Türkei-Wahlen in Deutschland "Mehrheit der Wähler nicht objektiv und ausreichend informiert"
Der türkischstämmige Wähler scheint ein gespaltenes Wesen zu sein: In Deutschland favorisiert er Rot-Grün, in der Türkei die islamisch-konservative Erdogan-Partei AKP. Warum ist das so?
Noch bevor die Türkei wählt, haben über eine Millionen Wahlberechtigte mit türkischem Pass in Deutschland das Wort. Sie wählen in einer angespannten, von Unsicherheit und Misstrauen geprägten Stimmung, wie Experten betonten. Seit dem Putschversuch in der Türkei und dem rigorosen Vorgehen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gegen Kritiker ist auch die türkische Community hierzulande tief gespalten. Es gebe große Angst, offen über Politik zu sprechen, schildert Nordrhein-Westfalens Integrationsstaatssekretärin Serap Güler.
Eine "geduckte Stimmung" und verbreitete Sorge vor Denunzierung beklagt Osman Okkan vom KulturForum TürkeiDeutschland. Viele befürchteten, als angebliche Anhänger der verbotenen PKK oder der Gülen-Bewegung als Terroristen abgestempelt zu werden und hielten sich mit Meinungsäußerungen zurück, berichtet Okkan.
Staatsmedien spielen "dominante Rolle"
Problematisch aus seiner Sicht: Die türkischen Medien - überwiegend kontrolliert von regierungsnahen Konzernen - spielten eine "dominante Rolle" bei vielen Bürgern mit türkischen Wurzeln. Eine Mehrheit sei "nicht objektiv und nicht ausreichend" informiert - und schon gar nicht gewarnt vor Erdogans "diktatorischen Vollmachten", sagt Okkan.
Von den wahlberechtigten Türken in Deutschland leben viele im Raum Stuttgart, im Rhein-Main-Gebiet oder in Berlin, die meisten, fast ein Drittel, in Nordrhein-Westfalen. Die Stimmen der Auslandstürken haben hohes Gewicht bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen. Ob Erdogan gleich im ersten Wahlgang wiedergewählt wird, gilt nach letzten Umfragen keineswegs als sicher. Weitere sechs Kandidaten treten an. In der Türkei machen die Wähler ihr Kreuzchen erst am 24. Juni.
Außerhalb der Türkei sind 3,05 Millionen Wähler registriert. Die größte Gruppe davon lebt in Deutschland, wo 1,44 Millionen Türken wahlberechtigt sind. Insgesamt kann außerhalb der Türkei in 60 Ländern gewählt werden. Die zweitgrößte Gruppe der türkischen Wähler im Ausland lebt in Frankreich (341.000). An dritter und vierter Stelle liegen die Niederlande (260.000) Belgien (142.000). Danach folgen Österreich (107.000), die nur von der Türkei anerkannte Republik Nordzypern (106.000), die USA (106.000) und die Schweiz (99.000).
Güler sagt, sie rechne bei der Stimmabgabe in Deutschland mit einer höheren Beteiligung als beim türkischen Verfassungsreferendum vor gut einem Jahr. Damals kamen 46 Prozent in Deutschland an die Wahlurnen. Gut 63 Prozent stimmten für eine Verfassungsänderung - mehr als in der Türkei, wo lediglich 51,4 Prozent "Ja" sagten. Erdogan strebt einen Umbau zu einem Präsidialsystem an, den er nun mit der anstehenden Wahl abschließen will.
Wie also tickt der türkischstämmige Wähler? Auf den ersten Blick könne man meinen, es handele sich um ein widersprüchliches Wesen, meint Haci-Halil Uslucan vom Zentrum für Türkeistudien an der Uni Duisburg-Essen. Denn: Traditionell votieren rund 60 Prozent bei Türkei-Wahlen für die islamisch-konservative Partei AKP von Erdogan. Zugleich unterstützen sie aber bei Deutschland-Wahlen sehr stark die SPD, gefolgt von Grünen und Linken, für die Union gibt es kaum Zuspruch. Hierzulande setzt man also auf Parteien, von denen eine migrations- und minderheitenfreundliche Politik erwartet werden. Mit Blick auf die Türkei werde "gesinnungsorientiert und konservativ" gestimmt, erläutert Uslucan.
Erdogan hat Gastarbeiterfamilien geschickt umworben
Ein Großteil der türkischstämmigen Community kommt aus sogenannten Gastarbeiterfamilien, die von 1961 bis 1973 aus ländlichen Gebieten einreisten und konservativ geprägt waren. Oftmals anatolische Bauern, eben keine Bildungseliten, erläutert Staatssekretärin Güler. Erdogan habe diese geschickt umworben. Die deutsche Politik müsse ihnen und den nachfolgenden Generationen viel deutlicher sagen: "Hier ist eure Heimat, wir sind eure Ansprechpartner und wir sind für euch da." Von fünf Millionen Auslandstürken leben drei Millionen in Deutschland.
Das 2017 vom Bund verhängte Wahlkampfverbot drei Monate vor der Wahl habe sich als richtig erwiesen, betont Güler. Auszuschließen sei Wahlkampf trotzdem nicht gänzlich. Viele türkische Abgeordnete tourten durch deutsche Städte. Die Stimmung sei aber nicht so angeheizt wie vor dem Referendum im April 2017.
Die EU-Kommission hatte jüngst Rückschritte bei Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei gerügt, zugleich verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage im Land deutlich. Beeinflusst das die Deutschtürken beim Urnengang? Das Wahlverhalten sei oft nicht rational gesteuert, meint Uslucan. Sein "Blick in die Glaskugel": Die Zustimmung aus Deutschland für die AKP werde wieder recht hoch ausfallen und in etwa bei den üblichen rund 60 Prozent liegen.
- dpa