"Wegschauen und Schweigen hilft nicht" Politik sorgt sich vor radikalen Corona-Protesten
Extremisten, Verschwörungstheoretiker und Impfpgegner: Mit Sorge blicken Spitzenpolitiker auf die Anti-Corona-Demonstrationen vom Wochenende. Besonders scharf kritisierte FDP-Chef Christian Lindner einen seiner Parteifreunde.
Nach den Demonstrationen gegen die staatlichen Auflagen zur Eindämmung des Coronavirus warnen führende Politiker vor einer Radikalisierung des Protests. Wer die Pandemie leugne und zum Verstoß gegen Schutzvorschriften aufrufe, nutze die Verunsicherung der Menschen schamlos dafür aus, die Gesellschaft zu destabilisieren und zu spalten, sagte SPD-Chefin Saskia Esken den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Wegschauen und Schweigen hilft nicht. Hier müssen wir gegenhalten und uns als streitbare Demokraten erweisen."
Ähnlich äußerte sich CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak: "Wir lassen nicht zu, dass Extremisten die Corona-Krise als Plattform für ihre demokratiefeindliche Propaganda missbrauchen", sagte er der "Augsburger Allgemeinen". Die CDU nehme die Sorgen der Bürger ernst. "Aber klar ist auch, dass wir konsequent gegen diejenigen vorgehen, die jetzt die Sorgen der Bürger mit Verschwörungstheorien anheizen und Fake-News in Umlauf bringen."
Tausende Menschen protestierten gegen die staatlichen Vorgaben
Obwohl zuletzt zahlreiche Auflagen aufgehoben wurden und an diesem Montag vielerorts weitere Lockerungen in Kraft treten, waren am Wochenende Tausende Menschen in vielen deutschen Städten auf die Straße gegangen. Sie protestierten – oft unter Missachtung der Hygieneregeln und des Verbots größerer Versammlungen – gegen die staatlichen Vorgaben. Die Proteste lösen in der Politik zunehmend Besorgnis aus, auch weil sich mancherorts Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker unter die Demonstranten mischen.
Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz nannte es legitim, Maßnahmen infrage zu stellen und Unmut zu äußern. "Aber es laufen all jene mit, die das System grundsätzlich infrage stellen und Politiker insgesamt für Marionetten von George Soros und Bill Gates halten", kritisierte er in der "Welt". Esken betonte, Gewalt gegen Polizisten sei ebenso wenig zu tolerieren wie Angriffe gegen Journalisten.
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An den Protesten hatte sich am Samstag auch der Thüringer FDP-Chef und kurzzeitige Ministerpräsident Thomas Kemmerich beteiligt. Auf Bildern war zu sehen, wie er in Gera ohne Mundschutz dicht neben anderen Teilnehmern lief. FDP-Chef Christian Lindner übte scharfe Kritik: "Wer sich für Bürgerrechte und eine intelligente Öffnungsstrategie einsetzt, der demonstriert nicht mit obskuren Kreisen und der verzichtet nicht auf Abstand und Schutz." FDP-Vorstandsmitglied Marie-Agnes Strack-Zimmermann forderte Kemmerichs Parteiaustritt. Der räumte einen Fehler ein.
Für Aufsehen sorgte auch das Papier eines Mitarbeiters des Bundesinnenministeriums, in dem dieser die Strategie gegen die Corona-Pandemie – unter dem offiziellen Briefkopf des Ressorts – massiv in Zweifel zieht und nach Medienberichten von einem "globalen Fehlalarm" spricht. Das Ministerium wies das Schreiben am Sonntag als "Privatmeinung" zurück. Laut "Spiegel" wurde der Mann von seinen Dienstpflichten entbunden.
Von der Wissenschaft kommt inzwischen ein weiteres Warnsignal: Die Reproduktionszahl stieg nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) vom Sonntag auf 1,13 (Stand Sonntag, 10.5., 0 Uhr). Das bedeutet, dass ein Infizierter etwas mehr als eine andere Person ansteckt. Der Wert liegt damit weiter über der vom RKI als kritisch eingestuften Marke von 1,0. Die Zahl ist aber mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Die Dunkelziffer der Corona-Fälle gilt weiterhin als hoch.
Spahn: "Brauchen beherztes Vorgehen vor Ort"
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) rief Länder und Kommunen auf, konsequent durchzugreifen. "Wir brauchen das beherzte, umfassende Vorgehen vor Ort", sagte er am Sonntagabend im ZDF. Es sei wichtig, alle Infektionen sofort nachzuvollziehen und Kontaktpersonen zu isolieren. Nur dann könne verhindert werden, dass die Zahlen auch bundesweit wieder ansteigen.
Der Bund hatte den Ländern vergangene Woche weitgehend freie Hand für die Lockerung der Corona-Auflagen gegeben. Allerdings sollen in der betreffenden Region wieder strikte Beschränkungen greifen, wenn innerhalb einer Woche mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner registriert werden. Inzwischen sind fünf Orte in Deutschland bekannt, in denen diese Obergrenze überschritten wird: die Stadt Rosenheim in Bayern, die Landkreise Greiz und Sonneberg in Thüringen, Coesfeld in Nordrhein-Westfalen und Steinburg in Schleswig-Holstein.
- Nachrichtenagentur dpa