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Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete: "Wir alle sind für diese Krise mitverantwortlich"


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Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete
"Wir alle sind für diese Krise mitverantwortlich"

InterviewVon Patrick Diekmann

12.10.2019Lesedauer: 7 Min.
Carola Rackete in Berlin: Die Kapitänin unterstützt die Klimaschutz-Bewegung Extinction Rebellion.Vergrößern des Bildes
Carola Rackete in Berlin: Die Kapitänin unterstützt die Klimaschutz-Bewegung Extinction Rebellion. (Quelle: snapshot-photography/F.Boillot/imago-images-bilder)
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Carola Rackete unterstützt die Bewegung Extinction Rebellion. Im Interview erklärt die Sea-Watch-Kapitänin, warum sie das Klimapaket für einen Schlag ins Gesicht hält und warum sie keinen Wandel in der Flüchtlingspolitik sieht.

Hier hat sie fast Heldenstatus. Als Carola Rackete im Klimacamp von Extinction Rebellion in Berlin eintrifft, gehen einige Aktivisten auf sie zu und fragen nach Fotos. Bekannt wurde die Kapitänin der "Sea Watch 3" durch ihre Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer, die 31-Jährige widersetzte sich der italienischen Regierung und brachte 53 Menschen in den Hafen der Insel Lampedusa.

Doch Rackete setzt sich auch aktiv für den Klimaschutz ein und unterstützt seit einem Jahr die Bewegung Extinction Rebellion. Die Naturschutzökonomin war mit dabei, als die Bewegung im Jahr 2018 das britische Wirtschaftsministerium besetzte. Im Klimacamp vor dem Reichstag hält sie einen Vortrag, spricht über die Zusammenhänge zwischen Flucht und der Klimakrise. Danach hat t-online.de sie zum Interview getroffen.

t-online.de: Frau Rackete. Sie unterstützen bei den Klimaprotesten in Berlin die Bewegung Extinction Rebellion. Warum braucht es in der Klimakrise eine Rebellion?

Carola Rackete: Seit 30 Jahren hat sich beim Klimaschutz nicht viel getan und seit dem Jahr 1990 sind die CO2-Emissionen um 60 Prozent gestiegen. Trotz internationaler Klimaabkommen.

Aber Sie könnten auch ohne zivilen Ungehorsam für Klimaschutz demonstrieren. Wie zum Beispiel bei Fridays for Future?

Es gab viele Demonstrationen, viele Petitionen und zum Glück auch Fridays for Future, die auf die Straße gegangen sind. Trotzdem verabschiedet die große Koalition ein desaströses Klimapaket. Auch das hat uns gezeigt, dass es allein mit Demonstrationen nicht funktioniert. Extinction Rebellion hat sich angeschaut, was andere soziale Bewegungen gemacht haben, um einen radikalen schnellen Umbruch zu erreichen. Man kam zu der Erkenntnis, dass friedlicher ziviler Ungehorsam das Mittel der Wahl ist.

An welchen Bewegungen hat man sich orientiert?

Zum Beispiel die Frauenrechts- oder die indische Unabhängigkeitsbewegung. Es gab außerdem viele Beratungen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die erforschen, wie eine Protestbewegung erfolgreich wird.

Wie unterscheidet sich Exinction Rebellion von anderen Bewegungen?

Extinction Rebellion ist keine Klima-, sondern eine ökologische Bewegung.

Das heißt?

Das heißt, wir reden nicht nur über den Klimazusammenbruch, sondern thematisieren auch, dass wir aktuell unsere Ökosysteme zerstören und dass dies vor allem ein Problem des Systems ist. Und genau das finde ich als Naturschutzökologin wichtig. Deshalb ist es nicht damit getan, dass wir auf erneuerbare Energien umstellen.

Wieso nicht?

Weil auch erneuerbare Energien viele Ressourcen verbrauchen, die dann auch wieder die Umwelt belasten. Wir konsumieren viel zu viele Ressourcen auf diesem Planeten. Jedes Jahr wird der "Earth Overshoot Day" errechnet. Also das Datum, an dem der jährliche Bedarf der Menschheit an Ressourcen aus der Natur das übersteigt, was die Ökosysteme der Erde im ganzen Jahr regenerieren können. Im Jahr 2019 war dieses Datum schon der 29. Juli. So früh wie nie.

Wie greift Extinction Rebellion das auf?

Die Klimakrise ist Teil eines viel größeren Problems, das insbesondere durch unser Wirtschaftssystem ausgelöst wird. Dadurch konsumieren wir zu viele Ressourcen und haben ein sechstes Artensterben im Tierreich herbeigeführt. Extinction Rebellion schließt diese Aspekte mit ein und deshalb fühle ich mich als Ökologin dort gut aufgehoben.

Sie haben anfangs über das Klimapaket der großen Koalition gesprochen. Ist es ein erster Schritt in die richtige Richtung?

Nein. Das Klimapaket ist ein Schlag ins Gesicht für die gesamte Fridays-for-Future-Bewegung und für künftige Generationen. Deutschland ist in der Menschheitsgeschichte das Land mit dem viertgrößten Ausstoß von Treibhausgasen. Wir alle sind für diese Krise mitverantwortlich und die Bundesregierung muss angesichts des Reichtums, den wir in diesem Land haben, auch mehr Verantwortung übernehmen. Aber sie tut das Gegenteil: Sie bricht die Pariser Klimaverträge und damit internationales Recht.

Was sollte die Bundesregierung Ihrer Meinung nach tun?

Sie muss ein Klimapaket verabschieden, das das Pariser Klimaabkommen einhält. Das ist das Mindeste, was sie tun muss. Aber Deutschland muss auch mehr darüber nachdenken, wie wir in Zukunft auf diesem Planeten leben wollen. Es muss insgesamt eine viel größere Systemveränderung für den Klimaschutz geben. Und ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung zum Beispiel bei diesem Thema eine BürgerInnenversammlung einberuft.

Wir haben allerdings Parlamente, die von der Bevölkerung gewählt werden. Wozu braucht es noch ein zusätzliches repräsentatives Element?

Weil wir sehen, dass die Prozesse in den Parlamenten ziemlich festgefahren sind. Wir erleben, dass eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger mehr Klimaschutz will und deshalb mit dem Klimapaket unzufrieden ist. Trotzdem bewegt sich in den Parlamenten nichts, es gibt eine große Diskrepanz zwischen den Parlamenten und dem Rest der Gesellschaft. Um das zu lösen, sollten Menschen in die Debatte mit eingebunden werden, die nicht an die eigene Karriere oder ihre Lobby denken. Es geht um mehr Demokratie und eine stärkere Einbindung der Bürger. Wir wollen dabei die Demokratie nicht ersetzen, sondern sie um ein Element erweitern, das beratend auf die Politik einwirkt.

Aktuell polarisiert Extinction Rebellion mit Blockaden, zum Beispiel hier in Berlin. Wie begegnen Sie den Menschen, die hier in Berlin gerade schimpfend im Stau stehen?

Wir reden immer mit diesen Menschen. Während vieler Blockaden haben wir Flyer und Kekse dabei, die wir an gestresste Autofahrer verteilen. Wir versuchen, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Wir entschuldigen uns auch für diese Blockaden. Die Blockaden richten sich ja nicht gegen die einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Aber wenn man niemanden stört, bekommt man auch keine Aufmerksamkeit.

Trotzdem gibt es politische Kräfte im Land, die sich weder durch Blockaden, Flyer oder selbst Kekse überzeugen lassen, dass es die Klimakrise überhaupt gibt. Sie leugnen den Einfluss der Menschen auf den Klimawandel. Wie gefährlich ist diese Haltung für die aktuelle Klimaschutzbewegung?

Wir dürfen diese Kräfte nicht unterschätzen, aber 99 Prozent aller Klimawissenschaftlerinnen und Klimawissenschaftler sind bei dem Thema einer Meinung. Das kann ich nur immer wieder betonen. Die AfD hat im August eine Anfrage an den Bundestag gestellt, in der sie hinterfragte, dass 97 Prozent der Wissenschaftler den Klimawandel für menschengemacht halten. Aber in seiner Antwort stellte der Bundestag fest, dass der Konsens in der Klimawissenschaft eigentlich noch viel größer ist.

Sie machten in diesem Sommer als Kapitänin der "Sea Watch 3" Schlagzeilen, als Sie sich bei der Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer der italienischen Regierung wiedersetzten. In welcher Form hängen die Themen Migration und Klimakrise miteinander zusammen?

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Im seltensten Fall wollen Menschen aus ihrer Heimat fliehen. Wenn man mit ihnen spricht, gibt es oft eine Mischung von unterschiedlichen Gründen, warum sie sich auf den Weg gemacht haben. Kriege, wirtschaftliche Bedingungen, aber eben auch Umweltkatastrophen wie Dürren, Stürme oder Überschwemmungen. Der Zusammenbruch der Ökosysteme verstärkt auch die Häufigkeit von Naturkatastrophen und durch die Klimakrise wird die globale Armut größer.

Wie genau?

Weil nur die reicheren Menschen in einigen Gebieten überhaupt in der Lage sind, die Schäden von Naturkatastrophen auszugleichen. Zum Beispiel haben viele Familien gar keine Rücklagen, um beispielsweise Schäden an ihren Häusern oder Ausfälle in der Landwirtschaft kompensieren zu können. Die globale Einkommensschere geht immer weiter auseinander und dieser Effekt wird durch die Klimakrise noch verstärkt.

Bei Thema Migration steht schon seit Jahren das Mittelmeer im Fokus der Öffentlichkeit. Wie beurteilen Sie die aktuelle öffentliche Meinung über die Seenotrettung im Mittelmeer?

Seenotretter erleben in Deutschland aktuell ziemlich viel Solidarität. Es gibt auch immer mehr Städte, die Flüchtlinge aufnehmen wollen.

Wirklich?

Auf der letzten Mission, auf der ich im Juni war, nahmen wir 53 Personen an Bord. Schon am zweiten Tag hatte sich eine Stadt in Deutschland solidarisch erklärt und wollte die Flüchtlinge sogar mit einem Bus aus Sizilien abholen kommen.

Das hat aber nicht funktioniert?

Es hat nicht funktioniert, weil das Bundesinnenministerium dem nicht zustimmen wollte. Am Ende gab es 60 Städte in Deutschland, die die Flüchtlinge aufnehmen wollten, aber das Innenministerium hat das nicht zugelassen.

Innenminister Horst Seehofer hat nun allerdings angekündigt, ein Viertel der aus dem Mittelmeer vor dem Ertrinken geretteten Migranten aufzunehmen. Wie bewerten Sie den Sinneswandel des Innenministers?

Horst Seehofer hat auf die großen Solidaritätsbekundungen der Zivilgesellschaft reagiert. Ein Großteil der Deutschen versteht mittlerweile, warum Menschen flüchten müssen und der Innenminister hat offenbar auch den Druck aus der Bevölkerung gespürt.

Ist das aus Ihrer Sicht eine gute Entwicklung?

Wenn ich mir anschaue, was im Abkommen von Malta verhandelt wird, dann geht es dabei nicht wirklich um eine Richtungsänderung. Es gibt zwar ein paar Dinge, die gut klingen: Unter anderem, dass Deutschland 25 Prozent der Flüchtlinge aus Libyen aufnehmen will. Auf der anderen Seite sagt Seehofer, dass er in der Ägäis eine schlimmere Flüchtlingskrise als im Jahr 2015 erwartet und dass er deswegen auf mehr Abschottung setzen möchte. Ich bin also skeptisch, dass Seehofer wirklich einen Wandel in der Flüchtlingspolitik will.


Aktuell wird viel über das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei diskutiert. Sollte die Europäische Union es erneuern, wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mehr Geld verlangt?

Es braucht für die Flüchtlinge aus Syrien eine echte Lösung. Es kann nicht sein, dass diese Menschen in der Türkei, in Griechenland und im Balkan in unwürdigen Bedingungen festsitzen. Es ist eine Schande für die Europäischen Gesellschaften, dass diese Zustände schon seit Jahren bekannt sind. Kinder können nicht zur Schule gehen, die Suizidraten sind hoch und die Menschen haben überhaupt keine Zukunft. Das Abkommen ist menschenrechtlich eine Katastrophe und ich schäme mich dafür, dass Europa immer laut die Menschenrechte proklamiert und dann so etwas zulässt. So etwas dürfen wir auf keinen Fall fortsetzen.

Was kann unsere Gesellschaft aktuell tun?

Das Framing, die Art und Weise, wie zum Beispiel die Rechte über Flüchtlinge redet, darf sich nicht durchsetzen. Flüchtlinge werden als Sicherheitsrisiko gesehen und dies führt zu einer Abschottungspolitik, die zulässt, dass Menschen an unseren Grenzen sterben. Und genau das ist eine große Bedrohung für Flüchtlinge. Wie gesagt: Ein großer Teil dieser Menschen migriert, weil sie durch die Umstände dazu gezwungen werden. Es ist oft keine freie Entscheidung.

Frau Rackete, vielen Dank für das Gespräch.

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