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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kriminelle Clans "So zerstört man das Vertrauen der Menschen"
Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul äußert sich im Interview über die Krawalle in Frankreich, den Kampf gegen Parallelgesellschaften und was gegen kriminelle Clans wirklich hilft.
Er hat den Spitznamen "schwarzer Sheriff" und gilt als Deutschlands härtester Innenminister: Herbert Reul (CDU, 70) ist seit 2017 für die Innere Sicherheit in Nordrhein-Westfalen zuständig und hat mit spektakulären Großrazzien sowie einem robusten Vorgehen gegen die Umweltaktivisten im Hambacher Forst seinen Ruf als Hardliner gefestigt. Im Interview mit t-online erklärt er, welche Lehren Deutschland aus den Ausschreitungen in Frankreich ziehen sollte und wie er kriminelle Clans zerschlagen will.
t-online: Herr Reul, wir beobachten seit Tagen Ausschreitungen in Frankreich, nachdem dort ein Jugendlicher mit Migrationshintergrund von einem Polizisten getötet worden war. Droht Deutschland eine ähnliche Eskalation wie in Frankreich?
Herbert Reul: Ich denke, die Ausgangslage in Frankreich ist eine andere.
Inwiefern?
In Frankreich gibt es ganze Vorstädte, in denen Menschen in bitterer Armut und völlig ohne Perspektive leben. Das haben wir nicht in diesem Ausmaß, und die Menschen sind bei uns auch nicht so abgehängt wie dort. Und zum anderen reicht diese Entwicklung in Frankreich historisch viel weiter zurück.
Können wir aus den Ereignissen in Frankreich denn etwas lernen?
Ja. So etwas passiert, wenn die Integration nicht funktioniert, wenn sich Parallelgesellschaften über einen sehr langen Zeitraum entwickeln und man sich nicht frühzeitig genug kümmert. Für uns heißt es: Integration stärker vorantreiben und strafbares Verhalten konsequent ahnden.
Aber ist es bei uns keine Parallelgesellschaft, wenn Angehörige syrischer und libanesischer Großfamilien in Essen und Castrop-Rauxel mit Schlagstöcken aufeinander losgehen und das Gewaltmonopol des Staates nicht anerkennen?
Es ist eine andere Qualität. Natürlich gibt es auch Gemeinsamkeiten. Auch bei uns hat man sich zu lange nicht gekümmert. Die letzten sechs Jahre gehen wir aber deshalb mit einem Drei-Säulen-Programm dagegen vor: Erstens: Wir reagieren auf Tumulte und Vergehen auf der Straße sofort mit starken Polizeikräften und Repression, machen zudem Razzien. Zweitens: Wir ermitteln. Das heißt, wir identifizieren systematisch Anführer und ihre Strukturen, um auf das große Geld zu kommen. Und drittens: Wir versuchen, mithilfe von Aussteigerprogrammen die Menschen dazu zu bewegen, sich von kriminellen Clanstrukturen loszusagen.
Wie viele Personen haben Sie mit Ihrem Aussteigerprogramm bislang überzeugen können?
37. Das klingt erst mal nach wenig, aber es ist ein Anfang und besser als keine. Vor allem zeigt es: Es gibt einen anderen Weg als die Kriminalität.
Warum erreicht man trotzdem so wenige?
Weil es ihnen saugut geht. Die Familien bieten Zusammenhalt, Verlässlichkeit und gegenseitigen Schutz. Und vor allem kriminellen Wohlstand. Mir sagte mal ein Polizist: Wenn Sie einem jungen Clan-Mitglied sagen, dass Sie für ihn einen Ausbildungsplatz als Busfahrer haben, dann guckt der auf seine Rolex und antwortet: Hab gerade keine Zeit. Man kann nur hoffen, dass der Stress und der Schmerz, wenn der eigene Opa oder Vater ins Gefängnis wandert, irgendwann zu groß ist und einer sagt: Da mache ich nicht mehr mit. Aber dazu muss es eine gewisse Bereitschaft in der Familie geben. Dass ein Jugendlicher allein die Sicherheit des Clans gegen eine ungewisse Zukunft eintauscht, ist sehr schwer. Deshalb muss man die ganze Familie in den Blick nehmen.
Herbert Reul, 1952 in Langenfeld in NRW geboren, ist seit sechs Jahren Innenminister in Nordrhein-Westfalen und für einen Landesminister ungewöhnlich bekannt. Das liegt auch daran, dass der Unionspolitiker als Hardliner gilt, der gern Klartext redet, für eine Null-Toleranz-Politik gegen Kriminelle steht und dafür auch die Polizei aufgestockt hat. Reul ist seit fast 40 Jahren in der Politik, war bis 2003 Generalsekretär der NRW-CDU, von 2004 bis 2017 Abgeordneter im EU-Parlament. Er ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Töchtern.
Die kriminellen Clans sind von Menschen geprägt, die mit einem anderen Staatsverständnis nach Deutschland gekommen sind. Oft erkennen sie den Staat nicht als Autorität an, weil er in ihren Heimatländern korrupt ist. Was tun?
Es gibt keine einfache Lösung. Wir bauen Druck auf sie auf, stören ihre krummen Geschäfte und machen Lärm. Wenn die Clanmitglieder regelmäßig erleben, dass ihre Bosse erwischt werden, in den Knast wandern und ihre Autos, Geld und Vermögenswerte dann futsch sind, dann erhöht das die Bereitschaft, da auszusteigen.
Der Bund der Kriminalbeamten erkennt Ihren Einsatz zur Bekämpfung der Clankriminalität zwar an, kritisiert aber, dass die "Politik der 1.000 Nadelstiche", also das sofortige Ahnden selbst kleinster Straftaten, wirkungslos bleibe, weil es zu wenig Polizeibeamte gibt.
Die werfen bewusst alles durcheinander: Die "Politik der 1.000 Nadelstiche" ist nur eine von drei Säulen. Die hat aber mit der Kriminalpolizei nichts zu tun. Es ist die Schutzpolizei, die jeden kleinsten Verstoß ahndet. Und auch da ist es nicht nur die Polizei, sondern auch der Zoll, das Gesundheitsamt, das Ordnungsamt, das Finanzamt.
Sie erstellen seit 2018 ein spezielles Lagebild für libanesisch-kurdische Clans, die ja jetzt auch in Essen und Castrop-Rauxel wieder beteiligt waren. Warum für diese Gruppe?
Weil sie im Ruhrgebiet, in den großstädtischen Strukturen, weit verbreitet ist. Sie kamen als Bürgerkriegsflüchtlinge in den 70er-Jahren. Das Besondere ist aber auch, dass hier Straßen- und Alltagskriminalität und organisierte Kriminalität zusammenkommen.
Bei den genannten Schlägereien waren auch syrische Familien beteiligt. Manche Experten fordern schon länger, solche Lagebilder auch für andere Ethnien zu erstellen. Warum passiert das nicht?
Diese Vorfälle sind noch nicht ausermittelt, daher bin ich bei der Bewertung der beiden Auseinandersetzungen noch vorsichtig. Ich will da eine klare Daten- und Faktenlage. Dass da syrische Gruppen beteiligt waren, ist neu. Deswegen prüfen wir jetzt, ob wir bei den Syrern schon ähnliche Strukturen haben. Sollte sich das bewahrheiten, werden wir uns darum kümmern.
In Berlin ist im vergangenen Jahr ein Rädelsführer eines kriminellen Clans in den Libanon abgeschoben worden. Das hat, sagen Ermittler, Eindruck in der Szene gemacht. Auch ein Weg für NRW?
Straffällige Clanmitglieder, die keinen Aufenthaltsstatus haben, müssen abgeschoben werden. Das machen wir auch schon und haben übrigens in Nordrhein-Westfalen bei den Abschiebungen insgesamt die besten Zahlen von allen. Trotzdem sind es immer noch relativ wenige. Das liegt aber nicht am politischen Willen, sondern daran, dass Gerichte darüber entscheiden und einige Länder sich weigern, die Menschen aufzunehmen. Ich mag daher nicht ständig nach Abschiebungen rufen, weil das falsche Erwartungen weckt.
Viele Clans finanzieren sich durch Geldwäsche. Derzeit wird diskutiert, ob man die Beweislastumkehr einführt. Verdächtige müssten dann beweisen, dass ihr Vermögen aus legalen Quellen stammt, nicht umgekehrt. In Italien wird es erfolgreich angewandt. Ein sinnvolles Instrument?
Italien hat ein anderes Rechtssystem. Die Beweislastumkehr wird dort im Kampf gegen die Mafia angewandt. In Deutschland ist sie juristisch umstritten, wäre aber für unsere Arbeit hilfreich. Es passt nicht zu unserem Rechtssystem, jemandem Besitz wegzunehmen und er muss dann beweisen, dass er diesen legal erworben hat. In Nordrhein-Westfalen beschlagnahmen wir bereits Vermögenswerte oder Geld, aber nur, wenn es einen Verdacht auf eine Straftat gibt. Ich bin offen dafür, die Beweislast stärker auf Mitglieder von Clanstrukturen zu verlagern. Aber das muss juristisch sauber sein.
Bundesjustizminister Marco Buschmann hat vorgeschlagen, auch Statussymbole wie Uhren und Luxusautos von Clanmitgliedern einzuziehen.
Schön, dass Herr Buschmann jetzt aufwacht, aber das machen wir in Nordrhein-Westfalen schon und beschlagnahmen die Vermögenswerte nach Straftaten. Sollte er der Ansicht sein, dass man dies früher tun sollte, müsste er das Recht ändern. Er ist, soviel ich weiß, der Bundesjustizminister. Ich hätte kein Problem damit. Aber das ist juristisch nicht einfach. Und wir sollten uns hüten, immer neue Maßnahmen anzukündigen, die wir dann nicht umsetzen können. So zerstört man das Vertrauen der Bevölkerung.
Welche anderen Möglichkeiten sehen sie, kriminelle Clans finanziell trockenzulegen?
Ich bin dafür, den Einsatz von Bargeld zu begrenzen. So könnte man Geldwäsche eindämmen, weil dann die Geldströme transparent werden. Das Bargeld ist eine Art heilige Kuh in Deutschland. Aber warum muss man ein Auto oder ein Haus unbedingt mit Bargeld bezahlen?
Bundesinnenministerin Nancy Faeser fordert eine Bargeldbegrenzung bei "deutlich unter 10.000 Euro". Wo würden Sie die Grenze setzen?
Das müssen Fachleute entscheiden. Aber eine deutliche Reduzierung des Einsatzes von Bargeld wäre richtig.
Apropos Nancy Faeser: Sie haben sich vor zwei Wochen geweigert, einen NRW-Vertreter zu einem Bund-Länder-Treffen zum Thema Clankriminalität mit der Bundesinnenministerin Nancy Faeser zu schicken. Wollen Sie mit dem Bund nicht zusammenarbeiten?
Moment! Vor drei Wochen war die Innenministerkonferenz. Bei dieser hat Frau Faeser keinen Pieps zum Thema gesagt. Eine Woche später sollte ein Ländertreffen mit Fachleuten stattfinden. Ich lasse meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht für den hessischen Wahlkampf von Frau Faeser instrumentalisieren. Deshalb hat Nordrhein-Westfalen keinen Vertreter geschickt.
Sie spielen darauf an, dass Frau Faeser im Herbst Ministerpräsidentin in Hessen werden möchte. Nur: Ist so ein parteipolitischer Zank nicht angesichts der großen Probleme fehl am Platz?
Ich bin jederzeit bereit, mit Frau Faeser über den Kampf gegen Clankriminalität zu sprechen. Aber politische Strategien muss sie mit uns als Innenminister besprechen.
Dann anders gefragt: Welche Unterstützung wünschen Sie sich vom Bund?
Frau Faeser sollte nicht nur reden, sondern auch machen. Nehmen wir das Thema Obergrenze für Bargeld. Es ist Sache des Bundes, hier die Gesetze zu ändern. Damit könnte Frau Faeser gemeinsam mit Justizminister Buschmann anfangen und es schnell umsetzen. Also: Ran an die Arbeit, liebe Bundesregierung! Ankündigen reicht nicht. Es müssen auch Taten folgen.
Von Ihrem Ministerpräsidenten Hendrik Wüst hören wir derzeit auffällig wenig zur Clankriminalität. Weil er sich für die Kanzlerkandidatur warmläuft?
Nein, das liegt daran, dass ich als zuständiger Innenminister meine Arbeit ordentlich mache.
Vielleicht hat Wüst aber doch ein bisschen Angst, in die "Pascha"-Falle von CDU-Chef Friedrich Merz zu tappen. Dieser hatte mit seiner Aussage, arabischstämmige Jugendliche führten sich an den Schulen oft wie kleine Paschas auf, einen riesigen Shitsturm geerntet.
Das glaube ich nicht. Und Angst hat Hendrik Wüst sowieso keine.
Glauben Sie eigentlich, dass er Kanzler-Format hat? Jetzt mal so ganz theoretisch gefragt.
Wir haben in der CDU ganz viele, die Kanzler könnten.
Oh, das ist uns noch nicht aufgefallen. Stattdessen sehen wir gerade vor allem zwei, die sich öffentlich beharken: Herrn Merz und Herrn Wüst.
Streit ist für uns immer schädlich. Wir haben bei der letzten Bundestagswahl erlebt, wie einige unvorsichtige Damen und Herren aus der CDU und ein vereinzelter Herr aus der CSU so gestritten haben, dass wir die Wahl deshalb verloren haben. Ich mache deshalb so was auch nicht mit.
Vom Streit in der CDU und in der Ampel scheint derzeit vor allem die AfD zu profitieren. Sie hat gerade erst eine Landratswahl in Thüringen und eine Bürgermeisterwahl in Sachsen-Anhalt gewonnen und stellt jetzt erstmals auf diesen Posten Parteimitglieder. Fürchten Sie, dass es jetzt eine Welle von AfD-Erfolgen auf kommunaler Ebene geben wird?
Das ist ja erst mal keine Welle. Es geht um einen Landrat in einem kleinen Kreis und einen Bürgermeister in einer kleinen Stadt. Punkt. Mich beunruhigt, dass die AfD in bundesweiten Umfragen inzwischen aber bis zu 20 Prozent erreicht und vor der SPD liegt. Der Frust der Menschen wundert mich nicht. Denn über die aktuelle Politik schütteln derzeit viele den Kopf und sagen: Was soll das alles? Ich glaube, die Menschen wollen keine Sprüche, sondern Taten. Sie erwarten keine Wunder, aber dass man die Probleme benennt und sie löst. In kleinen Schritten.
Aber genau das versuchen Sie ja in NRW bei der Kriminalität. Trotzdem kommt auch dort die AfD in Umfragen auf bis zu 15 Prozent.
Sie haben recht und das beunruhigt mich. Zwar ist die AfD hier nicht so stark wie im Rest Deutschlands, aber immer noch zu stark. Natürlich hinterfrage ich auch die eigene Politik. Aber ich glaube immer noch, dass es der richtige Weg ist. Eins ist aber auch klar: Die Meinung der Menschen in Deutschland macht sich nicht an den Handlungen eines Herbert Reul fest, sondern an der großen Politik. Das große Wasser zieht das kleine mit. Ich werde trotzdem weitermachen. Denn ich möchte nicht, dass die AfD auch nur an der Macht schnuppern kann.
Wir sprachen vorhin über Parteifreunde von Ihnen, die gern Kanzler würden. Was ist Ihr Traumjob?
Ich fühle mich sauwohl in meiner jetzigen Position, auch wenn sie manchmal irre anstrengend ist. Aber dann gehe ich über die Straße und Menschen kommen auf mich zu und sagen, dass sie mit meiner Arbeit zufrieden sind. Mal ganz ehrlich: Was kann man als Politiker Schöneres erreichen?
- Video-Interview mit Herbert Reul