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Schreckenstat in Idar-Oberstein
Experte: "Der Täter wollte mit der Tat ein Signal senden"


23.09.2021Lesedauer: 4 Min.
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Vor der Tat in Idar-Oberstein mehrten sich Gewaltaufrufe: Wie sich die Corona-Leugner-Szene immer weiter radikalisiert. (Quelle: t-online)

Ein 20-Jähriger ist, wohl weil er einen Kunden auf die Maskenpflicht hinwies, getötet worden. Bislang ein Einzelfall, der aber eine "terroristische Botschaft" hat, sagt ein Radikalisierungsexperte.

Ist dieser Fall ein Wendepunkt? Der schockierende Anschlag auf einen 20-jährigen Studenten in Idar-Oberstein macht Menschen bundesweit fassungslos. Er ist mutmaßlich von einem 49-Jährigen durch einen Kopfschuss getötet worden. Zuvor hatte ihn der Student auf die in Deutschland geltende Maskenpflicht hingewiesen.

"Diese Tat hat eine terroristische Botschaft, weil der mutmaßliche Täter ein Signal aussenden wollte", sagt Matthias Quent. Er ist Professor an der Hochschule Magdeburg-Stendal, Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena und Experte, wenn es um Radikalisierungsprozesse und Rechtsextremismus geht.

Konkret gebe es bei diesem Fall einen Zusammenhang zwischen den politischen Entscheidungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und der Tat. Das gehöre an dieser Stelle zur Erklärung mit dazu, aber: "Es ist ein Fehler zu sagen, es kam wegen eines Maskenstreits dazu. Der Grund für die Tat ist der besinnungslose Hass des Täters, der sich einen Vorwand gesucht hat", erklärt Quent.

Das zeige sich im Fall des mutmaßlich 49 Jahre alten Täters besonders gut, weil der unter Mordverdacht stehende Mann schon 2019 im Netz durch rechtsradikale Äußerungen auffiel – vor Pandemie und Maskenpflicht.

Auch t-online zeigte auf, wo und wie der Mann in sozialen Netzwerken aktiv war (Mehr dazu lesen Sie hier). Dabei wird ersichtlich, dass er sich in den vergangenen Jahren bereits radikalisierte, schon 2019 teilte er Kriegsfantasien im Netz. "Er ist auch auf den Anschlag in Halle eingegangen, hat den Klimawandel geleugnet und Gewaltfantasien dargestellt. Die ganzen Debatten um die Corona-Pandemie sind vor allem ein neuer Anlass für Radikalisierte", so Quent. In unterschiedlichen Spektren habe der Verdächtige schon rechtsextreme Verschwörungsideologien geteilt.

Verfassungsschutz beobachtete Verdächtigen nicht

Die Tatsache, dass er die Tankstelle zunächst verlies und seine Waffe holte, zurückkam und den 20-Jährigen erschoss – "das deutet auf eine rechte terroristische Dimension hin", schätzt der Radikalisierungsexperte. Der Verfassungsschutz wollte sich gegenüber t-online mit Blick auf die laufenden Ermittlungen nicht äußern. Fakt ist: Beobachtet wurde der Tatverdächtige bislang nicht.

Der Verfassungsschutz: Seine Aufgabe ist es, Bestrebungen, die sich gegen die Sicherheit des Bundes oder der Länder oder gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten, als solche zu erkennen und aufzuklären. Im Zuge dessen nehmen die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern Gruppierungen und Einzelpersonen in den Blick, die wesentliche Verfassungsgrundsätze aussetzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen erheblich beeinträchtigen wollen.

Eine neue, erhöhte Terrorgefahr durch Gegner der Corona-Maßnahmen in Deutschland sieht der Experte allerdings nicht. "Im Gegenteil, dass was wir in den vergangenen Jahren schon gesehen haben, schließt im Grunde daran an, was wir 2016 schon erlebt haben, etwa bei dem Anschlag in München. Alleinhandelnde Attentäter, die sich durch Einflüsse von Gesellschaft und rechten Gemeinschaften, oft im Internet, radikalisieren, und Opfer auswählen, die eine Botschaft tragen sollen, die auch als Rechtfertigung für die Tat herangezogen wird", erklärt Matthias Quent.

"Das ist die Spitze des Eisbergs"

Als Beispiele nennt er etwa die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, die Anschläge in Halle und in Hanau. In Halle sei beispielsweise die Bedeutung von antisemitischen Verschwörungstheorien und Desinformationen für den Täter groß gewesen. Er habe Desinformationen aus dem Netz genutzt, um die Tat zu rechtfertigen.

In Idar-Oberstein ist nun zum ersten Mal in Deutschland ein Mensch im Kontext der Gegner von Corona-Maßnahmen getötet worden. "Zuvor gab es Brandanschläge, Angriffe auf Journalisten und Polizisten, Impfzentren, die in Brand gesteckt wurden. Die Tat in Idar-Oberstein ist die Spitze des Eisbergs", sagt Experte Quent.

Er sieht auch eine Gefahr von Nachahmungstaten. "Man konnte schnell danach verfolgen, wie der Täter im Netz glorifiziert wurde und einige nicht nur die Tat verharmlost, sondern gerechtfertigt haben. Trittbrettfahrer hat es nach Anschlägen immer wieder gegeben."

Vergleiche mit Terrorgruppen schwierig

Besteht sogar die Gefahr, dass sich aus einzelnen Gruppen von Rechtsradikalen, "Querdenkern" und Corona-Leugnern neue Terrorgruppen in Deutschland bilden? Quent ist bei Vergleichen zwischen Terrorgruppen, beispielsweise RAF oder NSU, grundsätzlich skeptisch: "Das finde ich nicht hilfreich, weil aus den RAF-Erfahrungen der deutsche Sicherheitsapparat immer völlig falsche Rückschlüsse auf den Rechtsterrorismus gezogen hat. Aufgrund einseitiger und falscher Vorstellungen hat man auch den NSU nicht gesehen, weil der NSU Migranten angegriffen hat und nicht den Staat."

Generell handelten die meisten Täter bei rechtsextremen Anschlägen, die es zuletzt in Europa gegeben hat, allein. Aber: "Die Möglichkeit besteht, dass sich terroristische Gruppen und Netzwerke entwickeln, die auch Unterstützer haben."

Neuer Bereich beim Verfassungsschutz: Innerhalb des Bereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ wurde ein bundesweites, sogenanntes Sammelbeobachtungsobjekt "Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates" eingerichtet. Verdächtige in verfassungsfeindlichen und sicherheitsgefährdenden Strömungen sollen so erkannt, Taten aufgeklärt werden.

Für den Extremismusforscher Andreas Zick ist auf jeden Fall ein genauerer Blick auf die Szene der radikalen Corona-Leugner nötig. "Wir müssen uns die Netzwerke angucken, wir müssen deutlich die Risikoeinschätzung verbessern", sagt der Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld der Deutschen Presse-Agentur. Die Tat von Idar-Oberstein sei aber ein Einzelfall. "Das können wir nicht generalisieren auf eine gesamte Bewegung, auf alle Proteste", so Zick.

"Explizite Aufrufe zur Gewalt" in Baden-Württemberg

Die ersten Polizeibehörden bereiten sich jedoch auf Konsequenzen vor. In Stuttgart, wo es immer wieder Proteste gegen die Corona-Maßnahmen gegeben hat, teilte das Innenministerium mit, die Polizisten im Einsatz seien "auf mögliche Störaktionen, auch von radikalisierten Einzeltätern, sensibilisiert". Dem Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) seien auch "einzelne explizite Aufrufe zur Gewalt oder zum Systemumsturz durch Akteure rund um die Anti-Corona-Proteste bekannt geworden", sagte ein Sprecher auf Anfrage von t-online. Diese Aufrufe würden aber weniger von "Querdenkern" selbst ausgehen, entsprechende Äußerungen würden eher im Umfeld fallen, das die gleiche Ideologie teile.

Nach Einschätzung des LfV können solche Aufrufe auf labile Einzelpersonen motivierend wirken, wodurch letztlich etwa Anschläge auf Impfzentren, wichtige Infrastruktur, staatliche Repräsentanten, Journalisten oder auf andere als "Verschwörer" wahrgenommene Personengruppen nicht ausgeschlossen werden können.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräch mit Matthias Quent, Professor für Extremismus und Radikalisierung
  • Gespräch mit Stefan Petersen-Schümann, Polizei Berlin
  • Gespräch mit Pressesprecherin des Verfassungsschutzes
  • E-Mail-Austausch mit Sprecher des Innenministeriums Baden-Württemberg
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP
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