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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gewalt an Silvester In Leipzig-Connewitz gab es weitere Bewusstlose
Ein nach Attacken von mutmaßlichen Linksextremisten schwer verletzter Polizist prägte tagelang die Diskussion über die Silvesternacht in Leipzig-Connewitz. Doch es gab mindestens zwei weitere Bewusstlose.
Thomas Kumbernuß ärgert sich über den Satz des Polizisten: "Verpiss Dich". Kumbernuß, für die Satirepartei "Die Partei" in Leipzigs Stadtrat gewählt, wollte einen Mann versorgen, der reglos auf der Karl-Liebknecht-Straße im Stadtteil Connewitz lag. Der Mann war einer von mindestens zwei Bewusstlosen, die es neben einem schwer verletzten Polizisten in der Silvesternacht gegeben hat. Beide sind offenbar in Videoszenen zu sehen, die wir hier ausschnittsweise zeigen.
Gerade haben Polizisten ihren verletzten Kollegen weggeschleift, einen 38-Jährigen, der kurz darauf im Krankenhaus am Ohr operiert wird. Von einer "Not-OP" schreibt die Polizei noch in der Nacht um 4.42 Uhr. Der Eindruck von Lebensgefahr steht da zuerst im Raum.
Manches aus der ersten Pressemeldung bestätigt sich später so nicht. Anderes wird überlagert von der Empörung über den brutalen Angriff auf die Polizisten. Es war keine Rede von Bewusstlosen aus der Gruppe der Menschen, die dort zum größten Teil nur feiern oder gucken wollten, während eine kleine Gruppe rücksichtslos den Kampf mit der Polizei suchte. t-online.de hat die Fälle von zwei Betroffenen recherchiert.
Selbst gebackener Kuchen mitten im Chaos
Kumbernuß kümmerte sich um einen Mann, der auch auf Bildern in einem von "zeit.de" veröffentlichten Video mit der schlagzeilenträchtigen Attacke auf den Polizisten zu sehen sei: Es passiert am Rande der Szene um 0.15 Uhr. Der Polizist will mit einem Kollegen einen Mann abführen. Sie ziehen ihn vom Straßenrand in Richtung der Verkehrsinsel, auf der "Die Partei" eine Kundgebung mit dem Titel "Bier statt Böller" angemeldet hat und selbst gebackenen Kuchen verteilt. Von diesem Ort aus filmt jemand, hier steht auch Kumbernuß und ist entsetzt von der Gewalt in der folgenden Szene.
Die beiden Polizisten haben keine eigentlich zu erwartende Absicherung durch Kollegen, als Angreifer auf sie losgehen. Es folgt ein Kung-Fu-Tritt in Genickhöhe gegen den einen, ein Schlag von oben mit Anlauf gegen den anderen. Beide gehen zu Boden. Ein Helm fliegt davon, auch danach bekommt der Polizist noch Tritte gegen den Kopf. Ein weiterer Polizist ist zu Boden gegangen. In diesen Sekunden sind von mehreren Seiten teils Maskierte auf die Polizei losgegangen: Blindwütige Gewalt, die lebensbedrohlich hätte sein können. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen versuchten Mordes.
"Seht ihr nicht, dass der nichts mitbekommt?"
Während hinzugeeilte Beamte ihren verletzten Kollegen wegschleifen, ist im Video im Hintergrund ein Mann am Boden zu sehen, auf den sich ein Polizist kniet. Die Polizisten hätten dann versucht, diesen Mann mit mehreren Leuten auf die Beine zu stellen, so Kumbernuß. "Ich bin dann hin und habe gesagt: 'Seht Ihr nicht, dass der gar nichts mitbekommt?'"
Kumbernuß beugt sich über den Verletzten und will ihm helfen, als ihn nach seinen Worten ein Polizist anherrscht: Er soll sich verpissen. "Ich habe trotzdem Erste Hilfe geleistet, ihn in stabile Seitenlage gelegt." Den Polizisten habe er gesagt, sie sollen einen Krankenwagen holen. Doch die ziehen sich zurück zu ihrer Einheit in der Seitenstraße.
Sie lassen den Mann zurück, der eben noch festgenommen werden sollte. "Nach zwei, drei Minuten ist er langsam wieder zu sich gekommen, desorientiert zunächst", berichtet Kumbernuß. Auch ein anderer Zeuge bestätigt das. Von Anwohnern sei der Mann dann weggebracht worden, in ein nahes Krankenhaus, heißt es. Die Spur verliert sich.
Die Ermittler haben dort nach Informationen von t-online.de niemanden ausfindig gemacht, den sie mit dem Brutalo-Angriff in Verbindung bringen. Warum der Mann festgenommen werden sollte und wie er das Bewusstsein verlor, bleibt unklar.
Nächster Bewusstloser 50 Meter entfernt
50 Meter weiter von dem Schauplatz gibt es vor einem AOK-Gebäude um 0.50 Uhr wieder Aufregung um einen Bewusstlosen. Ein Video belegt das: "Mann, der ist ohnmächtig oder was, hört doch mal auf hier", beginnt die Aufnahme aus der Selneckerstraße. Der Mann, der gefilmt hat, ist nach eigenen Angaben Anwohner und war zum Gucken am Kreuz. "Ich habe angefangen zu filmen, weil dort plötzlich gebrüllt wurde", sagte er zu t-online.de.
Die Aufnahme ist über weite Strecken sehr dunkel, etliche Menschen sprechen durcheinander. "Ran an die Beine!", kommt ein Kommando. "Los jetzt, die Beine hoch!" "Schwer verletzt, wir kümmern uns um ihn", erklärt jemand.
"Weil Ihr reingehauen habt!"
Dann ist zu sehen, wie Beamte mit Helm eine Person ein kleines Stück wegtragen. Ein Polizist spricht nun mahnend zum Filmenden: "Geh mal bitte weg, der Mann ist verletzt, okay? Der ist verletzt, der blutet." Der Filmer geht etwas weg, ein anderer Polizist schubst ihn dennoch.
In besänftigendem Ton meldet sich der ruhig wirkende Beamte von zuvor erneut zu Wort: "Wir haben hier schwer verletzte Leute. Nicht nur Polizisten, sondern auch normale Leute." Laut ruft jemand zurück: "Weißt Du, warum die schwer verletzt sind? Weil ihr reingehauen habt, Mann!"
t-online.de hat mit dem Anwalt des Mannes gesprochen: Sein Mandant sei durch die Polizeimaßnahme verletzt worden und habe auch das Bewusstsein verloren, sagte er t-online.de. Er sei mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht worden.
LKA beantwortet Fragen zu Szenen nicht
t-online.de hat die Polizei nach den Szenen und den Verletzten gefragt. Das LKA wollte Fragen dazu nicht beantworten, da es um laufende Verfahren gehe. Eine Sprecherin bestätigte, dass ein Verdächtiger im Krankenhaus medizinisch behandelt werden musste: der einzige verletzte Nicht-Polizist, über den die Polizei informiert. Es ist der Mann vor der AOK.
Vom Krankenhaus aus kam er in U-Haft, er war eine von vier Personen, gegen die Haftbefehle erlassen wurden. Einer davon ist bereits zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. Er hat einem Polizisten ein Bein gestellt und sich mehrfach entschuldigt. Den anderen wird zumindest Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vorgeworfen. Laut LKA geht es aber auch um tätliche Angriffe auf Polizisten, um versuchte und vollendete Körperverletzung.
Großteil der Feiernden hatte nichts mitbekommen
Mit der Szene, bei der der Polizist schwer verletzt wurde, werden sie allesamt nicht in Verbindung gebracht. "Die Gewalttäter, die dort mit Brutalität die Polizisten angegriffen und sich dann zerstreut haben, hat man nicht", sagt Michael Freitag von der "Leipziger Internet Zeitung", der wie in den Vorjahren in der Silvesternacht in Connewitz war. "Dafür sind manche Polizisten dann wegen eigentlicher Nichtigkeiten auf Leute losgegangen, über die sie sonst eher hinwegsehen würden. Zehn Sekunden haben die Situation danach für einige Zeit zum Chaos gemacht. Familien mit Kindern und alte Leute sahen heranstürmende Polizeibeamte, die zuschlugen."
Freitag erklärt sich das so: Auf der einen Seite sind Polizisten, bei denen sich die Nachricht von einem vielleicht lebensbedrohlichen Zustand des Kollegen nach einem Überfall rumspricht, "die sind dann hoch emotionalisiert, hysterisiert, die reagieren anders." Auf der anderen Seite Connewitzer, die überwiegend vom gravierenden Zwischenfall nichts wissen, sich kriminalisiert fühlen und verständnislos sind über das massive Auftreten. "Und es gab ja keine richtige Kommunikation, nicht innerhalb der Polizei, und erst recht nicht zwischen Polizei und den Leuten." Die meist gestellte Frage ist in der Nacht: "Was ist hier los?" Bis zwei Uhr sieht er mehrfach weinende Frauen.
Bewusstloser: Am Boden getreten und geschlagen worden?
Die Linken-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel aus Connewitz kennt die Attacke auf die Polizisten nicht, als sie in der Nacht von "ekliger Polizeigewalt" und "kalkulierter Provokation" twittert. Diesen Tweet würde sie so nicht mehr schreiben, sagt sie später dem MDR. Es seien aber unbeteiligte Menschen umgerannt worden. Sie wisse von einigen, die blaue Augen und blutige Nase davon getragen hätten. Das Portal BuzzFeed hat mit einigen Betroffenen gesprochen, die diese Schilderungen bestätigen.
Abgeordnete Nagel kennt auch den Fall des Bewusstlosen vor der AOK kennt sie: "Er soll Zeugen zufolge noch getreten und geschlagen worden sein, als er schon auf dem Boden lag." Ihre Fraktion im sächsischen Landtag hat inzwischen die Aufarbeitung der Silvesternacht beantragt. Einsatzplanung, Kommunikationsstrategie und die Umstände, die zur Verletzung von Menschen führten, sollen Thema sein.
Eine Anzeige hat der Mann bisher nicht erstattet. Nach Angaben des LKA gibt es 13 Ermittlungsverfahren in Zusammenhang mit strafbaren Handlungen in der Silvesternacht in Connewitz, aber bisher keine Anzeigen und keine Ermittlungsverfahren gegen Polizisten. Betroffene sehen aber auch vielfach keine Chance in Anzeigen und fürchten Gegenanzeigen, ergab eine Studie des Kriminologen Tobias Singelnstein. Von 3.375 Personen, die sich als Betroffene gemeldet und Fragebögen beantwortet hatten, hatten nur neun Prozent Anzeige erstattet.
- Eigene Recherchen
- l-iz.de: Silvester am Kreuz: Die Spirale dreht sich