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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Brandbrief aus dem Innenministerium Corona-Kritiker rebellierte schon einmal – beim Thema Asyl
In sozialen Netzwerken und Blogs kursiert ein vernichtendes Positionspapier aus dem Innenministerium. Dahinter steckt ein Einzelkämpfer. Der wollte in der Vergangenheit schon SPD-Chef werden, um die Partei zu einer anderen Asylpolitik bringen.
"Für ein als richtig erkanntes Ziel kann ich alles geben": Das sagt Oberregierungsrat Stephan Kohn (57) von sich. Der Beamte, der die Corona-Politik der Bundesregierung in einem Positionspapier zum Desaster erklärt hat.
Das Papier zur Corona-Krise hat eine drastische Botschaft: "Globaler Fehlalarm", der Staat müsse sich womöglich den Vorwurf gefallen lassen, "einer der größten Fake-News-Produzenten" gewesen zu sein. Statt Tote zu verhindern, verursache die Maßnahme als Kollateralschaden weit mehr Tote. In den Sozialen Netzwerken erschien das Papier wie eine öffentliche Stellungnahme des Ministeriums.
AfD-Abgeordneter veröffentlichte ungeschwärzt
Kohn hatte das Papier als Analyse des Corona-Krisenmanagements am Freitagnachmittag vergangener Woche unter dem Briefkopf des Ministeriums verschickt, zunächst hausintern an Vorgesetzte und an den Krisenstab im Bundesinnenministerium, dann an die Krisenstäbe in den Ländern. In der Nacht zum Samstag wurde aus den E-Mails mit Anhängen eine PDF-Datei erstellt. Am Samstag berichteten erste Medien daraus. Ein AfD-Bundestagsabgeordneter stellte das PDF ins Netz, ohne Daten und E-Mail-Adressen darin unkenntlich zu machen.
Kohn hat seine verheerende Bilanz der Corona-Maßnahmen als offizielles Papier des Referats "Schutz kritischer Infrastruktur" ausgegeben, einem von sechs Referaten der Abteilung "Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz". Dort ist der Beamte (A14) Referent und leitet ein Projekt "Erneuerung der nationalen KRITIS-Strategie". Auf deutsch: Er beschäftigt sich mit maroden kritischen Infrastrukturen. Damit ist es jetzt vorbei: Das Ministerium hat Kohn ein "Verbot zur Führung der Dienstgeschäfte" ausgesprochen.
Wie brisant die Situation im Ministerium gesehen wird, zeigt die Tatsache, das Innenminister Horst Seehofer (CSU) den Vorfall am Mittwoch in seiner Pressekonferenz erwähnte. Er sagte, jeder könne seine Meinung sagen. Problematisch sei aber, dass der Eindruck erweckt worden sei, die von dem Beamten mit anderen geteilte private Meinung stelle die Auffassung des Ministeriums dar. Auch ein Sprecher des Ministeriums hatte zuvor erklärt, es gehe bei dem Arbeitsverbot darum, dass Kohn das Schreiben unter dem Briefkopf des Bundesinnenministeriums versendet habe.
Kohn wollte sich auf Anfrage von t-online.de nicht äußern.
"Als kleines Licht beitragen, Desaster zu vermeiden"
Die Veröffentlichung hat zwei Vorgeschichten: Die erste ist, wie Kohn schon einmal im Alleingang die große Politik umkrempeln wollte: 2018 hatte er SPD-Chef werden wollen, um den Kurs in der Migrationspolitik zu ändern und unter anderem für die Schließung der Grenzen einzutreten. "Ich möchte mir später nicht sagen müssen, dass auch ich kleines Licht dazu hätte beitragen können, das Desaster zu vermeiden", erklärte er damals. Zu lesen ist das auf inzwischen gelöschten Unterseiten seiner Homepage.
In einem Brief an ausgewählte SPD-Ortsvereine in Brandenburg schrieb er im März 2018 zu dem Thema: "Wer es innerhalb oder außerhalb der SPD wagte, eine sachliche Auseinandersetzung einzufordern, musste in den letzten Jahren damit rechnen, als Faschist oder Nazi bezeichnet zu werden."
Von Peer Steinbrück erwartete er sich Hilfe und schrieb dazu einen offenen Brief: "Hättest Du eine Idee, wie ich den Kontakt zu aufgeschlossenen Sozialdemokraten finde, denen es ebenso wichtig ist, das Migrationsthema rational aufzurollen und die SPD von dem Makel der Verdrängung und Manipulation zu befreien?"
Im gleichen Ortsverein wie Kühnert
Kohn klapperte für seine Kandidatur Ortsvereine ab. Das Migrationsthema habe er dabei jedoch in Berlin nicht angeschnitten, sagt
Lars Rauchfuß, SPD-Kreischef von Tempelhof-Schöneberg. "Da war er wohl klug genug, sein Publikum zu kennen. Die Pose war eher, sich als Stimme der Basis zu inszenieren." So schrieb Regierungsmitarbeiter Kohn: "Ich frage mich, warum sollten wir für die da oben die Drecksarbeit machen, während die sich in die bequemen Regierungssessel setzen?"
Im gemeinsamen Heimat-Ortsverein Marienfelde amüsierte sich der Juso-Bundesvorsitzende Kevin Kühnert über die Kandidatur mit dem Hashtag "DailySoap", also "tägliche Seifenoper" und twitterte live aus der Jahreshauptversammlung: "Jetzt bewirbt sich jemand um eine Nominierung für den Parteivorsitz. Man muss die SPD einfach lieben."
Rauchfuß: "Kohn spielte inhaltlich keine Rolle in der Partei und trat auch nicht in Erscheinung, wenn er nicht gerade SPD-Vorsitzender werden wollte." Er scheiterte denn auch mit seiner Kandidatur. Kohn hatte keine Ortsvereine zur Unterstützung gefunden und bekam auch dort nicht die erforderlichen 50 Unterschriften.
Blogautor half bei Corona-Papier
Das ist unseriös
In Kohns Papier wird behauptet, die Corona-Maßnahmen seien schädlicher als die Erkrankung selbst. Covid-19 wird durch einen Vergleich der Todeszahlen mit denen der Grippewelle für wenig gefährlich erklärt, die geschätzten Grippetoten sind aber mit bestätigten Toten mit Covid-19 nicht vergleichbar. Der Annahme, es sei ein Fehlalarm, spricht entgegen, dass durch die Maßnahmen ausgebliebenen Opfer und Schäden nicht sichtbar sind. Das nennt sich Präventionsparadox. In dem Papier werden einseitige und auch fragwürdige Quellen zitiert, die Mediziner und Medien diskreditieren. Die Kollegen des "Focus" haben hier mehr dazu recherchiert.
Bemerkenswert ist auch, wie das Papier entstand. Schon im März habe Kohn eine kritische Analyse begonnen, die zunächst von Vorgesetzten zustimmend aufgenommen worden sein soll, heißt im einschlägigen Blog "Achse des Guten". Am 25. April wollte Kohn, dass Seehofer seinen Bericht erhält. Seehofers Büroleiter habe ihn aber "abserviert".
Daraufhin kontaktierte Kohn den Heidelberger Hausarzt Gunther Frank, einen Autor bei "Achse des Guten", einem Blog, das bereits mehrfach wegen Islamophobie und Pegida-Nähe kritisiert wurde. Frank stellte dann Verbindung zu Ärzten und Wissenschaftlern her, die in der Coronakrise auf Frontalkurs zur Regierung sind. Keine "zufällig ausgewählten Experten".
Auch Verbindung zu Beate Bahner
Franks Kontakte führen zu einer weiteren Figur, die in der Corona-Krise Schlagzeilen gemacht hat. Frank hatte sich auch mit der Heidelberger Anwältin Beate Bahner beraten, die mit einem hysterisch formulierten Eilantrag "für die Aufhebung aller Corona-Schutzmaßnahmen bekannt" geworden war. Bahner hatte von "Coronoia" gesprochen, bizarres Verhalten an den Tag gelegt, wurde am Ostersonntag in die Psychiatrie eingeliefert und ist nach Angabe ihrer Kanzlei auf unbestimmte Zeit dort nicht mehr tätig.
Das ist berechtigt
Das Corona-Papier enthält Bedenken, die fast alle Experten teilen. So ist die Zahl von Herzinfarkt- und Schlaganfall-Patienten in deutschen Notaufnahmen deutlich zurückgegangen. Menschen meiden trotz Appellen Kliniken und Ärzte aus Angst vor dem Virus, was auch langfristig Folgen haben kann. Das gilt auch für verschobene Eingriffe. Es ist richtig, dass für viele Fragestellungen und Maßnahmen keine ausreichenden Daten und Folgenabschätzungen bekannt sind.
In Bahners Kanzlei in Heidelberg hatte Frank sie am Gründonnerstag mit "einem hochrangigen Immunologen und einem der führenden deutschen Pathologen" getroffen, wie er schreibt. Zwei Kilometer von Bahners Kanzlei hat Professor Peter Schirmacher, der Chef der Pathologie an der Uni Heidelberg, sein Büro. Er ist Mitglied der Leopoldina-Akademie, die auch Merkel bei ihrer Corona-Politik berät, ist allerdings nicht in deren Corona-Arbeitsgruppen.
Frank beantwortete auf Anfrage von t-online.de nicht, ob der bei dem Gespräch anwesende Pathologen Schirmacher war. Der teilte mit, er sei dort nicht anwesend gewesen. Dass er zum Papier zugeliefert hat, bestreitet er nicht. Wegen der offiziellen E-Mail-Adresse Kohns sei er von einer amtlichen Anfrage ausgegangen.
Arzt plant "interdisziplinäre Infoplattform"
Der Heidelberger Arzt Frank war also vom Beamten wegen seiner Texte angesprochen worden, hatte ihm dann zusätzliches Material von Corona-Skeptikern besorgt. Über den von ihm mit angereicherten Text hatte Frank dann berichtet, und er wurde auf der "Achse des Guten" öffentlich gemacht. Frank sagte auf Anfrage von t-online.de, er sei "eine Schnittstelle".
Franks Pläne gehen noch weiter: Er denkt nach seinen Angaben mit etwa 30 Wissenschaftlern über die Gründung einer "sehr seriösen, interdisziplinäre Informationsplattform" nach. Dort sollten "Wissenschaftler ihre kritische Meinung zu wichtigen gesellschaftlichen Themen basierend auf ihrem Fachgebiet äußern können". Den Corona-Skeptikern wird es nicht an Öffentlichkeit fehlen.
- Eigene Recherchen
- bmi.bund.de: Organigramm
- achgut.com: Das Corona-Papier: Wie das Innenministerium das Risiko heraufbeschwor
- stephan-kohn.de
- bild.de: Alarmruf von Professor: Mehr Tote wegen Corona-Regeln (Aboinhalt)
- achgut.com: Bericht zur Coronalage 09.04.2020