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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Evakuierung aus Afghanistan "Ich bekomme jeden Tag verzweifelte Nachrichten"
Menschen auf eigene Faust aus Afghanistan retten? Seit einem halben Jahr machen das deutsche Aktivisten – trotz steigender Gefahr. Eine von ihnen sagt: Manche Situationen sind nur schwer auszuhalten.
Ein halbes Jahr ist es her, dass die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul eroberten. Kurz danach starteten Aktivisten eine Evakuierungsmission: Sie charterten Flugzeuge und flogen auf eigene Faust Menschen vom Kabuler Flughafen aus – auch aus Frust über die nur schleppend angelaufenen Evakuierungen der Bundesregierung.
Die Situation in Afghanistan hat sich seitdem massiv verschlechtert: Die Bevölkerung leidet unter Hunger, die Taliban schränken Menschenrechte massiv ein. Die "Kabul Luftbrücke" bringt aber weiterhin Afghaninnen und Afghanen mit deutscher Aufnahmezusage aus dem Land. Theresa Breuer, eine der Gründerinnen, erzählt im Interview von ihren Erfahrungen, berichtet, wie es weitergeht und was sie von der neuen Bundesregierung erwartet.
t-online: Frau Breuer, erst vor wenigen Tagen wurden zwei Journalisten in Kabul festgenommen, mehrere Hilfsorganisationen zogen daraufhin ihre Mitarbeiter ab. Die "Kabul Luftbrücke" ist noch vor Ort aktiv. Wie gehen Sie und Ihre Kollegen mit dieser Gefahr um?
Theresa Breuer: Wir arbeiten hauptsächlich mit lokalen Teams zusammen. Niemand weiß, dass sie für uns arbeiten. Aus Sicherheitsgründen kann ich nicht ins Detail gehen, wie wir vor Ort exakt arbeiten. Aber so viel kann ich sagen: Wir evakuieren über Luft und Land und nutzen dabei Wege sowohl über Pakistan als auch Iran. Wir lassen das aber natürlich niemals aussehen wie eine Evakuierungsmission.
Sie haben die Luftbrücke mit Mitstreitern gegründet, ursprünglich um drei afghanische Bergsteigerinnen zu retten, die Sie über Jahre gefilmt haben. Wie geht es den Frauen heute?
Sie sind in Deutschland, aber ihre Familien sind noch in Kabul. Sie haben zwar eine Aufnahmezusage. Allerdings konnten wir sie bisher noch nicht aus dem Land bringen, weil sie zum Beispiel keine Pässe hatten oder weil Pakistan zwischenzeitlich keine Visa ausgestellt hat.
Theresa Breuer ist Autorin, Filmemacherin und Aktivistin. Auch ihre Arbeit bei der "Kabul Luftbrücke" hielt sie in Video- und Tonaufnahmen fest. Zusammen mit dem Afghanistan-Experten Emran Feroz und Journalisten von "Kugel und Niere" ist daraus der Podcast "Inside Kabul Luftbrücke" entstanden, der auf Spotify zu hören ist. Hier geht’s zur ersten Folge.
Was hören Sie von den Familien?
Ich habe eine Familie erst im November besucht, als ich in Kabul war. Die Mutter des Mädchens hatte gerade angefangen, ihre Winterkleidung zu verkaufen, weil sie sich kein Brot mehr leisten konnte. Die Familie kann nicht mehr zur Arbeit gehen. Eine andere Familie mussten wir verstecken, weil der Vater verschuldet ist. Ein entfernter Verwandter wollte deswegen die 15-jährige Tochter zur Zweitfrau nehmen, damit wären die Schulden beglichen gewesen. Die Familie war deswegen komplett verzweifelt. Das sind Situationen, die nur schwer auszuhalten sind.
In dem Podcast "Inside Kabul Luftbrücke" schildern Sie, wie dramatisch die ersten Wochen der Rettungsaktion waren, wie Sie versuchen, ein Flugzeug zu chartern und ständig Anrufe aus Afghanistan bekommen, die auf Ihre Hilfe warten.
Ich bekomme auch heute noch jeden Tag verzweifelte Nachrichten: "Theresa, was ist mit meiner Familie?" Wir haben etwa 1.600 Menschen rausgebracht. Man kann man sich also vorstellen, wie viele Nachrichten bei unserer Initiative einlaufen. Jedes Mal, wenn wir eine Person rausbringen, fragt sie natürlich gleich, was mit ihrer Mutter, Schwester oder Cousine ist.
Das ist eine große Erwartungshaltung an Sie.
Ich versuche zu sagen: Unser Team arbeitet Tag und Nacht, viele davon neben ihrer eigentlichen Arbeit. Wir können aber nur den Leuten helfen, die eine Aufnahmezusage haben, und die Grenzen des Machbaren sind eng. Natürlich haben wir uns aber auch in eine Position gebracht, dass wir Wissen und Fähigkeiten haben, die andere Organisationen nicht haben. Damit geht für uns die Verantwortung einher, das zu nutzen.
Das heißt, die Arbeit der Luftbrücke wird erst einmal auf unbestimmte Zeit weitergehen?
Es war uns von Anfang an klar, dass es kein kurzes Engagement sein wird. Das ist nichts, was man einfach abgeben kann. Denn nun tritt genau das ein, wovor wir seit Beginn der Machtübernahme der Taliban gewarnt haben: Die Schlinge zieht sich langsam zu. Wir sehen jetzt, dass ehemalige Ortskräfte und andere bedrohte Menschen verschwinden, dass sie umgebracht werden. Deshalb arbeiten wir noch immer 24 Stunden am Tag daran, diejenigen mit Aufnahmezusage von Deutschland herauszubringen.
Wir sagen aber auch, dass das nicht genug ist: Ich habe gestern mit der jungen Frau gesprochen, die von den Taliban verschleppt und misshandelt wurde, aber eben keine Aufnahmezusage von Deutschland hat. Deswegen arbeiten wir auch von politischer Seite daran, dass die Bundesregierung ihre Liste für besonders gefährdete Menschen wieder öffnet.
Sie meinen damit eine Evakuierungsliste, die die Bundesregierung nach der Machtübernahme der Taliban im August geöffnet und mit Ende der Bundeswehrmission auf dem Kabuler Flughafen geschlossen hat. Darauf stehen Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und andere, die sich für Demokratie und freiheitliche Werte eingesetzt haben.
Ja, diese Liste war nur sehr kurz offen und wurde zu einem willkürlichen Zeitpunkt geschlossen. Nur diejenigen, die besonders schnell waren und dazu noch das Glück hatten, bei den deutschen Behörden durchzukommen, stehen drauf. Das gleicht einer Lotterie. Und ich finde nicht, dass eine Lotterie ein faires System ist, wenn es um Leben und Tod geht.
Laut Bundesregierung sind jetzt mehr als 11.000 Menschen aus Afghanistan in Deutschland angekommen, davon etwas mehr als 1.000 Ortskräfte. Diese Zahlen sehen Sie nicht als Erfolg?
Wir reden hier von höchstens der Hälfte der Menschen, die eine Aufnahmezusage haben. Mindestens 10.000 Menschen warten noch auf ihre versprochene Ausreise. Und darin sind noch nicht einmal die Menschen eingerechnet, bei denen sich in den vergangenen Monaten herausgestellt hat, dass sie in großer Gefahr sind. 11.000 Menschen sind besser, als wir noch vor einigen Wochen erwartet hatten. Das ist aber nicht allein ein Erfolg der Bundesregierung. In diese Zahlen sind auch die Menschen eingerechnet, die wir als private Initiative gerettet haben.
Sie waren selbst in Kabul, als die Taliban die Stadt einnahmen. Wie haben Sie diesen Moment erlebt?
Es war wie in einem Katastrophenfilm, der sich vor meinen Augen abspielte. Weil es ja keine Gefechte gab, ging es wahnsinnig schnell. Auf einmal standen sie vor den Toren Kabuls und die Leute gerieten in Panik und strömten zum Flughafen. Ich war in diesem geschützten militärischen Bereich im Flughafen und habe die panischen Menschenmassen gesehen, Berge von zerstörtem militärischen Equipment, Helikopter, die über dem Flughafen kreisten. Es hat sich angefühlt, wie das Ende der Welt.
- Videotelefonat mit Theresa Breuer
- "Inside Kabul Luftbrücke": Podcast