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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Augenzeuge über Halle-Anschlag "In dieser Welt ist nichts mehr sicher"
Im Oktober 2019 starben bei einem Anschlag in Halle zwei Menschen. Der Fußball-Profi Terrence Boyd erlebte die Tat hautnah mit. Zum Auftakt des Prozesses gegen den Attentäter erinnert er sich.
In Magdeburg hat der Prozess gegen den Mann begonnen, der am 9. Oktober 2019 bei einem rassistisch und antisemitisch motivierten Anschlag in Halle zwei Menschen tötete. Das eigentliche Ziel des Attentäters war eine Synagoge, in der an diesem Tag knapp 50 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur begingen. Doch der Mann scheiterte noch an der Tür. Auf der Straße vor der Synagoge erschoss er danach eine Frau, die zufällig an ihm vorbeiging. Wenig später tötete er eine weitere Person in einem Döner-Imbiss in der Innenstadt von Halle.
"Ich dachte erst, das sei ein Scherz"
Terrence Boyd, Fußball-Profi beim Halleschen FC, war vor neun Monaten in unmittelbarer Nähe zum Tatort. "Ich war gerade bei einem Interview in einem Café, gut Hundert Meter von dem Imbiss entfernt", erinnert sich der heute 29-Jährige. "Das war alles total surreal. Ich kann mich noch an die Streifenwagen mit Blaulicht erinnern. Auf einmal kam dann der Café-Besitzer und meinte, wir sollen weg von den Fenstern. Hier sei ein Amoklauf", erzählt Boyd – "Ich dachte erst, das sei ein Scherz. Sowas kennt man aus Filmen oder den Nachrichten. Aber dass es ausgerechnet vor deiner Haustür passieren kann, damit rechnest du doch nicht. Das war ein sehr, sehr trauriger Tag".
Boyd berichtet von dem Moment der Ungewissheit – den Minuten, in denen niemand wusste, was in Halle gerade genau passierte. "Das war ein sehr krasses Gefühl. Das ist alles teilweise wie in Zeitlupe abgelaufen", sagt Boyd. Auch er habe damals zuerst den Gerüchten geglaubt, es gebe mehr als einen Täter. Erst als zwei Zivilpolizisten, die zufällig auch in dem Café waren, Entwarnung gaben, entspannte sich die Lage. Boyd konnte das Café verlassen.
"Vielleicht hätte es dann mich erwischt"
Für Boyd selbst habe sich seit dem Anschlag kaum etwas verändert. Dennoch sei er dankbar, noch am Leben zu sein. "Es hätte ja auch jeden anderen treffen können." Wäre er nicht bei dem Interview gewesen, hätte er sich wahrscheinlich in dem Imbiss was zu essen gekauft, sagt er. "Vielleicht hätte es dann mich erwischt."
Gerade die Willkür, mit dem der Täter seine Opfer aussuchte, ist für Boyd das Erschreckende an der Tat. "In dieser Welt ist einfach nichts mehr sicher. Da fragst du dich, wie so etwas sein kann". Trotzdem sei das kein Grund, sich Zuhause einzusperren, nur aus Angst, es könne was passieren. "Dann hätte der Täter ja gewonnen", sagt Boyd.
"Ich hatte nie Angst auf der Straße"
Der Anschlag von Halle löste Trauer und Entsetzen im ganzen Land aus. Schnell brandeten Diskussionen auf, wie groß das Problem mit Rassismus und Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft wirklich sei.
Auch Boyd, der als Sohn eines US-Soldaten und einer Deutschen in Bremen geboren wurde, hat Rassismus am eigenen Leib erfahren. "Ich bin als Farbiger in Deutschland aufgewachsen. Es gab zwar auch mal ein paar Sprüche gegen mich – gerade im Fußball war das nun mal so – aber ich hatte trotzdem nie Angst auf der Straße", sagt Boyd.
"Wir leben hier in einem demokratischen Land"
Boyd begrüßt, dass das Thema Rassismus in Deutschland wieder mehr in den Vordergrund gerückt ist: "Natürlich ist es jetzt gut, dass das Thema zum Beispiel auf Social Media diskutiert wird und alle zusammenhalten gegen Rassismus", sagt Boyd. Doch die eigentliche Arbeit fange für ihn Zuhause in den Familien an. "Es kommt darauf an, was deine Eltern dir vorleben".
Zwar beobachte auch er den generellen Rechtsruck und das wachsende Problem des Rassismus auf der Welt und in Deutschland, dennoch findet er, dass man auch hierzulande "stolz auf sein Land sein kann" – "solange das natürlich nicht in "Deutschland first"-Rufe ausufert." Dies sei schließlich auch ein Zeichen von Zusammenhalt. "Aber nur dann, wenn alle Mitbürger, die in Deutschland leben, auch miteinbezogen werden."
"Wir leben hier in einem demokratischen Land. Du kannst nicht jedem deine Meinung aufzwingen." Solange es zu keinen Gewalttaten und Ausgrenzungen von Minderheiten komme, solange alles vernünftig vonstatten gehe, sollen die Leute ihr Leben leben dürfen, so Boyd. "Das sage selbst ich als Schwarzer."
Größeres Rassismus-Problem in den USA
Für Boyd ist das deutsche Rassismus Problem bei weitem nicht so schlimm wie das, was in den USA gerade passiere. "Wenn du in Deutschland von einem Polizisten angehalten wirst, steigst du aus und diskutierst mit ihm. Da drüben wirst du von den Polizisten einfach erschossen – das ist einfach nur schlimm", so Boyd. Dahingehend sei Deutschland immer noch ein "Vorzeigeland" – das habe man auch in der Corona-Krise gesehen.
Dennoch wünscht sich Boyd für die Zukunft, dass politisch und gesellschaftlich ein Weg in Deutschland gefunden wird, mit dem alle leben können. Den Prozess gegen den Attentäter von Halle wird auch Boyd verfolgen: "Ich hoffe, dass er seine gerechte Strafe kriegen wird."
- Telefoninterview mit Terence Boyd
- Eigene Recherchen