maßnahmen bei Ausbrüchen. Die regionalen Verantwortlichen müssen dann aber auch den Mumm besitzen, die unangenehmen Schritte zu gehen, wenn sie nötig sind. Und nicht, wenn es schon fast zu spät ist. Sonst funktioniert das nicht.

Im Kreis Gütersloh müssen jetzt alle ausbaden, was bei Tönnies passiert ist. In Göttingen rebellieren Anwohner eines Quarantäne-Hochhauses. Zeigt sich nicht gerade, dass es riesiges Konfliktpotential birgt, mit lokalen Maßnahmen auf Ausbrüche zu reagieren?

Das Konfliktpotential wäre bei einem zweiten großen Lockdown noch viel größer. Die Pandemie wirft ein grelles Licht auf die dunklen Flecken unserer Gesellschaft. In dem Hochhaus in Göttingen leben Familien in winzigen Wohnungen unter ärmlichen Verhältnissen. Dass es dort schwerfällt, sich an die Quarantäne zu halten, ist nachvollziehbar. Da muss es Hilfe geben, damit Quarantäne unter menschenwürdigen Bedingungen stattfindet.

Was ist bei Tönnies schiefgelaufen?

Das muss jetzt aufgeklärt werden. Die Verhältnisse in der Fleischindustrie sind schon seit Jahren ein Skandal. Ich sehe mehrere Probleme: Bei der Unterbringung in engen Mehrbettzimmern ist es nahezu unmöglich, Distanz zu halten. Beim Transport in Bussen zur Fabrik ebenso. Und bei der Arbeit konnten die Menschen offenbar weder beim Zerlegen der Tiere, noch in der Kantine die Abstände einhalten. Zudem sorgen die niedrigen Temperaturen dafür, dass das Virus länger aktiv bleibt. Es bräuchte schärfere Hygienekonzepte in der Fleischindustrie und scharfe Kontrollen. Stattdessen wurden aber wohl nicht mal die niedrigeren Standards eingehalten. Das ist ein Skandal.

Die Fleischindustrie ist als "kritische Infrastruktur" eingestuft, sie soll unbedingt weiterproduzieren, um die Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen. Ist das Teil des Problems?

Es ist richtig, dass zur Aufrechterhaltung der Ernährungssicherheit einige Bereiche als systemrelevant gelten können. Aber dann muss gerade in solchen Bereichen für die Sicherheit der Menschen gesorgt werden. Da darf es dann kein Einknicken geben. Dieser gewaltige Ausbruch ist ohne Beispiel. Und wir wissen nicht, wie stark sich das Virus von Tönnies ausgebreitet hat.

Arbeitsminister Hubertus Heil will nun einen Gesetzentwurf vorlegen, um Werkverträge in der Branche zu verbieten. Bringt das was?

Werkverträge sind eine der Ursachen für die Zustände in der Fleischindustrie. Durch sie bekommt man die wirklichen Verantwortlichen nie zu greifen. Tönnies und andere können sich damit herausreden, dass die Arbeiter bei Subunternehmern angestellt sind. Wenn man denen etwas nachweisen kann, gehen sie pleite – und die Leute machen am nächsten Tag für einen anderen Subunternehmer den gleichen Job. Das darf nicht mehr sein. Es braucht aber auch mehr Kontrollen in den Betrieben und eine Generalunternehmerhaftung für den Arbeitsschutz.

Das Gesetz zu Werkverträgen soll erst 2021 kommen. Bis dahin kann sich das Coronavirus noch in vielen Fleischbetrieben ausbreiten.

Ich verstehe nicht, warum das bis 2021 dauern sollte. Werkverträge in der Fleischbranche müssen jetzt verboten werden. Beim ersten Corona Hilfspaket ging es sehr schnell – wir haben in einem Sitzungstag im Bundestag 156 Milliarden Euro freigegeben. Über Verbote von Werkverträgen diskutieren wir schon seit Jahren.

Woran hakt es?

Arbeitsminister Heil schiebt technische Schwierigkeiten vor. Meinen Informationen nach liegt es aber vor allem an der Union, die von der Landwirtschaftslobby bearbeitet wird und das nun verzögert.

Für die Fleischindustrie während der Pandemie braucht es doch aber definitiv jetzt eine Lösung.

Ja. Es muss etwas passieren. Solange Tönnies kein überzeugendes Hygiene- und Sicherheitskonzept vorlegt, sollte der Betrieb seine Produktion nicht mehr aufnehmen dürfen. Die Menschen müssen so untergebracht werden, dass sie Abstände einhalten können. Die Arbeitsschutzstandards gehören verschärft, die Abstände der Arbeiter müssen erhöht werden. Die klimatischen Bedingungen müssen verbessert werden. Das alles wird für die Unternehmen teurer, weil nicht mehr so viele Schweine geschlachtet werden können. Aber es muss sein.

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Die Branche wird sich wehren, weil sie weniger verdient.

Der erste große Lockdown hat uns alle viel mehr gekostet. Nach Schätzungen hat die Volkswirtschaft einen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag pro Woche verloren. Die sozialen Kosten sind noch gar nicht abzuschätzen. Das dürfen wir für die Profite einer großteils ausbeuterischen Branche nicht nochmal riskieren. Dafür hätte ich gar kein Verständnis.

An den Problemen in der Fleischbranche insgesamt ändert das alles aber nur wenig.

Das stimmt. Das ganze System muss verändert werden. Die Fleischindustrie ist krank. Das weiß man seit Jahren. Es gibt einen gigantischen Preisdruck auf die Schlachthöfe, aber auch auf die Bauern. Und die Menschenrechtsverletzungen beginnen schon viel früher. Das Futter für die Schweine von Tönnies wird oft in Südamerika produziert und stammt auch von Flächen, auf denen Kleinbauern vertrieben oder sogar ermordet wurden.

Welche Verantwortung tragen die Verbraucher?

Die Menschen haben mit ihrem Einkaufsverhalten eine Macht und tragen damit auch eine Verantwortung. Aber sie wissen derzeit oft gar nicht, was sie kaufen. Nur bei Bio-Produkten oder Fleisch vom lokalen Metzger kann man sich sicher sein. Bei konventionellem Fleisch ist nur der Preis eindeutig. Die Aufmachung und viele Label sind schlicht Verbrauchertäuschung. Es muss eine simple Kennzeichnung geben.

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Der Wirtschaft geht es trotz der Lockerungen schlecht. Wie sehr sorgen sie sich derzeit?

Meine Sorge ist ziemlich groß, weil das Konjunkturpaket der Regierung Schwächen hat, etwa bei Solo-Selbstständigen, bei Familien und den Ärmsten. Vor allem aber ist es nur ein Konjunkturpaket. Wir brauchen jetzt auch die Zusicherung, dass es danach ein Investitionspaket über viele Jahre gibt. Unser Vorschlag sind 500 Milliarden in zehn Jahren. Damit gibt man der Wirtschaft Vertrauen und Verlässlichkeit zurück. Das ist in der Krise das Wichtigste, sonst investiert niemand.

Eine wichtige Entscheidung steht in dieser Woche bei der Lufthansa an. Am Donnerstag entscheiden die Aktionäre über das staatliche Rettungspaket. Warum sollte der Staat die Lufthansa überhaupt retten? Viele Firmen haben gerade große Probleme.

Die Lufthansa hat es in der Corona-Krise besonders hart getroffen, und das unverschuldet. Ohne staatliche Rettung wäre dieser riesige Konzern in kurzer Zeit pleite. Es ist richtig, der Lufthansa zu helfen, genauso wie wir vielen kleinen Unternehmen geholfen haben. Doch der Weg ist nicht besonders klug.

Der Staat will sich an der Lufthansa beteiligen. Neun Milliarden Euro sollen 20 Prozent der Aktien sichern. Wie ginge es klüger?

Der Staat investiert Milliarden in die Lufthansa und kriegt dafür nichts: keine Sicherung der Arbeitsplätze und keine Klimaschutzvorgaben. Frankreich hat es besser gemacht. Dort hat man der Air France nur Kredite und Bürgschaften gewährt und einen Vertrag mit dem Unternehmen geschlossen, in dem es klare Vorgaben zu Klima und Beschäftigung gibt.

Härtere Bedingungen hätte der Staat aber doch auch bei uns stellen können, wenn er sich schon am Unternehmen beteiligt.

Das stimmt, die Regierung hat schlecht verhandelt. Und der Weg an sich ist schon zu kompliziert. Die Hauptversammlung kann die Rettung einfach platzen lassen.

Der Großaktionär Heinz Hermann Thiele könnte das Rettungspaket dort alleine blockieren. Er fürchtet offenbar den Einfluss des Staates und forderte Nachverhandlungen. Hat sich der Staat erpressbar gemacht?

Herr Thiele handelt völlig unverantwortlich und hat nur seinen eigenen Geldbeutel im Blick. Das ist Kapitalismus in der schlimmsten Form. Aber der Staat hat eben auch einen Weg gewählt, auf dem er erpressbar ist.

Was müsste bei der Lufthansa geschehen, damit es ein zukunftsfähiges Unternehmen wird?

Der Konzern als solches muss erhalten werden und darf nicht filetiert werden. Die Flotte muss erneuert werden, die nächste Generation an Flugzeugen verbraucht 20 Prozent weniger. Es braucht eine engere Kooperation mit der Bahn, damit Inlandsflüge reduziert werden. Das Ziel muss eine ausgeglichene CO2-Bilanz sein. Dazu werden auch synthetische Kraftstoffe aus grünem Wasserstoff nötig sein.

Was passiert, wenn das Rettungspaket am Donnerstag scheitert?

Dann ist die Chance groß, dass die Lufthansa pleitegeht und das Unternehmen aufgespalten wird – mit allen negativen Folgen für Beschäftigte und den Industriestandort. Dem Klima wird das gar nichts bringen, weil Firmen wie Ryanair übernehmen, die völlig unverantwortlich agieren. Der Staat müsste sofort tätig werden und doch noch den französischen Weg gehen.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Anton Hofreiter per Videotelefonie
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