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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schule in der Corona-Krise Lehrer berichten von Problemen: "Von einigen Schülern höre ich gar nichts"
Experten fordern seit Jahren, die Digitalisierung des Bildungssystems voranzutreiben. Nach den plötzlichen Schulschließungen zeigt sich deutlich der immense Nachholbedarf. Vier Lehrer berichten aus ihrem neuen, digitalen Alltag.
Normalerweise klingelt bei Christina Mayer* jeden Morgen um 5.45 Uhr der Wecker, damit sie pünktlich zum Unterrichtsbeginn um 8.00 Uhr vor ihren Schülern stehen kann. Christina Mayer ist Gymnasiallehrerin und Klassenlehrerin einer Fünften in Hamburg. Doch jetzt ist alles anders. Seit dem 16. März ist die Schule geschlossen: Wegen Corona. Für Lehrer und Schüler ist Homeoffice angesagt. Der Unterricht findet online statt.
Die Umstellung auf digitalen Unterricht stellt Schüler vor neue Herausforderungen. Sie müssen sich ihren Tag selbst strukturieren und ihre Lerneinheiten einteilen: Selbstdisziplin ist gefragt. Einigen fällt das leichter als anderen. Einige werden dabei von ihren Eltern unterstützt, andere weniger oder gar nicht. Auch die Lehrer brauchen Zeit, sich auf die neue Situation einzustellen. "Gefühlt kam das alles sehr überstürzt", erzählt Christina Mayer. Von den Schulschließungen habe sie über die Medien erfahren. Dann kam am Wochenende eine Mail vom Schulleiter und schon ab Montag war die Schule dicht.
Die Herausforderungen des Übergangs variieren
Schnell mussten auf einer Lernplattform digitale Klassenräume eingerichtet werden. Für viele Lehrer, die im Normalfall persönlich vor der Klasse stehen, Neuland. Bislang hatten sie die Plattform nur hin und wieder genutzt, um Hausaufgaben und Arbeitsblätter hochzuladen. Doch jetzt muss hier plötzlich der gesamte Unterricht stattfinden. "Auch wir Lehrer müssen das erstmal lernen." Die Ansage war: "Stellt da etwas rein und beschäftigt die Schüler wie zu Schulzeiten."
Ob eine solche Lernplattform vorhanden ist, hängt jedoch von der Schule ab. Justus Schneider* lehrt an einem beruflichen Gymnasium in Südhessen, seine Schüler stehen kurz vor dem Abitur. "Bei uns gab es bereits eine rege Nutzung digitaler Angebote, deshalb funktioniert der Übergang recht reibungslos." Doch nicht alle Inhalte könnten mittels Aufsätze und Arbeitsblätter abgehandelt werden. Als Englischlehrer muss Schneider überlegen, wie er mit den Schülern weiter an deren Sprachkompetenz arbeiten kann. Eine Idee: "Vielleicht lasse ich sie einen Podcast oder ein Youtube-Video produzieren, in dem sie zu einem Thema Stellung nehmen müssen."
Wenn grundlegende Voraussetzungen fehlen
Möglichkeiten, die für Johannes Becker* derzeit unerreichbar scheinen dürften. Becker unterrichtet an einer integrierten Gesamtschule in Hessen. Die Gegend gilt als sozialer Brennpunkt. Pro Jahrgang mit vier Klassen gibt es hier ein Smartboard, das Wlan ist unbeständig, die meisten USB-Anschlüsse im Computerraum funktionieren nicht. Der Unterricht findet jetzt komplett per E-Mail statt.
Schnell kamen erste praktische Probleme auf: Viele seiner 12- bis 13-jährigen Schüler hatten keine E-Mail-Adresse, das Kommunikationsmedium ist ihnen fremd. "Nur, weil Menschen jung sind, haben sie noch keine Medienkompetenz", sagt Becker. "Ein Bild per WhatsApp verschicken ist für die Kinder kein Problem, aber einen Mail-Anhang kriegen sie nicht hin." Einige seiner Schüler stammen aus bildungsfernen Schichten oder die Eltern sprechen kaum Deutsch. Allein einen digitalen Kontakt zu allen von ihnen aufzubauen, hat einige Tage gedauert.
Selbstbestimmtes Lernen ist nicht immer möglich
Seine Aufgaben schickt der Deutschlehrer nun per Mail an die Eltern, teilweise mit den Schülern in CC. "Ich wusste schon vorher, von wem ich die Aufgaben gewissenhaft erledigt zurückkriege", gibt Becker zu. Es seien die gleichen Kinder, die auch sonst gute Noten hätten und bei denen die Eltern hinterher seien. Ein Drittel seiner Schüler gibt die Aufgaben nicht rechtzeitig ab. Die Gründe dafür können vielfältig sein. "Ich kann nicht mal nachvollziehen, ob und wann die Eltern meine Nachrichten an ihre Kinder weitergeben", erklärt Becker.
Noch deutlicher zeigt sich das Problem bei Nils Schmidt, Lehrer an einem Berufskolleg in Nordrhein-Westfalen. In den Klassen der Berufsfachschule holen Schüler ihren Hauptschulabschluss nach. Der Anteil an Flüchtlingen und Migranten ist hoch. Schmidt kann mit ihnen nur per Mail oder mittels eines gemeinsam genutzten Dokuments in Kontakt treten. "Ich habe vielleicht von zwei oder drei Schülern überhaupt etwas gehört", sagt Schmidt. Sie werden in der derzeitigen Situation zurückfallen, weil ihnen die nötige Unterstützung fehlt. "Wie gut die Umsetzung funktioniert, differiert sehr stark nach Bildungsabschlüssen und nach Alter", resümiert Schmidt, dessen Frau Lehrerin an einem Gymnasium ist und dort positivere Erfahrungen macht.
Belastung auch für die Eltern
Auch jüngere Schüler brauchen mehr Anleitung beim Lernen. Weil die Lehrer keinen direkten Kontakt zu den Kindern haben, müssen das nun die Eltern übernehmen. Einige Mütter und Väter überfordere das, sagt Deutschlehrer Schmidt – auch wegen der täglichen E-Mail-Flut, die sie jetzt von den Lehrern bekämen. Andere müssen nebenbei noch arbeiten, haben schlicht keine Zeit. Auch seien nicht immer ausreichend Computer für alle in den Familien vorhanden, berichtet etwa Christina Mayer.
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Hinzu kommt, dass Kinder nicht in der gleichen Weise auf ihre Eltern hören, wie auf die Lehrer. Johannes Becker ist selbst Vater und weiß: "Wenn ich meinem Kind sage, es muss jetzt Mathe machen, führt das zu langen Diskussionen. Wenn es vom Lehrer kommt, wird es gemacht." Eigentlich sei es nicht die Aufgabe der Eltern, dass die Kinder etwas lernen. "Aber es ist eine außergewöhnliche Situation, die außergewöhnliche Maßnahmen erfordert." Immerhin berge der Heimunterricht auch eine Chance: Hier könnten sie Aufmerksamkeit bekommen, die sie in einer Klasse mit 29 anderen Schülern teilen müssen.
Möglicher Fortschritt für die Digitalisierung von Schule
Auch Christina Meyer sieht etwas Positives in den neuen Herausforderungen. Beim Thema Digitalisierung hinken Schulen oft noch hinterher. Nun beobachtet sie: "Viele Lehrer haben sich doch schnell digitalisiert. Auch solche, die sich bislang geweigert haben und das Thema kritisch sahen." Dadurch, dass die Lehrer nun gezwungen sind, sich mit den Möglichkeiten des Internets für ihren Unterricht auseinanderzusetzen, könnten neue Fähigkeiten erlernt werden.
Sie als Lehrerin lerne jetzt viele neue Tools kennen, sei es für Videokonferenzen, zur Erstellung digitaler Lernposter oder um Tests online durchzuführen. Dadurch sei sie jetzt offener geworden, was den Einsatz neuer Techniken angeht. Das wolle sie in die Zeit nach der Corona-Krise mitnehmen. Und auch die Schüler könnten langfristig aus der Situation lernen. Durch das Kennenlernen neuer Möglichkeiten für Präsentationen oder schlicht die Fähigkeit, korrekte E-Mails zu schreiben. Dabei bleibt für Christina Meyer aber eines ganz klar: "Der reine Online-Unterricht kann immer nur eine Ergänzung dessen sein, was die Lehrer vor Ort in der Klasse leisten." Die Unmittelbarkeit des Präsenzunterrichts ist wichtig, so sagt sie, um besonders auch lernschwachen Schülern die Aufmerksamkeit geben zu können, die sie benötigen.
Die Vermittlung von Medienkompetenz müsse zudem ein fester Teil des Lehrplans werden, findet Johannes Becker. "Die Welt wird digitaler und das muss den Kindern in der Schule vermittelt werden." Für Lehrer brauche es Fortbildungsmöglichkeiten, alle Schulen müssten entsprechend ausgestattet werden. Eine Laptop-Klasse bringe einer Klasse etwas, aber nicht dem Bildungssystem, sagt Becker. "Wir brauchen keine Schule der Zukunft, sondern Schulen der Gegenwart."
* Namen von der Redaktion geändert
- Telefoninterviews mit Lehrern