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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Streit um Stadion in Regenbogenfarben Warum selbst die "Atombombe" Orbán wenig Furcht einflößt
Es war als deutliches Zeichen an Viktor Orbán gedacht. Doch die Münchner Arena wird heute Abend nicht bunt erstrahlen. Das eigentliche Problem ist eh mehr politischer als sportlicher Natur.
Berlin will es tun, Frankfurt, Düsseldorf, Köln, Wolfsburg und Augsburg wollen ebenfalls. In den Farben des Regenbogens sollen die Fußballstadien dieser Städte am Mittwochabend erstrahlen – weil es die Allianz Arena in München nicht tun darf. Ab 21 Uhr werden dort die Nationalmannschaften Deutschlands und Ungarns im letzten Vorrundenspiel der EM aufeinandertreffen.
Eigentlich ist es ein sportlicher Wettbewerb, der aber zum Politikum wurde. Denn in der letzten Woche hat das ungarische Parlament ein Gesetz gebilligt, das nicht nur in Deutschland und anderen Staaten der Europäischen Union kritisiert wird: Es schränkt Informationsrechte von Jugendlichen in Hinblick auf Homosexualität und Transsexualität enorm ein, etabliert gar eine Zensur in Ungarn: Denn das Gesetz sieht ein Verbot von Büchern, Filmen und anderen Medien vor, die Kindern und Jugendlichen zugänglich sind, und in denen Sexualität dargestellt wird, die von der heterosexuellen abweicht.
"Politisch und religiös neutrale Organisation"
Offiziell will Ungarns Regierungschef Viktor Orbán den Schutz von Jugendlichen verbessern, Kritiker im In- und Ausland werfen ihm allerdings eine minderheitenfeindliche und homophobe Politik vor. Symbol des Protests – auch und gerade während der EM – ist die Regenbogenfahne als Zeichen der Toleranz. Eine entsprechende Armbinde trägt Deutschlands Nationaltorhüter Manuel Neuer seit dem 7. Juni, als die DFB-Elf im Testspiel gegen Lettland auflief. Was nicht ohne Folgen blieb: Der AfD-Politiker Uwe Junge aus Rheinland-Pfalz bezeichnete sie als "Schwuchtelbinde", die Uefa prüfte Neuers Verhalten, stellte die Ermittlung allerdings ein.
An anderer Stelle blieb der europäische Fußballverband aber unnachgiebig. Den Antrag der Stadt München, die Allianz Arena zum Vorrundenspiel in den Regenbogenfarben erstrahlen zu lassen, wies die Uefa zurück. "Aufgrund ihrer Statuten" sei sie eine "politisch und religiös neutrale Organisation". Ferner hieß es in der Erklärung des Dachverbands: "Angesichts des politischen Kontextes dieser speziellen Anfrage – eine Botschaft, die auf eine Entscheidung des ungarischen Parlaments abzielt – muss die UEFA diese Anfrage ablehnen."
Ablehnend verhält sich nun auch Viktor Orbán, der seine geplante Reise nach München zum Spiel abgesagt hat. Vielleicht auch, weil er Gegenwind erwartet, zahlreiche deutsche Politiker kritisieren Ungarns illiberalen Kurs. "Viktor Orbáns Politik widerspricht allem, wofür die Regenbogenfarben stehen", sagte Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth t-online. "Mit der Absage seiner Reise nach München zeigt Orbán, dass er nicht einmal willens ist, die demokratische Auseinandersetzung zu suchen und sich im Stadion auch der Kritik zu stellen."
Liberale Politiker forderten Konsequenzen. "Die EU darf nicht länger zuschauen, wie Viktor Orbán den Grundwerten der Union erneut einen schweren Schlag versetzt", sagte FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff t-online. "Zusätzlich zum Prüfverfahren der Kommission müssen die Staats- und Regierungschefs ein deutliches Signal setzen, dass politische Hetze gegen sexuelle Minderheiten den Werten der EU widerspricht."
"Homosexuelle brutal entrechtet"
Auch sein FDP-Kollege Konstantin Kuhle verurteilte Ungarns Kurs gegen Minderheiten. "Es geht um einen Mitgliedstaat der EU und des Europarates, der systematisch Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte untergräbt, obwohl er sich zur Einhaltung dieser Werte verpflichtet hat", sagte der liberale Innenpolitiker t-online. "Wer wie Viktor Orbán einen solchen Weg einschlägt, der sollte sich viel mehr Gegenwind gefallen lassen müssen."
Unionsfraktionsvize Gitta Connemann kritisierte vor allem die Uefa. "In Kampagnen 'Equal game' zu fordern, aber beim kleinsten Widerstand selbst zurückschrecken, ist ein Armutszeugnis", sagte sie t-online. "Durch das Gesetz werden Homosexuelle brutal entrechtet. Es geht um Würde, Freiheit, Gleichheit. Wem diese Menschenrechte wirklich etwas bedeuten, muss aufstehen. Das gilt auch für die Uefa."
Stattdessen, so sehen es viele politische Beobachter, tanze Orbán der EU immer und immer wieder auf der sprichwörtlichen Nase herum. Das hat mehrere komplizierte institutionelle Gründe, aber auch strategisch-politische. Denn wie so oft bei Beziehungen zwischen Staaten geht es darum, die richtige Balance zu finden bei der Frage, wann man die Hand trotz Streitigkeiten weiter ausgestreckt hält, und wann man sie auch mal zur Faust ballen muss.
Wer Ungarn komplett vor den Kopf stößt, beraubt sich im Zweifel der Möglichkeit, doch noch Einfluss auf die Entwicklung der dortigen Politik zu nehmen – und ihr vom Weg in die "illiberale Demokratie" (Orbán) wieder auf den Weg zu einer liberalen zu helfen. Zugleich ändert sich im Zweifel wenig, wenn Ungarns Regierungschef weiß, dass er ohnehin machen kann, was er will, ohne irgendwelche Konsequenzen der EU fürchten zu müssen. Mehr noch: Die Erzählung, dass er die Angriffe der bösen EU auf sein Land immer und immer wieder erfolgreich abwehrt, hilft Orbán in der Heimat dann noch, sich als starker Mann zu präsentieren.
Dubiose Rolle Deutschlands
Deutschland spielt in den Beziehungen zu Ungarn selbst eine mindestens zwiespältige Rolle. Noch bis vor wenigen Jahren etwa war Viktor Orbán regelmäßiger Ehrengast bei der CSU in Bayern. Man kannte und mochte sich. Eine aufwendige Recherche des ungarischen Investigativ-Portals "Direkt36", legt zudem nahe, dass die langjährige politische Beziehung der Union zu Orbáns Partei Fidesz auch geholfen habe, Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin durchzusetzen. Nur mit diesen Stimmen sei das möglich gewesen.
Zudem gibt es offenbar ein durchaus enges Verhältnis der deutschen Automobilindustrie zum ungarischen Machtapparat. Dieser halte in Person Orbáns seit rund zehn Jahren in Europa seine schützende Hand über die Hersteller, sagten mehrere Informanten dem Investigativ-Portal. So hatte der ungarische Ministerpräsident gleich zwei Trümpfe in der Hand.
Es ist nicht so, dass die EU nicht versuchen würde, an ihrer Machtlosigkeit gegenüber Ungarn etwas zu ändern. Schon 2018 hatte das EU-Parlament ein Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn angestrengt, das auch martialisch "Atombombe" genannt wird. Es ist – wie der Spitzname schon sagt – die härteste Waffe der EU. Sie kann allerdings auch entsprechende Verwüstung anrichten, weil der betreffende Staat quasi komplett isoliert wird. Und ihr Einsatz unterliegt so hohen Hürden, dass sie fast unüberwindbar sind.
Denn um Ungarn mit der "Atombombe" zu strafen, müssten die anderen Staaten zunächst einstimmig "eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung" der europäischen Grundwerte feststellen. Da sich etwa Polen aber ebenfalls seit Jahren Kritik der EU wegen Grundwerteverletzungen ausgesetzt sieht und sich wohl auf die Seite Ungarns stellen würde, dürfte es dazu absehbar kaum kommen.
In Verhandlungen verwässert?
Die EU hat deshalb kürzlich ein weiteres Instrument etabliert, den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus. Eigentlich sollte es mit ihm möglich werden, den betreffenden Staaten bei Grundwertverstoßen den Geldhahn zuzudrehen.
In den Verhandlungen ist aber auch dieses Instrument zuletzt aufgeweicht worden. Einige Experten sagen, dass es von einem Rechtsstaatsmechanismus zu einem Anti-Korruptionsmechanismus kleinverhandelt wurde, weil er auf Verstöße eingegrenzt wurde, bei denen EU-Geld im Spiel ist. Andere sagen, auch wenn die Unabhängigkeit der Justiz insgesamt in Gefahr sei, könne das Instrument greifen. So oder so: Bisher prüft der Europäische Gerichtshof ohnehin noch, ob es überhaupt rechtmäßig ist.
Zumindest an verbaler Entschlossenheit gegenüber Ungarn lässt es EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen nicht mangeln. "Dieses ungarische Gesetz ist eine Schande", sagte sie und kündigte entschiedenes Vorgehen an. Zunächst heißt das allerdings nur: Orbán bekommt einen Brief aus Brüssel. Dort sollen der ungarischen Regierung noch einmal die rechtlichen Bedenken der EU erläutert werden.
Da Orbán diese Bedenken natürlich schon kennt, dürfte die Post aus Brüssel auf Ungarns starken Mann keinen großen Eindruck machen. Anschließend könnte die EU-Kommission dann aber ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Der Europäische Gerichtshof könnte an dessen Ende nach einigem Hin und einigem Her feststellen, ob Ungarn tatsächlich gegen EU-Recht verstoßen hat – und eine Geldstrafe verhängen. Auch das dauert jedoch eher Jahre als Monate.
Eine schnelle Lösung – sie ist im Fall Orbán also nicht in Sicht. Egal ob UEFA oder EU.
- Eigene Recherche
- Mit Infos der Nachrichtenagentur dpa
- SWR: Homophobie - AfD-Bundesvorstand will Maßnahmen gegen Junge
- Direct36: Így fűzte be Orbán Európa nagyhatalmát (ungarisch)
- Focus: Wirbel um Neuer-Armbinde
- EU: Vertragsverletzungsverfahren
- DW: Was taugt der Rechtsstaatsmechanismus?
- Euractiv: Hohe Hürden für Artikel 7
- Tagesschau: Ungarn scheitert vor EuGH