BVG-Urteil zu drittem Geschlecht Karlsruhe stärkt die Rechte von 160.000 intersexuellen Menschen
Intersexuellen Menschen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen lassen, muss künftig ein dritter Geschlechtseintrag im Behördenregister ermöglicht werden. Die Regelung könnte bis zu 160.000 Menschen in Deutschland betreffen.
Das entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am Mittwoch veröffentlichten Beschluss. Zur Begründung verwies das Gericht auf das im Grundgesetz geschützte Persönlichkeitsrecht. (Az. 1 BvR 2019/16).
Der Gesetzgeber muss nun laut Karlsruhe bis Ende 2018 eine Neuregelung schaffen, in die als drittes Geschlecht neben "männlich" und "weiblich" noch etwa "inter", "divers" oder eine andere "positive Bezeichnung des Geschlechts" aufgenommen wird. In einer seit November 2013 geltenden Regelung hatte der Gesetzgeber für solche Menschen lediglich die Möglichkeit geschaffen, im Geburtenregister gar kein Geschlecht einzutragen.
Der Verein Intersexuelle Menschen begrüßte die Entscheidung der Karlsruher Richter. Man hoffe nun auf "noch weitere Schritte in diese Richtung", teilte der Verein mit.
Barley fordert umfassende Reform
Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD) hat den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls begrüßt. "Es verletzt das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Menschen, die weder männlich noch weiblich sind, wenn ihr Geschlechtseintrag offen bleibt", erklärte Barley. "Das ist zudem ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot."
Die Aufnahme einer weiteren Geschlechtskategorie im Personenstandsrecht sowie ein klarstellendes Diskriminierungsverbot im Hinblick auf geschlechtliche Vielfalt sei überfällig. "Eine Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts muss von der neuen Regierung umgehend angegangen werden", erklärte Barley an die Adresse der potenziellen Jamaika-Partner Union, FDP und Grüne. "Ich plädiere ausdrücklich dafür, nun eine umfassende Reform des Rechts für trans- und intergeschlechtliche Menschen entsprechend der Vorgaben des Europarats einzuleiten."
Keine eindeutige Chromosomenanalyse
Im Ausgangsfall hatte ein intersexueller Mensch den Antrag auf Änderung seines Geschlechts auf "inter" oder "divers" im Geburtenregister gestellt. Er war als Mädchen eingetragen worden. Laut einer vorgelegten Chromosomenanalyse ist er aber weder Frau noch Mann. Die Person trägt nur ein X-Chromosom, ein zweites Chromosom, das ihn als weiblich (X-Chromosom) oder als männlich (Y-Chromosom) ausweisen würde, fehlt.
Die Klage scheiterte zuvor in sämtlichen Instanzen, zuletzt vor dem Bundesgerichtshof. Zu Unrecht, wie die Verfassungshüter nun entschieden: Die geschlechtliche Identität sei ein "konstituierender Aspekt der eigenen Persönlichkeit" und somit von dem im Grundgesetz verankerten allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützt. Zudem nehme die geschlechtliche Identität für alle Menschen eine "Schlüsselposition" in der Selbst- und Fremdwahrnehmung ein. Deshalb sei auch die geschlechtliche Identität jener Menschen geschützt, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen seien.
Bis zu 160.000 intersexuelle Menschen in Deutschland
Dem Beschluss zufolge könnten in Deutschland bis zu 160.000 intersexuelle Menschen leben. Der Deutsche Ethikrat plädierte bereits 2012 dafür, dass bei Menschen, deren Geschlecht nicht eindeutig feststellbar ist, neben der Eintragung als weiblich oder männlich auch "anderes" gewählt werden können solle.
Karlsruhe hatte zu der Frage Stellungnahmen von 16 Verbänden und Organisationen eingeholt. Für die Möglichkeit, ein drittes Geschlecht wählen zu können, plädierten neben dem Deutschen Ethikrat unter anderem auch das Deutsche Institut für Menschenrechte, die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung und die Deutsche Gesellschaft für Psychologie.
Gegen solch einen Eintrag sprachen sich das Zentralkomitee der deutschen Katholiken sowie der Bundesverband der Deutschen Standesbeamten aus. Die Standesbeamten müssen nun umdenken und der Staat laut Gericht einen bürokratischen und finanziellen "Mehraufwand" für eine weitere einheitliche positive Eintragungsmöglichkeit hinnehmen.
Was ist Intersexualität?
Bei intersexuellen Menschen sind nicht alle geschlechtsbestimmenden Merkmale wie Chromosomen, Hormone, Keimdrüsen oder äußere Geschlechtsorgane eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen. Bei ihnen kommen gleichzeitig - vollständig oder teilweise - Geschlechtsmerkmale vor, die sich typischerweise entweder bei Frauen oder bei Männern finden. Vor der Einführung des Begriffs "Intersexuelle" war meist von "Zwittern" die Rede. Diese Bezeichnung kann jedoch diskriminierenden Charakter haben.
Experten schätzen, dass auf etwa 1500 bis 2000 Geburten ein Fall von Intersexualität kommt. Vertreter von Betroffenen schätzen die Zahl höher ein und verweisen unter anderem auf die großen Probleme, das Phänomen physisch wie hormonell klar zu fassen. Intersexuellen-Gruppen fordern seit längerem entschiedenere Maßnahmen, um Betroffene gegen Diskriminierung zu schützen und ihren Status rechtlich wie gesellschaftlich abzusichern.