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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Dauerstreit der Ampel Es wird noch schlimmer
Es begann mit einem Harmonie-Selfie, doch das ist längst Geschichte. Die Ampelkoalitionäre streiten wie die Kesselflicker, und das permanent. Dabei sind es vor allem zwei, die nicht miteinander können.
Dieses Foto verfolgt die Ampelkoalition wie ein Zombie. Es zeigt das Dreierbündnis in einem Zustand, der damals sehr lebendig wirkte, aber nicht lange überlebte. Aus dem Zauber des Anfangs ist ein böser Geist geworden, der die Koalitionäre immer wieder heimsucht.
Die Rede ist von dem Selfie, das die Spitzen von FDP und Grünen im September 2021 nach ihrem ersten Treffen nach der Bundestagswahl zeitgleich in den sozialen Netzwerken posteten. Zu sehen: FDP-Chef Christian Lindner und sein damaliger Generalsekretär Volker Wissing, Robert Habeck und Annalena Baerbock, damals Grünen-Chefs. Alle vier lächeln in die Kamera. "Zwischen uns passt kein Blatt Papier", so die Botschaft.
Heute sind es viele Blätter Papier, die zwischen die Koalitionäre passen, insbesondere zwischen die Grünen und die Liberalen. Inzwischen wirken sie eher wie ziemlich beste Feinde, kaum eine Gelegenheit wird ausgelassen, um öffentlichkeitswirksam die Position des anderen infrage zu stellen. Der Entwurf von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) für eine Kindergrundsicherung ist eines der jüngeren Beispiele. Wie Habecks Heizungsgesetz steht diese als gemeinsames Projekt im Koalitionsvertrag, das Vorhaben stammt also aus einer Zeit, als die Ampel noch eine "Harmonie-Koalition" war. Doch wie beim Heizungsgesetz ist zwischen FDP und Grünen ein erbitterter Streit um die genaue Ausgestaltung und Finanzierung ausgebrochen.
Seit 20 Monaten regiert die Ampel und streitet seither mehr als die Regierungen vor ihr. Das zeigt ein kleiner Überblick.
Januar/Februar 2022: Kaum ist die Ampelkoalition im Amt, kommt es direkt zum ersten Krach. Die Corona-Pandemie hat das Land im Griff, die Infektionszahlen sind weiter hoch. Eine Impfpflicht wird diskutiert. Aus der SPD kommt ein Vorschlag dazu, auch Bundeskanzler Olaf Scholz ist nach anfänglicher Ablehnung für eine entsprechende Verpflichtung. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) träumt hingegen von einem baldigen "Freedom day", so wie viele andere in seiner Partei. Der kommt dann doch nicht so schnell, aber auch die Impfpflicht nicht. Mehrere Anträge dazu fallen im Bundestag durch.
März 2022: Via "Bild"-Zeitung kündigt Finanzminister Christian Lindner einen Tankrabatt an, um die gestiegenen Benzinpreise auszugleichen. In der Koalition ist das nicht abgesprochen. Die Grünen sind empört; sie glauben, dass davon eher die Ölkonzerne profitieren. Es kommt zur bis dahin schwersten Krise in der Koalition. Ende März einigt sich die Ampel in einer Krisensitzung dann doch auf den Tankrabatt. Die Grünen bekommen im Gegenzug das Neun-Euro-Ticket – die Idee dafür stammt jedoch ausgerechnet von FDP-Verkehrsminister Volker Wissing. Es ist einer der seltenen Momente, in der das Friedensangebot am Ende aus dem anderen Lager kommt.
Juni 2022: Die Pläne der EU, ab 2035 keine Neufahrzeuge mit Verbrennungsmotor mehr zuzulassen, lösen in der Ampel neuen Streit aus. Die Grünen unterstützen sie, die FDP will sie nicht akzeptieren. Im März 2023 verständigen sich EU und Bundesregierung darauf, dass Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor, die ausschließlich CO2-neutrale Kraftstoffe tanken, auch nach 2035 neu zugelassen werden können. Die FDP hat sich durchgesetzt.
August 2022: Um einen Zusammenbruch von Unternehmen, die russisches Gas importieren, zu vermeiden, will Robert Habeck eine Gasumlage einführen. Für einen befristeten Zeitraum sollen Privathaushalte, die Gas nutzen, dafür eine Umlage zahlen, mit der kriselnde Importeure gestützt werden sollen. Die Maßnahme sei "kein leichter Schritt, aber sie ist nötig", versichert Habeck. Sowohl in SPD als auch FDP kommt es zu massivem Widerstand. Erst versucht Habeck es mit Nachbesserungen, dann rückt er ganz von seinem Plan ab. Stattdessen kommt ein Gaspreisdeckel.
Oktober 2022: FDP und Grüne verhaken sich in der Frage, ob der für Ende 2022 geplante Atomausstieg ausgesetzt werden soll. Die FDP will die drei verbliebenen Atommeiler bis 2024 weiterlaufen lassen, die Grünen beharren auf dem ursprünglichen Ausstiegstermin. Scholz beendet den Streit mit einem Machtwort: Die Meiler dürfen bis zum 15. April 2023 laufen, dann ist Schluss.
Januar 2023: Die Ampel streitet über die Lieferung von Kampfpanzern des Typs Leopard 2 an die Ukraine. Grüne und FDP sind dafür, Scholz zögert. Ende Januar kündigt der Kanzler die Lieferung an.
Februar 2023: Ein Entwurf von Habecks neuem Heizungsgesetz wird an die "Bild"-Zeitung durchgestochen. Die Grünen vermuten: aus dem Finanzministerium. Ende März kommt es zu einem 30-stündigen Koalitionsausschuss, der mit einem Kompromiss endet. Vereinbart wird, dass Habecks Entwurf entschärft werden soll. Laut Einigung soll er "pragmatisch ausgestaltet" werden und Übergangsspielräume enthalten.
April 2023: Grüne und FDP streiten um das Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG), das in den Bundestag kommen soll. Die Grünen werfen der FDP einen Bruch des Koalitionsvertrags vor, weil diese ein eingeplantes flexibles Budget aus dem Gesetzentwurf gestrichen hatte. Am Ende kommt es zu einem Kompromiss.
Mai 2023: Der Streit um das Heizungsgesetz flammt wieder auf. Habeck will das Gesetz noch vor der Sommerpause durchs Parlament bringen, aus der FDP fordern hingegen einige ein völlig neues Gesetz. Schließlich einigt man sich erneut. Doch dann stoppt das Bundesverfassungsgericht Anfang Juli die Verabschiedung im Bundestag, es gibt dem Eilantrag des CDU-Abgeordneten Thomas Heilmann statt. Er hatte argumentiert, er habe als Abgeordneter nicht ausreichend Zeit dafür gehabt, sich über den veränderten Entwurf umfassend zu informieren. Nun soll der Gesetzentwurf nach der Sommerpause in den Bundestag eingebracht werden.
August 2023: Noch in der parlamentarischen Sommerpause kommt es zum erneuten Krach. Anlass ist die von Familienministerin Lisa Paus geplante Kindergrundsicherung. Bereits im Juli hatte Finanzminister Christian Lindner klargemacht, dass er eine erste Finanzierungsaufstellung von Paus in Höhe von zwölf Milliarden Euro nicht nachvollziehen könne und vorerst zwei Milliarden Euro als "Merkposten" in der Haushaltsplanung dafür vorsehe. Olaf Scholz schaltet sich ein. Er versichert, dass die Kindergrundsicherung nach der parlamentarischen Sommerpause vom Kabinett beschlossen werden soll und fordert Paus auf, bis Ende August einen Entwurf vorzulegen. Das tut Paus. Doch sie tut noch mehr: Mitte August blockiert sie in der Kabinettssitzung überraschend Lindners Wachstumschancengesetz, mit dem die Wirtschaft um rund sechs Milliarden Euro jährlich entlastet werden sollte. Nicht nur die FDP schäumt. Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck ist düpiert: Er hatte bereits seine Zustimmung zum Gesetz signalisiert.
Die Auflistung macht deutlich: Wie in jeder zerrütteten Beziehung wird in immer kürzeren Abständen gestritten. Die mahnenden Worte von Kanzler Scholz haben nicht viel geholfen. Dabei hatte er im ZDF-Sommerinterview vor einer Woche noch angekündigt, der Ton werde sich bessern. Das, so sein Eindruck, hätten sich viele in der Sommerpause vorgenommen.
Offenbar hat Scholz sich geirrt. Denn nach der Sommerpause ist vor zwei wichtigen Landtagswahlen: In Hessen und Bayern wird am 8. Oktober jeweils ein neuer Landtag gewählt. Erfahrungsgemäß nehmen die Profilierungskämpfe in den Wochen davor eher zu als ab. Das lässt Schlimmes befürchten.
- Eigene Recherchen