Ditib-Reform Natürlich gibt es einen deutschen Islam
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Einen "deutschen Islam" gibt es nicht, behaupten einige Muslime. Ausgerechnet vom größten deutschen Islamverband bekommen sie dafür Stichworte geliefert. Das ist Unsinn.
Unter Muslimen in Deutschland ist die Diskussion wieder aufgeflammt, ob es so etwas wie einen "deutschen Islam" geben kann. Nachdem die Deutsche Islamkonferenz gerade einen entsprechenden Schwerpunkt gesetzt hat, wurde auf der umstrittenen Islamkonferenz beim größten deutschen Islamverband Ditib in Köln Anfang des Jahres einem "deutschen Islam" eine deutliche Absage erteilt.
Im Abschlusskommuniqué heißt es: eine "Einschränkung des Islams, der durch adjektivische Bestimmung einer bestimmten Region oder einer Nation zugeschrieben wird – wie 'deutscher Islam', 'französischer Islam', 'belgischer Islam' oder 'europäischer Islam' usw.", stünden im Widerspruch zur Universalität des Islams, der alle Epochen und Orte zugleich "erleuchtet". "Türkischer Islam" wird in der Reihung bezeichnenderweise nicht explizit aufgeführt. Dafür aber betonte der neue Ditib-Vorstand kürzlich, die Diyanet, das Präsidium für religiöse Angelegenheiten der Türkei, werde der Ditib weiterhin "als Quelle ihrer spirituellen und religiösen Referenz" eine "wichtige Stütze" sein.
Dieses Unbehagen und verkrampfte Winden, wenn es um Deutschland geht, während man sich zugleich der Diyanet an den Hals wirft, wurde bei der vielbeachteten Pressekonferenz des Vorstands diese Woche trotz aller Beteuerung eines angeblichen Neuanfangs bestätigt. Dass die Ditib-Spitze als Stichwortgeber für die Ablehnung eines "deutschen Islams" fungiert, zeigt, wie problematisch diese Verbandsführung für Deutschland und seine Muslime ist.
Natürlich kann es einen "deutschen Islam" geben. Selbst der Zentralrat der Muslime und sein Vorsitzender Aiman Mazyek haben diese Woche betont, selbstverständlich gebe es einen Islam deutscher oder europäischer Prägung.
In fremden Moscheen fühlen sich Muslime unsicher
Die kursierende Meinung unter Muslimen, es gebe nur einen Islam, ist schlicht historischer und theologischer Unsinn. Und die, die das morgens vehement behaupten, praktizieren mittags ihren Glauben so, wie sie ihn kennengelernt haben, je nachdem, woher ihre Vorfahren stammen, und wie diese den Islam leben oder gelebt haben. Dazu suchen sie entsprechend türkische, marokkanische, bosnische Moscheen auf, und fühlen sich unsicher, wenn sie mal aus Versehen in eine andere Moschee geraten, wo es andere Abläufe, Gebetshaltungen oder Formeln des Lobpreises gibt.
In einem Einwanderungsland wie Deutschland, mit einer aus aller Herren Ländern zusammengewürfelten islamischen Religionsgemeinschaft, kann man nur dazu raten, irgendwann eigene Vorstellungen zu entwickeln. Erstens sorgt die natürliche Abfolge der Generationen sowieso dafür, dass Traditionen aus den Einwanderungsländern irgendwann verblassen: entweder sind die meisten Kinder, die hier geboren wurden, bereits Deutsche oder sie oder ihre Kindeskinder werden es einmal sein.
Zweitens sollte es im Interesse aller deutschen Muslime liegen, die ausgeprägte Zersplitterung nicht in Beton zu gießen, sondern zumindest gemeinsame Grundlagen zu erarbeiten, die zur Lebenswirklichkeit in Deutschland passen. Was, außer Konflikten, haben Kinder in Deutschland davon, wenn sie einen Islam leben, der sich an Vorstellung von Großeltern und Urgroßeltern aus einem fernen Land orientiert?
Deutscher Islam ist ein zeitgemäßes Religionsverständnis
Die Bezeichnung "deutscher Islam" mag dabei irreführend sein. Es geht selbstredend nicht darum, eine neue Religion zu gründen und die Eckpfeiler des Glaubens zu schleifen. Mit "deutscher Islam" ist vielmehr ein Islam "in" Deutschland beziehungsweise "in" Europa gemeint – mit einem zeitgemäßen Verständnis der Religion, bei dem es primär darum geht, wie der Glaube gelebt wird.
Ein Islam in Deutschland ist kein Islam, der in der Türkei, in der arabischen Welt, in Bosnien, Afghanistan, Somalia, Indonesien, im Iran oder sonst wo gelebt wird. Das wird über kurz oder lang auch eine Ditib-Spitze begreifen müssen oder sie wird untergehen. Ein "deutscher Islam" hängt keine Nationalflaggen fremder Staaten in Moscheen auf, hat keine feste "spirituelle und religiöse Referenz" in Ankara, Riad oder Teheran, arbeitet nicht mit Imamen, die auf Türkisch, Arabisch oder Persisch predigen, orientiert sich bei der zeitlichen Bestimmung des Ramadans nicht an Herkunftsländern von Vorfahren, und so weiter.
Theologisch spricht nichts dagegen
Ein Islam in Deutschland setzt auf der Basis des Grundgesetzes auf. Er beachtet die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen, die er vorfindet. Dem steht theologisch nichts entgegen. Die Entstehung des Islams selbst zu Lebzeiten Mohammeds im 7. Jahrhundert reagierte auf die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der damaligen Zeit auf der arabischen Halbinsel.
So wurden die ersten Muslime beispielsweise aufgefordert, ihre Kinder nicht zu töten (z. B. im Koranvers 17:31 oder 6:140). Dieser Appell gründet auf Vorstellungen, wonach es in der Zeit vor dem Islam verbreitet war, Kinder an Götter zu opfern oder Kinder aus Furcht vor Verarmung zu töten, speziell Mädchen, weil Frauen als weniger wert galten und die Familien ihren Lebensunterhalt nicht aufbringen konnten oder wollten. Im Deutschland des 21. Jahrhunderts sind solche antiken Praktiken unbekannt.
Mit der Entstehung des Islams wurden Regelungen eingeführt, nach denen auch Frauen erben dürfen. Hier wird durch den Islam ebenfalls etwas verändert, was man zuvor in der arabischen Welt vorgefunden hat. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es die Gepflogenheit, wonach Frauen nichts erben können, gar nicht. Wozu also überkommene Vorstellungen bemühen, die auf längst vergangene Zeiten ausgerichtet waren?
Ferner wurde der Islam in eine Sklavenhaltergesellschaft hinein geboren. Entsprechend nehmen der Koran und die ersten Muslime Bezug darauf, indem etwa Bestimmungen zur Freilassung von Sklaven oder zu Hochzeiten mit ihnen erlassen wurden. Heute gibt es keine Sklaverei und entsprechende Koranverse gelten ganz selbstverständlich als obsolet.
Deutschland hat das Potenzial für einen eigenen Islam
Vor einiger Zeit habe ich solche Überlegungen auf das Beispiel des Kopftuchs angewandt und theologisch ausgeführt. Es diente einst als Erkennungsmerkmal, das die Frau als Mitglied der neuen muslimischen Gemeinde markierte, und ihr dadurch Schutz garantierte. Wurde sie angegriffen, gab es Ärger mit den Muslimen. Eine solche Schutzfunktion ist in Deutschland unnötig, sie wird von Gesetz und Moral übernommen. Unter anderem das hat mich zu der Erkenntnis gebracht, dass das Tragen eines Kopftuchs nicht mehr zwingend ist.
Die theologischen Fragen, die sich im Einzelnen aus diesen Grundüberlegungen ergeben, lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend klären. Es gibt keine fertigen Antworten. Vielmehr befinden sich die Muslime am Anfang eines Prozesses. Sie müssen das Gerüst für einen "deutschen Islam" erst noch bauen.
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Bauherr können nur eine islamische Theologie und Religionspädagogik sein, die in Deutschland/Europa verwurzelt sind. Die bislang bestehenden Uni-Institute sind jedoch allesamt noch taufrisch. Das heißt, es braucht Zeit. Viel Zeit. Vermutlich Jahrzehnte, bis es mit ihrer Hilfe gelingt, einen "deutschen Islam" zu konturieren. Allerdings würde man diesen Prozess nicht hinauszögern, wenn man endlich den Weg in diese Richtung engagiert einschlüge, statt sich wie die Ditib-Spitze – bewusst oder unbewusst – dagegen zu stemmen.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr neues Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnisten auch auf Facebook oder Twitter folgen.