"Pandemie wirkt wie Brandbeschleuniger" Jüdischer Weltkongress sieht Antisemitismus auf Allzeithoch
Der Judenhass in Deutschland ist auf einem Allzeithoch, warnt der Jüdische Weltkongress. Jeder dritte junge Deutsche hat demnach antisemitische Vorstellungen. Die Pandemie hat zu diesem Zustand beigetragen.
Die Corona-Pandemie hat nach Einschätzung des Jüdischen Weltkongresses (WJC) den Antisemitismus in Deutschland verstärkt. "Die Pandemie wirkt wie ein Brandbeschleuniger: Menschen vergleichen den Holocaust verharmlosend mit Impfungen", sagte WJC-Präsident Ronald Lauder der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". "Unter dem Deckmantel vermeintlicher Kritik an Corona-Maßnahmen ist Antisemitismus noch gesellschaftsfähiger und damit gefährlicher geworden", kritisierte Lauder.
Lauder zeigte sich vor dem Holocaust-Gedenktag besorgt über eine Zunahme des Antisemitismus in Deutschland. Der WJC-Präsident verwies auf eine im November von seiner Organisation durchgeführten Umfrage unter 5.000 Menschen in Deutschland, über deren Details die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und das ZDF berichteten. Demnach hat nach Lauders Angaben jeder Dritte unter 30 Jahren grundsätzlich antisemitische Vorstellungen, unter allen Erwachsenen sei es fast jeder Fünfte. Lauder beklagte ferner nachlassendes Wissen über den Holocaust.
"Sehr besorgt, was heute in Deutschland passiert"
"Ich bin sehr besorgt darüber, was heute in Deutschland passiert", sagte Lauder im ZDF. Die Studie zeige, dass das Ausmaß des Antisemitismus in Deutschland auf einem Allzeithoch sei. Der WJC-Präsident appellierte an die Politik, aktiver gegen den Antisemitismus vorzugehen. Auf die Frage im ZDF, ob die Politik tue, sagte Lauder: "Einige tun genug, die Mehrheit nicht." Es sei die Aufgabe der Bundesregierung, mit den Länderregierungen zusammenzuarbeiten, um das zu stoppen. "Aber wenn die Bundesregierung keine starke Rolle übernimmt, ist es eine sehr gefährliche Sache", sagte Lauder.
Auch der Antisemitismus-Beauftragte Felix Klein warnt vor der Situation in Deutschland. Corona habe Antisemitismus beflügelt, so Klein. So habe eine Studie nachgewiesen, dass sich die Zahl deutschsprachiger Internet-Posts mit judenfeindlichen Inhalten seit Beginn der Pandemie verdreizehnfacht habe. "Diese einfachen Muster, dass es einen Sündenbock geben muss, das hat leider eine gewisse Tradition in unserer Gesellschaft."
Extremisten nutzten die Unzufriedenheit einiger Menschen mit der Corona-Politik aus. Antisemitismus sei "eine Art klebriger Kitt" für die verschiedenen Protestgruppen, von vermeintlich unbedarften Bürgern, über Esoteriker, Verschwörungsanhänger, "Prepper", Reichsbürger bis hin zu Rechtsextremisten. Klein begrüßte, dass Strafverfolgungsbehörden viel konsequenter wegen Volksverhetzung ermitteln, wenn NS-Verbrechen verharmlost würden.
Antisemitismus-Beauftragter sieht "wachsende Verrohung"
Klein nannte es "extrem und infam", dass einige Teilnehmer von Corona-Demonstrationen sich gelbe Judensterne anheften und so die NS-Verbrechen relativieren. "Das ist die Lust an der Provokation und der Wunsch, damit Aufmerksamkeit zu erzeugen", sagte Klein. Aber das könne man nicht ignorieren. "Es zeigt einen wachsenden Verrohungszustand in unserer Gesellschaft."
Um die Erinnerung an die NS-Verbrechen wach zu halten, fordert Klein neue Ansätze. "Sie darf nicht in Formeln und Ritualen erstarren, und sie sollte nicht nur den Kopf ansprechen, sondern auch das Herz und die Emotionen", sagte Klein der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Empathie sei entscheidend in "Zeiten der Verrohung und der Shoa-Relativierungen". Klein verurteilte Antisemitismus bei Corona-Protesten scharf.
Diese monströsen Verbrechen heute gedanklich zu fassen, sei fast unmöglich. "Aber wichtig ist, diese Geschichte anzunehmen, wie eine Art Erbschaft oder Vermächtnis, was aber nicht ausgeschlagen werden kann", sagte Klein. Hilfreich sei, dass es im Lauf der Zeit leichter werde, die Rolle der eigenen Familie in der Shoa kritisch zu beleuchten. Menschen mit Migrationshintergrund müssten in die Erinnerungskultur einbezogen werden – es sei durchaus möglich, sie zu erreichen.
Jüdinnen und Juden wünschten sich nichts mehr, als in Normalität und Sicherheit zu leben, sagte Klein. Normalität sei aber weit entfernt, wenn vor jüdischen Einrichtungen Polizeischutz zum Alltag gehöre. "Das ist die traurige Botschaft auch zu diesem Gedenktag, dass wir das noch nicht geschafft haben zu zeigen und zu leben: Die jüdische Gemeinschaft ist ein ganz normaler Teil der Gesellschaft und bereichert sie."
Am 27. Januar 1945 hatten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des deutschen Konzentrationslagers Auschwitz im besetzten Polen befreit. Die Nazis hatten dort mehr als eine Million Menschen ermordet. Seit 1996 wird das Datum in Deutschland als Holocaust-Gedenktag begangen. Bei einer feierliche Gedenkstunde am Donnerstag im Bundestag werden die Holocaust-Überlebenden Inge Auerbacher und der israelische Parlamentspräsident Mickey Levy sprechen.
- Nachrichtenagentur dpa