Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Urteil gegen Ex-KZ-Wachmann Wir haben es viel zu spät begriffen
Fünf Jahre muss der KZ-Wachmann Josef S. in Haft. Ein hartes Urteil für den 101-Jährigen, aber ein richtiges. Die Justiz hat dennoch lange Zeit versagt.
Der frühere KZ-Wachmann Josef S. ist wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden, aber für Gerechtigkeit reicht das nicht. Das Gericht hatte keinen Zweifel, dass der 101-Jährige zwischen 1941 und 1945 im KZ Sachsenhausen gearbeitet hat und sich am Mord von mindestens 3.500 Menschen mitschuldig gemacht hat. Das Mindesturteil: Fünf Jahre Freiheitsentzug. Bis zuletzt beteuerte S. seine Unschuld, zuletzt am vorletzten Verhandlungstag.
Die Justiz hat in den vergangenen Jahrzehnten versagt. Schnell sind Politiker dabei, wenn es heißt, sich in die Chöre einzureihen, die "Nie wieder!" rufen. Doch wo bleibt der Sinn für die gerechte Strafe derer, die nach Kriegsende ein normales Leben führen konnten? Das ist dann wohl doch nicht so wichtig. Heute ist es schwerer, eine Beweislage vor Gericht vorzubringen, die eine Verurteilung wahrscheinlich macht. Vor 70 Jahren wäre das noch einfacher gewesen.
Leon Schwarzbaum erlebte Urteil nicht mehr
Der Holocaust-Überlebende Leon Schwarzbaum, 101 Jahre alt, musste auf den Tag warten, an dem er in dem Prozess aussagen konnte. Mit seinem Enkelsohn besuchte er einmal die Verhandlung in Brandenburg an der Havel. Er war selbst erst in Auschwitz, dann in Sachsenhausen inhaftiert. Es sollte nicht mehr zu einer persönlichen Aussage von ihm kommen. Schwarzbaum starb vor wenigen Wochen. Seine Schilderungen von der Zeit im KZ Sachsenhausen fanden nur noch schriftlich ihren Weg in die Akten. Und genau daran zeigt sich das größte deutsche Versäumnis in der Aufarbeitung der Nazi-Kriegsverbrechen: es wurde viel zu lange gewartet. Und jetzt läuft die Zeit ab.
Für die noch lebenden KZ-Häftlinge von damals, für die Hinterbliebenen der Toten ist dieses Urteil kein Trost, auch keine Gerechtigkeit. Sie durchlebten das Schlimmste, was einem Menschen wohl widerfahren kann, ihr Schmerz lässt sich niemals wiedergutmachen. 77 Jahre nach Kriegsende gibt es kaum noch Holocaust-Überlebende. Bald wird es keine Zeitzeugen, aber auch keine Mittäter mehr geben. Und der Justiz sind wegen des Alters der Angeklagten die Hände für hohe Strafen gebunden.
Natürlich kann man argumentieren, für Gerechtigkeit sei es jetzt ohnehin zu spät. So viele Jahre nach Kriegsende solle man die letzten alten Nazis in Ruhe lassen. Auch t-online erreichten Leserbriefe mit diesem Inhalt. Doch so ein großes Unrecht wie jenes, das im Zweiten Weltkrieg an Juden, Menschen mit Behinderung und anderen verübt wurde, darf niemals ruhen. Es ist unsere Aufgabe als Generationen nach Hitler, das Schrecken in unsere Gegenwart aufzunehmen und dafür zu sorgen, dass es niemals vergessen wird. Wir tragen diese Verantwortung. Wir müssen den Menschen, die noch leben, so zeigen: Wir haben euch nicht vergessen. Die Verantwortlichen werden zur Rechenschaft gezogen, egal, wie lange es dauert, sie werden vor Gericht gestellt. Genau deshalb hat ein Urteil wie dieses vielmehr eine symbolische Wirkung.
Dennoch ist es sicher kein Trost. Der 101-jährige Josef S. wird aus gesundheitlichen Gründen die verhängte Haftstrafe wohl niemals antreten. Verurteilt werden musste er trotzdem. Das zeigte auch das Urteil gegen John Demjanjuk 2011. Er war für seine Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibor wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 28.000 Fällen zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Er war der Erste, der aufgrund seiner Anwesenheit als Mitglied der Wehrmacht in einem Lager, verurteilt wurde. Damit wurde der Weg für Urteile, wie heute gegen Josef S., geebnet. Bevor es rechtskräftig wurde, starb Demjanjuk. Der Prozess und das Urteil waren trotzdem wegweisend für weitere. So muss es in einem Rechtsstaat sein. Leider haben wir das viel zu spät begriffen.
- Prozess gegen den 101-jährigen Josef S. in Brandenburg an der Havel, Oktober 2021 bis 28. Juni 2022