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Zeitenwende: Putin ist längst nicht die einzige Bedrohung


Meinung
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Zeitenwende
Putin ist längst nicht die einzige Bedrohung

MeinungEin Gastbeitrag von Andreas Audretsch (Grüne)

02.07.2022Lesedauer: 7 Min.
Wladimir Putin: Die Bedrohungslage hat nicht erst mit Russlands Angriff auf die Ukraine begonnen, schreibt Grünen-Politiker Andreas Audretsch.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Die Bedrohungslage hat nicht erst mit Russlands Angriff auf die Ukraine begonnen, schreibt Grünen-Politiker Andreas Audretsch. (Quelle: Russian Look/imago-images-bilder)
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Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Welt alarmiert. Doch die Herausforderung ist wesentlich größer als Wladimir Putin – und betrifft uns alle.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat im Februar 2022 die Zeitenwende ausgerufen. Doch die Bedrohungslage habe nicht erst mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen, argumentiert der Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch. Reaktionäre und rechtsextreme Kräfte arbeiteten seit Jahren weltweit daran, imperiales Denken, Menschenverachtung und die Leugnung der Klimakrise gesellschaftsfähig zu machen.

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Die Antwort darauf müssen wir gemeinsam geben, schreibt Audretsch in "Zusammen wachsen: Eine neue progressive Bewegung entsteht". Warum er Grund zur Hoffnung sieht, lesen Sie in diesen Ausschnitten aus dem Buch:

Zeitenwende – es liegt in unserer Hand

"Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen."

Die Bedrohungslage, auf die Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages reagierte, hat nicht mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Wladimir Putins auf die Ukraine begonnen. Reaktionäre und rechtsextreme Kräfte arbeiten seit Jahren daran, Großmachtfantasien und faschistisches Gedankengut gesellschaftsfähig zu machen. Dabei geht es nicht nur um militärische Fragen. Es geht um eine tiefgreifende Auseinandersetzung zwischen progressiven Kräften, die für Freiheit, Gleichheit und eine regelbasierte Ordnung eintreten – und der ewigen Reaktion autoritärer, chauvinistischer und faschistischer Kräfte.

Der Autor Andreas Audretsch, 38 Jahre alt, ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag. Der promovierte Politikwissenschaftler arbeitete zunächst als Hörfunkjournalist, dann als Pressesprecher in mehreren Bundesministerien. 2021 zog er erstmals in den Bundestag ein. Er ist Policy Fellow im Think Tank "Das Progressive Zentrum".

Das faschistische Denken, das dem Angriffskrieg auf die Ukraine zu Grunde liegt, hat längst auch die USA, Frankreich, Ungarn, Polen oder auch Deutschland erfasst. Ob "America First" von Donald Trump in den USA, "La France d’abord" (Frankreich zuerst) von Marine Le Pen in Frankreich oder das Beschwören deutscher Größe unter Bismarck – die Propaganda entstammt dem gleichen gefährlichen reaktionären Gedankengut. Charakteristika sind imperiale Ansprüche, chauvinistische Über- und Unterordnung von Menschen, ungenierter Rassismus, offen zur Schau getragene Frauenfeindlichkeit, Homophobie, die Infragestellung der Religionsfreiheit, Menschenverachtung in allen Facetten und die Leugnung der menschengemachten Klimakrise.

Gemeinsam oder gar nicht

Zwei Tage vor der Bundestagswahl, weltweit ist Klimastreik. Am Freitag, 24. September 2021, strömen Hunderttausende Menschen auf den Platz vor dem Reichstag in Berlin, auf der Bühne Musik, Durchsagen, um die Menschenmenge anzuheizen, und Redebeiträge. Es geht um die Klimakrise, aber nicht nur, genauso geht es um Ungleichheit, Ausbeutung, Unterdrückung. Um kurz nach 12 Uhr steigt Emilia Roig auf die Bühne. Für viele ist die Politologin Anfang 2021 mit ihrem Bestseller "Why We Matter" bekannt geworden.

Heute ist sie beim Klimastreik, um über die Themen ihres Buches zu sprechen, es geht um Hierarchien, Muster von Unterdrückung und Wege zur Solidarität. "Wir Menschen haben diese Hierarchien in den letzten 500 Jahren so tief in uns verinnerlicht, dass wir sie nicht mal infrage stellen", sagt sie und blickt über die Massen vor ihr – am anderen Ende des Platzes, das Kanzleramt.

Die Hierarchie "scheint von unserer Welt untrennbar zu sein. Wie Wasser von Fischen". Viele Menschen seien entmenschlicht worden. Jüdinnen und Juden, Roma und Romnija, Indigene, Geflüchtete, Menschen mit Behinderung. "Doch diese Hierarchie ist nichts anderes als eine Konstruktion. Sie ist eine Lüge", sagt sie und ergänzt, es werde nur gelingen, die Ausbeutung und Zerstörung unserer Welt zu stoppen, wenn wir diese Konstruktionen und Lügen überwinden. "No Justice", ruft sie, "ohne Gerechtigkeit", und aus Tausenden Mündern schallt es zurück "No Peace", "wird es keinen Frieden geben". "No Justice – no Peace", "No Justice – no Peace."

Zur Auflockerung erst mal ein "Pinguintanz", übernimmt der Moderator. Die Stimmung steigt und immer mehr Menschen strömen vor den Bundestag. Eindringlich bittet die Polizei, nicht mehr auf den Platz zu gehen. Durch Lautsprecher tönt der Aufruf "Masken tragen, Abstand halten" – es ist nicht nur Klimakrise, es ist auch Coronakrise. Als Greta Thunberg einige Zeit später auf die Bühne tritt, haben sich über eine halbe Million Menschen in Berlins Regierungsviertel versammelt. Viele Kinder und Jugendliche sind gekommen, das Bündnis aber ist mittlerweile viel größer. Gut organisiert reihen sich hintereinander die Blocks und Gruppen: "For Future-Block", "Hochschul-Block", "Antikapitalistischer Block", "Initiativen-Block", "Gesundheits-Block", "Landwirtschafts-Block". Über den Köpfen wehen Banner von Umweltverbänden, Fahnen der Gewerkschaften "IG Bau" und "GEW", auf einem Schild ist "Queers for Future" zu lesen.

Am meisten beeindruckt mich an diesem Tag aber ein Schild, das mir ein junger Mann, vielleicht Anfang zwanzig, plötzlich im Getümmel vor die Nase hält. In großen Druckbuchstaben hat er darauf geschrieben: "There is no such thing as a single-issue struggle, because we do not live single-issue lives". Frei ins Deutsche übersetzt: So etwas wie einen "Ein-Thema-Kampf" gibt es nicht, denn wir führen auch keine "Ein-Thema-Leben". Der Satz stammt von Audre Lorde – Schriftstellerin und Aktivistin der 1970er- und 1980er-Jahre. "Ich bin schwarz, lesbisch, Feministin, Kriegerin, Dichterin, Mutter." Mit diesen Worten beschrieb Lorde sich selber. All diese Facetten hätten ihr Kraft und Kompass im Leben gegeben.

Den berühmten Satz, den der junge Mann beim globalen Klimastreik vor dem Reichstag in die Höhe streckt, sagte Audre Lorde im Februar 1982 bei einer Feier zu Ehren der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Und sie ergänzte in der gleichen Rede mit Blick auf die Zukunftskämpfe ihrer Zeit: "What we must do is commit ourselves to some future that can include each other. […] And in order to do this, we must allow each other our differences at the same time as we recognize our sameness." Wir müssen uns einer Zukunft verpflichten, die uns alle einbezieht. Und um dies zu erreichen müssen wir uns unsere Unterschiede zugestehen und gleichzeitig unsere Gleichheit anerkennen.

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Grund für Optimismus

Die Angriffe der vergangenen Jahre haben nicht zur Resignation geführt, ganz im Gegenteil. Gerade in den letzten Jahren ist Enormes entstanden: Fridays for Future hat die Klimakrise seit August 2018 mit Wucht auf die Tagesordnung gesetzt. "Black Lives Matter" hat seit 2013 einen ganz neuen Fokus auf Rassismus und Ausgrenzung geschaffen. Die "Omas gegen Rechts" gehen seit 2017 mit jungen Antifaschist*innen auf die Straße. Die feministische Bewegung beschäftigt sich unter dem Stichwort "Intersektionalität" stärker als je zuvor mit der Frage, wie die Diskriminierung von Frauen mit Klassismus, Rassismus oder Queerfeindlichkeit zusammenhängt.

In den Kirchen machen sich Frauen auf, die verkrusteten patriarchalen Strukturen aufzubrechen, Maria 2.0 erhält seit 2019 Zulauf, und das Verbot aus dem Vatikan, Homosexuelle zu segnen, beantworten Kirchengemeinden 2021 in ganz Deutschland mit einem Tag der Segnungen für alle und Regenbogenflaggen an den Gotteshäusern. Die Gewerkschaften gehen Bündnisse mit "Fridays for Future" ein, der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) hat sich mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband zusammengetan, um all jene eines Besseren zu belehren, die immer wieder Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit gegeneinander auszuspielen versuchen.

Die Arbeiterwohlfahrt und der Arbeiter-Samariter-Bund kooperieren mit dem Lesben- und Schwulenverband, um ihre Einrichtungen stärker für queeres Leben zu öffnen, und "Unteilbar" hat immer wieder Zehntausende Menschen mobilisiert und in ganz Deutschland auf die Straßen gebracht. Nicht zuletzt gibt es immer mehr Unternehmer*innen, die realisieren, dass Klimaschutz, eine freie Gesellschaft und soziale Gerechtigkeit auch die Voraussetzung sind, um langfristig wirtschaftlichen Erfolg zu haben.

Es liegt etwas in der Luft. Kann es sein, dass sich eine breite progressive Bewegung gerade jetzt formiert? In dem Moment, in dem der Druck zu handeln gigantisch wird? Im Angesicht einer Klimakatastrophe, die keinen Aufschub mehr duldet. Im Angesicht von Rechtspopulist*innen, die den menschengemachten Klimawandel leugnen, die Rechte von Minderheiten angreifen und bewusst auf Spaltung setzen? Im Angesicht von sozialen Verwerfungen, die aus der Aufstiegshoffnung vergangener Jahrzehnte, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, für breite gesellschaftliche Gruppen Abstiegsängste haben werden lassen?

Progressive sind überall – Reaktionäre auch

Es gibt kein gesellschaftliches Milieu, in dem nicht progressive Kräfte zu finden wären. Gleichzeitig machen sich reaktionäre und rechtsextreme Kräfte in fast allen Teilen der Gesellschaft breit. Die Gewerkschaften kämpfen mit rechten Betriebsräten, die Umweltbewegung mit rechten Naturgruppen, es gründen sich rechte Landvolk-Gruppen, die ökologische Landwirtschaft mit germanischen Traditionen und völkischem Denken verknüpfen. In der katholischen Kirche verfestigen sich reaktionäre Strukturen, die jegliche Veränderung ablehnen, Frauen gezielt Rechte vorenthalten wollen und lieber Zäune segnen als homosexuelle Liebe.

In der schwulen Community ringen Progressive mit erzkonservativen Kräften, die "den Islam" als Hauptgegner erkoren haben. Reaktionäre Frauengruppen versuchen, Gewalt gegen Frauen gezielt mit rassistischen Klischees zu verknüpfen, lehnen gleiche Rechte für trans* Personen ab, wie Alice Schwarzer und die "EMMA", oder kultivieren Bilder von Frauen als Mütter und Schutzbefohlene. In der Debatte über soziale Gerechtigkeit, Energie- und Lebensmittelpreise ist es einmal mehr die AfD, die gegen ökologische Politik Stimmung macht. Die erneuerbaren Energien seien schuld daran, dass die Energiepreise steigen, die Preise für Fleisch dürften sich nicht verändern, auch wenn es mies um das Tierwohl steht. So absurd die Thesen erscheinen, sie finden Gehör in ganz unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft.

Die Trennlinie läuft künftig nicht länger entlang klassischer Milieus. Nicht Gewerkschaften gegen Umwelt- und Klimabewegung oder Kirchen gegen Frauen- und queere Organisationen ist die relevante Unterscheidung. Vielmehr stehen progressive Kräfte in allen gesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen Reaktionären und Rechtsextremen gegenüber. Umso wichtiger, dass wir Progressive uns finden und zusammenwachsen – über die Grenzen unserer jeweiligen Gruppen hinaus.

Wir, die vielen progressiven Kräfte, können zusammenwachsen – und nur zusammen können wir ausreichend wachsen, um stark genug zu werden, der Zerstörungswut reaktionärer Kräfte Einhalt zu gebieten. Alleine sind wir verloren. Nur wenn wir aufeinander achten, nur gemeinsam können wir uns gegenseitig Freiheit und Gleichheit garantieren – jedem einzelnen Menschen. Der Angriffskrieg in der Ukraine hat gezeigt – es ist an uns, die Zeitenwende gemeinsam anzunehmen und zu gestalten. Es liegt in unserer Hand.

Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinungen der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

Verwendete Quellen
  • Auszüge aus dem Buch "Zusammen wachsen: Eine neue progressive Bewegung entsteht" von Andreas Audretsch
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