28 Jahre nach der Wiedervereinigung Die deutsche Elite ist immer noch westdeutsch
In den Top-Positionen von Wirtschaft, Politik und Verwaltung in Deutschland gibt es nur wenige mit Ost-Hintergrund. Warum ist das drei Jahrzehnte nach der Einheit noch so?
Ganz oben steht natürlich Dauerkanzlerin Angela Merkel. Aber auch Hiltrud Dorothea Werner, Vorstandsmitglied der Volkswagen AG. Oder Thomas Krüger, Direktor der Bundeszentrale für politische Bildung. Auch Gerd Teschke, Rektor der Hochschule Neubrandenburg, gehören zu dem illustren Kreis: Sie alle sind Kinder der DDR, und sie alle sind im wiedervereinten Deutschland in Spitzenpositionen aufgestiegen. Das macht sie zu Exoten, denn laut einer Studie der Universität Leipzig aus dem Jahre 2016 besetzen Menschen mit Ost-Hintergrund lediglich 1,7 Prozent aller betrachteten Führungspositionen in Deutschland. Ihr Bevölkerungsanteil beträgt jedoch 17 Prozent.
Habitus der Oberschicht
Warum ist das drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch so und was bedeutet das? Darüber zerbrechen sich nicht nur Soziologen den Kopf. Werden Ostdeutsche systematisch benachteiligt? Oder sind sie selber Schuld? Haben sie immer noch nicht begriffen, wie Karriere geht? Oder wollen sie gar nicht nach ganz oben?
Raj Kollmorgen, Soziologe an der Hochschule Zittau/Görlitz in Sachsen, sieht bei Ostdeutschen kulturelle Benachteiligungen beim Aufstieg. "Viele Ostdeutsche haben nicht den Habitus der Oberschicht, verfügen nicht über deren Geschmacksurteile und selbstbewusstes Auftreten." Und die Chefetagen großer Unternehmen und Verwaltungen, wo über Karrieren entschieden wird, seien in der Regel eben westdeutsch besetzt.
Aber nicht nur die Wirtschaft, auch die Universitäten sind weiter westdeutsch geprägt. Keine der Führungskräfte wurde in Ostdeutschland geboren. Das ist das Ergebnis einer Studie, die das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) am Donnerstag in Gütersloh veröffentlicht hat.
"Schau, was dir Freude macht"
Kollmorgen betont, es gebe aber auch hausgemachte Ursachen. "Wir finden bei den Ostdeutschen und in deren Familien häufiger eine Mentalität der Suche nach Sicherheit." Von risikoreichen Wegen werde abgeraten, was seine Ursache in Verlusterfahrungen nach der Wende habe. Familienmitglieder verloren ihren Job, erlebten Entwertung ihrer Lebensleistung und Bedeutungsschwund. Zu beobachten war der abgrundtiefe Sturz früherer Eliten.
Werner, Krüger und Teschke wurden in den 60er- und 70er-Jahren in der DDR geboren und wuchsen mit Erich Honecker, der "Aktuellen Kamera", mit Pionierorganisation und FDJ auf. Sie haben zum Teil seltsam klingende Berufe gelernt, wie Facharbeiterin für Textiltechnik oder Facharbeiter für Plast- und Elastverarbeitung. Dann kam die Wende. Wie haben sie es trotzdem geschafft?
Teschke, geboren in Pasewalk, Jahrgang 1972, heute Rektor der Hochschule Neubrandenburg, hat nach seiner Kindheit in Vorpommern Mathematik und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Potsdam studiert, 2001 an der Universität Bremen promoviert und 2006 dort habilitiert. Zwischendurch war er im Ausland. "Meine innere Maxime war immer: Schau, was dir Freude macht, denn wenn einem etwas Freude macht, kann man auch große Kraft entfalten", sagt er. "An der Uni in Bremen wurde ich schon mal mit beäugendem Interesse betrachtet, nach dem Motto: Was ist das für eine Pflanze?" Als Nachteil habe er das aber nicht wahrgenommen. "Ich hatte nie das Gefühl, dass mir etwas im Weg gestanden hätte."
Aufbruch in den Westen
Hiltrud Dorothea Werner, 1966 im mecklenburgischen Bad Doberan geboren, studierte noch zu DDR-Zeit Ökonomie, machte ihr Diplom im Wendejahr 1989 in Halle. Mitte der 90er-Jahre kam sie zu BMW, ging für den Autobauer nach Großbritannien, übernahm nach mehreren Karriereschritten im Januar 2016 schließlich die Leitung der Konzernrevision der Volkswagen AG, seit nunmehr zwei Jahren sitzt sie im Vorstand.
Werner und Teschke haben mit ihrem Aufbruch in den Westen anscheinend das Richtige getan. Das sei auch jungen Ostdeutschen heute nur zu empfehlen, sagt Soziologe Kollmorgen. "Verlasst die Kuschelecke, erwerbt anderes kulturelles Kapital, atmet andere Mentalitäten."
Und was sagt der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU)? Er beklagt, dass viele Westdeutsche noch immer zu wenig über den Osten wüssten. "Wenn nach einem Behördenstandort gesucht wird, dann sitzen eben fast nur Leute beisammen, die aus dem Westen kommen, die kommen gar nicht auf die Idee, was es für hervorragende Standorte jenseits der Elbe geben könnte", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND/Donnerstag).
Krüger: Ostdeutsche können improvisieren
Der Weg von Thomas Krüger, geboren 1959 im thüringischen Buttstädt und aufgewachsen am Ost-Berliner Stadtrand, verlief etwas anders als der von Werner und Teschke. Er wurde als junger Mann über sein politisches Engagement in der Wendezeit der letzte Stadtrat für Inneres in Ost-Berlin vor der Wiedervereinigung. Heute leitet er die Bundeszentrale für politische Bildung. Die Behörde sei "durch und durch rheinisch" gewesen, als er im Jahr 2000 dort anfing, erzählt er. Mit ihm habe sich damals die Zahl der Ostdeutschen verdoppelt. Heute sei es viel gemischter. "Ost-West spielt keine Rolle mehr."
- Energiepolitik: Der Kohleausstieg wird teuer, riskant und schwierig
- Boom auf dem Arbeitsmarkt: Höchste Zahl an Erwerbstätigen seit Wiedervereinigung
- 28 Jahre geeintes Deutschland: "Für uns ist die Welt größer geworden mit der Einheit"
Krüger sieht bei Ostdeutschen sogar einen Vorteil. Sie könnten improvisieren, sich schnell auf Neues einstellen, das sei heute in der globalisierten Welt zunehmend gefragt, ist er überzeugt.
- Nachrichtenagentur dpa