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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kiesewetter bei "Lanz" CDU-Politiker rechnet mit Merkel-Politik ab
Der CDU-Politiker und Oberst a. D. Roderich Kiesewetter erklärte bei "Markus Lanz", was seine Partei progressiv macht und in welchem Dilemma Israel steckt.
"Es ist insgesamt CDU pur. Es ist nicht mehr ganz so sozial." Mit diesen Worten beschrieb die Journalistin Kerstin Münstermann am Dienstagabend in der ZDF-Talkshow "Markus Lanz" den Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm, den die CDU am Montag vorgelegt hatte. Als Beispiele für ihre Einschätzung führte die Politikexpertin der "Rheinischen Post" Themen wie ein höheres Renteneintrittsalter und eine strengere Migrations- und Asylpolitik an. Gerade im letzten Punkt erkannte die Medienvertreterin eine deutliche Abkehr von den Jahren unter der Parteivorsitzenden und Regierungschefin Angela Merkel.
Eine Tendenz, die der Christdemokrat Roderich Kiesewetter bestätigte. Es handele sich allerdings nicht um einen Abschied von Merkel, sondern um eine notwendige Weiterentwicklung. Man habe aus der Flüchtlingspolitik von 2015 gelernt und erkannt, dass auch Merkels Politik der Aussöhnung mit Russland seit dem Überfall auf die Ukraine der Vergangenheit angehöre. "Diese Phase ist vorüber, und davon emanzipiert sich jetzt die CDU", fasste Kiesewetter zusammen.
Die Gäste
- Roderich Kiesewetter, CDU-Politiker und Oberst a. D.
- Kerstin Münstermann, Politikexpertin der "Rheinischen Post"
- Tankred Stöbe, humanitär engagierter Arzt
- Michael Thumann, Moskau-Korrespondent der "Zeit"
In vielen Punkten seien die Partei und ihr Vorsitzender, Friedrich Merz, progressiver als Angela Merkel. Als Beispiele nannte Kiesewetter die Forschungsförderung sowie die sicherheitspolitische Ausrichtung und strategische Vorausschau. Man habe viele Andockstellen, um Deutschland ab 2025 wieder besser zu machen, sagte der CDU-Politiker mit Blick in die nahe Zukunft.
"Bei Merz denke ich jetzt nicht sofort an progressiv", befand hingegen Michael Thumann. Der "Zeit"-Journalist gestand aber zu, dass man auf dem Gebiet der internationalen Sicherheit mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert sei, die sich nicht mit Antworten aus der Merkel-Ära bewältigen ließen. Hier gehe es weniger um progressive als um zeitgemäße Politik.
CDU-Politiker sieht keinen Anlass zu Kernkraft-Romantik
Kiesewetter versuchte am Beispiel der Atomkraft darzulegen, dass es seiner Partei nicht um eine naive Rückkehr zu vergangenen Zuständen gehe. Zwar sei der Ausstieg aus der Kernenergie ein strategischer Fehler gewesen, den man zudem 2011 selbst verursacht habe, es gebe hierzulande aber keinen Anlass zu Kernkraft-Romantik. Weder habe man das Geld, neue Kraftwerke zu bauen, noch könne man die alten reaktivieren. Gleichwohl müsse man als Industrieland über bezahlbare Energie verfügen und Strom aus Atomkraftwerken importieren. Aktuell lebe man von der Substanz.
Der Oberst a. D. äußerte sich auch zum Nahostkonflikt und ging trotz deutlicher Unterstützung für Israel hart mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ins Gericht. Dieser habe vor der Hamas-Attacke am 7. Oktober das Land gespalten, Warnungen ignoriert und nunmehr "die Endzeit seiner Regierung erreicht".
Das Dilemma, in dem sich Israel gegenwärtig befindet, zeichnete Kiesewetter deutlich auf. Einerseits müsse Israel begreifen, dass die Rechnung der Hamas, Israel international zu isolieren, derzeit aufgehe. Andererseits sei das Land in seiner Existenz bedroht, wenn es aufhöre zu kämpfen. "Der Zweck der Hamas ist nicht die Verteidigung Gazas, der Zweck der Hamas ist die Vernichtung Israels", gab der CDU-Mann in diesem Zusammenhang zu bedenken.
Wie dramatisch andererseits die Lage der Palästinenser in Gaza ist, machte Tankred Stöbe deutlich. Der ehemalige Präsident der deutschen Sektion von "Ärzte ohne Grenzen" erklärte, es gebe vor Ort keinen sicheren Quadratmeter mehr. Täglich kämen Hunderte unschuldiger Zivilisten durch Bomben zu Tode. "Das kann so nicht weitergehen", lautete der Appell des humanitär engagierten Mediziners.
Sind Putin und Netanjahu Brüder im Geiste?
Scharfe Kritik an Benjamin Netanjahu kam auch von "Zeit"-Journalist Thumann. Er habe den Hamas-Angriff auf israelischen Boden ermöglicht, da er das Land in einem kritischen Moment komplett gespalten und die Sicherheitskräfte falsch eingesetzt habe. Thumann erkannte sogar Parallelen zwischen dem israelischen Regierungschef und dem russischen Präsidenten. Beide seien mit ihrem autoritären Stil Brüder im Geiste und daran interessiert, den Rechtsstaat auszuhebeln. Ironischerweise habe Netanjahu nach dem 7. Oktober auf Putins Solidarität gesetzt. "Er hofft die ganze Zeit noch auf Putin. Dabei hat der ihn so was von im Regen stehen lassen", erläuterte der Moskau-Korrespondent.
Der Journalist erklärte auch, warum Putin sich aktuell "wie frisch gebügelt" und "sehr selbstbewusst" zeige. Dem russischen Präsidenten sei es gelungen, die Wirtschaft umzustellen und im großen Stil Waffen und Munition zu produzieren. Außerdem habe er seine Machtposition stärken können. "Man muss einfach sehen, dass für ihn der Krieg besser funktioniert als der Frieden", lautete das Fazit des Russlandkenners.
Gerade deshalb müsse man sich darauf einstellen, dass Putin seine Linie fortsetzen und vielleicht sogar neue Konflikte, beispielsweise im Nato-Mitgliedsstaat Lettland, heraufbeschwören werde. Kriegerische Auseinandersetzungen und Millionen Flüchtlinge könnten die Folge sein.
"Vielleicht kommt viel mehr auf dieses Land zu, als wir uns das jetzt gerade ausmalen", prognostizierte Münstermann schwermütig mit Blick auf Deutschland.
"Überraschungen im nächsten Jahr, die die Lage dann vielleicht wieder ändern", waren die einzige Hoffnung, die ihr Kollege Thumann dem entgegensetzen konnte.
- zdf.de: "Markus Lanz" vom 12. Dezember 2023